Größer als der Schmerz. Alex Tresniowski
wenn sie uns jagten. Manchmal jagten wir ihre Ferkel herum, sodass die Säue böse wurden und uns noch ein bisschen länger jagten. Wir alle dachten, das wäre das Witzigste auf der Welt – schreiend und lachend nur einen Schritt vor diesen wütenden Schweinen zu flüchten.
Wenn wir früh bei Oma waren, bereitete sie uns ein gutes Frühstück zu: Schinken und selbst gemachte Kekse mit zuckersüßem Ahornsirup. An vielen Nachmittagen ernteten Oma und ich Gemüse in ihrem zwanzig Hektar großen Garten. Er war so groß, dass wir es nie von einem Ende zum anderen geschafft haben. Wir ernteten gemeinsam Kürbisse, Tomaten und Blaubeeren, brachten sie in die Küche, kochten sie ein oder aßen sie an Ort und Stelle. Diese Nachmittage im Garten mit Oma waren mit die schönste Zeit meiner Kindheit.
Eines Tages, als wir Gemüse in einem ausgesprochen dicht bewachsenen Teil des Gartens ernteten, hörte ich ein zischendes Geräusch, sah nach unten und erblickte eine Klapperschlange, die direkt auf mich zukam. Ich ließ das Gemüse fallen, schrie laut auf und wollte sogleich wegrennen, doch Oma hielt mich am Arm fest.
„Nein, mein Kind, renn nicht weg“, sagte sie. „Du darfst dich von einer Schlange nicht erschrecken lassen. Du erschreckst die Schlange!“
Im selben Moment stampfte Oma fest mit ihrem Fuß auf und die Klapperschlange schlich davon. Danach ging Oma wieder zurück und pflückte weiter, so als wäre nichts gewesen.
„Lass dich nie von etwas erschrecken“, sagte sie, als sie eine dicke reife Tomate vom Strauch pflückte. „Und hör nicht darauf, was diese Kinder dir sagen. Die sind einfach nur gemein.“ Ich machte mich auch wieder ans Pflücken und hielt dabei immer mit einem Auge Ausschau nach Schlangen auf dem Boden und wiederholte im Kopf die Worte meiner Oma, damit ich sie nicht vergaß.
***
Meine Mutter kämpfte drei Jahre lang gegen den Krebs, deswegen wurden wir für insgesamt drei Sommer zu unserem Vater geschickt. Während des dritten Aufenthalts, als ich dreizehn war, verschlimmerte sich die Lage drastisch. Mein Vater und ich waren uns über die drei Jahre kein Stück nähergekommen, wir hatten uns nur noch weiter voneinander entfernt, und als ich älter wurde, wurden unsere Auseinandersetzungen noch schlimmer. Ich hatte zu allem eine Meinung, und obwohl es klar war, dass sich niemand darum scherte, was ich dachte, sagte ich sie trotzdem. Und während jeder den Eindruck hatte, er hätte das Recht, mir zu sagen, was ich tun sollte, hörte ich auf niemanden und tat nur das, was ich wollte. Das gefiel meinem Vater nicht. Doch soweit es mich anging: Wer war er, dass er überhaupt irgendeine Autorität über mich haben sollte? Er wusste nicht, was für mich das Beste war, schließlich war er nicht wirklich Teil meines Lebens. Und überhaupt, er kümmerte sich nicht um mich. Also war ich auch nicht bereit, mich von ihm herumkommandieren zu lassen.
Eines Abends forderte mein Vater mich auf, ich solle das Haar von einer der Töchter seiner Frau flechten. Ich konnte wirklich gut flechten, und ich machte das für alle meine Freundinnen und ein paar meiner Cousinen, die in der Nähe wohnten. Aber keinesfalls würde ich es für eines seiner bösen Stiefkinder tun.
„Nein“, erwiderte ich. „Lass sie es doch selber flechten.“
„Du tust, was ich dir sage“, sagte mein Vater, mit mehr Zorn in der Stimme, als ich gewohnt war.
„Mach du es doch selbst, wenn du es so sehr willst.“
Darauf stand mein Vater von seinem Stuhl auf und ging zu einem Schrank. Er zog einen hölzernen Besenstil heraus und kam direkt auf mich zu. Er zog mich auf den Flur hinaus und schlug mir mit dem Besenstil quer über die Beine. Ich schrie vor Schmerz. Er schlug mich wieder und wieder, manche der Schläge landeten auf meinen Armen und meinem Rücken, als ich versuchte, mich davor zu schützen. Andere trafen mich, wo sie sollten. Es gelang mir, wieder auf die Füße zu kommen. Ich rannte zur Tür. Ich riss sie auf, doch ich war viel zu wütend, um zu gehen, ohne etwas zu sagen. Ich glaube, ich war in meinem Leben nie über irgendetwas wütender gewesen als über diese Schläge.
„Ich werde nie wieder mit dir sprechen!“, schrie ich meinen Vater an, der mit dem Besenstil in der Hand dastand und heftig atmete. „Ich werde auf dein Grab spucken!“
Ich schlug die Tür hinter mir zu und rannte den ganzen Weg zum Haus von Tante Bee und blieb den Rest des Sommers bei ihr und Oma. Was ich damals noch nicht wusste: Für die nächsten sechs Jahre sollte ich kein einziges Wort mehr mit meinem Vater sprechen.
Als der Sommer vorüber war, reiste ich zurück nach Alexandria, um bei meiner Mutter zu sein. Aber als ich ankam, erfuhr ich, dass es kein Zuhause mehr gab, zu dem ich hätte zurückkehren können. Meine Mutter hatte unser Haus verloren. Gesundheitlich ging es ihr jetzt zwar besser, aber die vielen Arztrechnungen waren zu hoch gewesen, sie konnte die Miete einfach nicht mehr bezahlen. Daher mussten meine beiden Brüder jetzt das ganze Jahr über bei meinem Vater in York bleiben.
Und meine Mutter und ich sollten für die nächsten dreizehn Monate obdachlos sein.
Dabei hilft uns der Geist Gottes
in all unseren Schwächen und Nöten.
Wissen wir doch nicht einmal,
wie wir beten sollen,
damit es Gott gefällt!
Deshalb tritt Gottes Geist für uns ein,
er bittet für uns mit einem Seufzen,
wie es sich nicht in Worte fassen lässt.
RÖMER 8,26
Kapitel 2
Der Bewaffnete legte sein Gewehr an und zielte damit auf Russ. Russ stand im Gang zum Medienzimmer. Ich wusste nicht, ob er es hineinschaffen würde. Nur eine Sekunde, dann wäre das Leben dieses Mannes vorbei. Ein Zug am Abzug, und das war’s.
Ich beschloss, dem Bewaffneten etwas zuzurufen, um ihn abzulenken.
„Was tun Sie da?“, fragte ich ihn laut.
„Sagen Sie denen, sie sollen aufhören, sich zu bewegen!“
„Sie tun nur das, was Sie gesagt haben. Kommen Sie jetzt wieder rein. Es ist alles in Ordnung.“
Der Mann ließ die Waffe sinken, kam zurück in den Raum und schloss die Tür. Ich konnte hören, wie die Tür zum Medienzimmer zugeschlagen wurde. Russ war drinnen. Er war in Sicherheit, jedenfalls für den Moment.
Ich weiß nicht, warum der Bewaffnete Russ nicht erschossen hat. Ich weiß auch nicht, warum er wieder zu mir ins Zimmer zurückkam, nachdem ich ihn aufgefordert hatte, dies zu tun. Solche Fragen stellte ich mir damals in der Situation auch nicht. Ich hatte in dem Moment nur eins verstanden: Je länger ich den Bewaffneten an der Rezeption halten konnte, desto länger dauerte es, bis er zu schießen begann.
Er fing wieder an, im Zimmer herumzulaufen. Plötzlich schien die Rezeption sehr klein zu sein. An einem gewöhnlichen Tag fanden dort viele Lehrer, Eltern und Schüler Platz, aber an diesem fühlte sie sich an wie ein Wandschrank. Und der bewaffnete Mann, der ständig auf und ab ging, ließ das Zimmer noch viel kleiner wirken. Zwar waren nur wir beide darin, doch ich hatte dort zum ersten Mal das Gefühl, als müsste ich ersticken.
„Wie heißen Sie?“, fragte ich ihn.
Er antwortete nicht. Er lief einfach weiter herum.
„Das ist kein Scherz“, betonte er erneut. „Ich spiele nicht herum. Das passiert wirklich. Wir werden heute sterben.“
Er wiederholte diese Worte wieder und wieder. Sein Zorn schien nicht abzuklingen, sondern nur noch größer zu werden. Also ließ ich ihn einfach reden. Was mir außerdem klar wurde: Ich sollte lieber nichts unternehmen, was ihn noch mehr in Rage bringen könnte. Vielmehr sollte ich tun, was immer ich könnte, um ihn ruhig zu halten. Und obwohl ich es zu dem Zeitpunkt nicht merkte, erkenne ich jetzt im Nachhinein, dass ich am Anfang dieses ganzen Szenarios etwas sehr Besonderes tat: Ich redete mit einem potenziellen Amokläufer wie mit jedem anderen Schüler.
Ich kann nicht behaupten, dass das mein Plan war, denn ich hatte einfach gar keine Zeit, irgendetwas zu planen. Da war einfach nur meine Stimme, die ich gebrauchte. Sie war ruhig, fest, bestimmend und