Größer als der Schmerz. Alex Tresniowski
einem Jahr sind Mama und ich vierzehn Mal umgezogen. Manchmal wohnten wir bei Freunden, manchmal bei Fremden, die auch zu unserer Gemeinde gehörten. Manchmal hatte ich sogar ein eigenes Bett, doch meist schlief ich auf dem Sofa oder dem Fußboden. Wo wir auch hingingen, nahmen wir die uns entgegengebrachte Gastfreundschaft in Anspruch. Meistens zu lange. Wir packten ständig zusammen und zogen weiter. So muss es sich wohl anfühlen, obdachlos zu sein. Zwar lebten wir nicht auf der Straße, aber wir hatten auch kein Dach über dem Kopf, das wir unser Eigen nennen konnten.
Manchmal war ich auch der Grund, wieso wir eine Bleibe verlassen mussten. Ich hatte Ihnen ja schon gesagt, dass ich ein freches Mundwerk hatte und so ziemlich alles von mir gab, was mir so in den Sinn kam. Na ja, nicht jeder wusste meine Ehrlichkeit zu schätzen oder meine mangelnde Bereitschaft, herumkommandiert zu werden. „Du hast es schon wieder getan“, sagte Mama dann. „Es ist Zeit für uns zu gehen.“ Also mussten wir wieder woanders hinziehen, wo man uns auch nicht wirklich wollte.
Nie war es irgendwo besser gewesen als bei Connie zu Hause. Sie bereitete die beste Hühnerleber zu und ich kam wirklich gut mit ihren Kindern aus. Das hatte auch einen Grund: Ich war nämlich in ihren Sohn Melvin verliebt. Zur gleichen Zeit interessierte ich mich aber auch für einen Jungen namens Tony, den ich aus der Nachbarschaft kannte. Tony war meine erste große Liebe gewesen – na ja, Jugendliebe, aber trotzdem. Also hatte ich Tony und Melvin um mich herum, doch ich hatte überhaupt keine Zeit für diesen anderen, dritten Jungen, der immer zum Abendessen zu Connie kam und mich ständig anstarrte, mich gerne ärgerte und mir überallhin folgte, und der eines Tages an Connies Küchentisch mir gegenübersaß und zu weinen anfing und immer wieder sagte: „Antoinette, ich liebe dich und ich will mit dir zusammen sein.“
Sein Name war Terry, er war mit Melvin und Kelvin befreundet. Als ich ihn kennenlernte, war er siebzehn, vier Jahre älter als ich. Er hatte ein süßes, fröhliches Lächeln und eine aufmerksame Art, sodass man den Eindruck hatte, dass er einem wirklich zuhört. Anfangs habe ich ihn fast immer ignoriert, doch das konnte ihn nicht bremsen. Er kam fast jeden Abend zum Essen. Danach blieb er einfach da und wich mir kaum von der Seite. An manchen Tagen musste ich unsere Wäsche in einen nahe gelegenen Waschsalon tragen, selbst dann tauchte Terry auf und begleitete mich dorthin. Er wartete sogar, um mich wieder nach Hause zu begleiten. An anderen Tagen kam er zu Connies Wohnung und fragte mich, ob ich mit ihm Ball spiele oder einfach nur so Zeit verbringen möchte.
„Willst du ins Kino gehen?“, fragte er mich eines Tages. Ich bekam tatsächlich ein bisschen Geld von Mama und wir gingen ins Kino. Nur wir beide.
„Willst du zu McDonalds?“, fragte er an einem anderen Tag. Also gingen wir zu McDonalds und teilten uns ein Kindermenü, weil unser Geld nur für eins reichte. Bevor wir obdachlos wurden, meldete Mama mich an einer Schule in Virginia an, auf die Kinder aller Hautfarben gingen. Aber als wir bei Connie wohnten, brachte Mama mich zum ersten Mal in meinem Leben in eine Schule nur für Schwarze. Es war kein schöner Ort und es gab dort eine Menge Raufereien. Um ehrlich zu sein: Ich hatte dort an den meisten Tagen Angst. Das erzählte ich Terry, und er begann, mich morgens in die Schule zu begleiten, und er tauchte auch nachmittags wieder auf, um mich nach Hause zu bringen. Manchmal lungerte er den ganzen Tag über nahe der Schule herum und warf auf dem Basketballplatz ein paar Körbe, während er auf mich wartete. Ich kann nicht sagen, dass Terry mich vor jeder Rauferei bewahrt hätte – auch ich hatte meinen Anteil an handfesten Auseinandersetzungen mit anderen Schülern –, aber er hat mich bestimmt vor einigen bewahrt.
Für eine Weile traf ich mich auch weiterhin mit Tony, sogar als Terry ständig um mich herum war. Denn Tatsache war, dass ich nicht in Terry verliebt war. Wenn überhaupt, dann in Tony. Und das brachte Terry auf die Palme. Manchmal weinte er sogar, wenn ich ihm davon erzählte, dass ich Tony treffen werde.
„Verstehst du nicht, dass ich dich liebe?“, sagte er.
Es tat mir leid, ihn weinen zu sehen, doch das hielt mich nicht davon ab, Tony zu treffen. Selbst als Mama und ich bei Connie ausziehen mussten – ich weiß nicht mehr warum, wahrscheinlich wegen etwas, das ich gesagt hatte –, erschien Terry an der Tür jeder neuen Wohnung, in die wir anschließend zogen. Er war immer in der Nähe und wartete auf mich. Er widmete mir so viel Aufmerksamkeit, dass ich mich mit der Zeit daran gewöhnt hatte, ihn als Teil meines Lebens zu betrachten. Terry füllte irgendwie diese Lücke, die dadurch entstanden war, dass mein Vater nicht da war, und ebenso wenig meine Brüder. Mein Leben war ungewiss und unsicher, aber Terry war zu einer verlässlichen Schulter geworden. Ich lernte ihn wirklich schätzen und vertraute ihm. Es dauerte nicht lange, da waren Tony und Melvin vergessen.
Als ich dann eines Tages mit ein paar Freundinnen in einem Kaufhaus war, ging ich an einem Brautmodengeschäft vorüber. Irgendwie überzeugte ich die Angestellte, mich eines der Brautkleider anprobieren zu lassen, und ich ließ eine Freundin ein Bild von mir darin machen. Ich schickte das Foto Terry und schrieb darunter: „Was hältst du davon?“
Ich denke, das war in der Zeit, in der mir klar wurde, dass ich mich in Terry verliebt hatte und dass ich erwartete, den Rest meines Lebens mit ihm zu verbringen.
***
In der siebten Klasse ging ich von der Schule ab, weil Mama und ich so viel umherzogen. Vierzehn Mal in einem Jahr von einem Ort zum anderen zu hüpfen, erschwert es irgendwie, an den Hausaufgaben dranzubleiben. Terry war auch von der Schule abgegangen, und mit neunzehn nahm er an einem staatlichen Bildungsprogramm teil, das kostenlosen Unterricht und berufliche Ausbildung für Jugendliche ab sechzehn bot. Es ist vergleichbar mit einer gewöhnlichen Schule, man bleibt auf dem Schulgelände, besucht den Unterricht und schließt mit der Hochschulreife oder einer Berufsausbildung ab. Terry nahm an einem Programm nur für Jungs in Harpers Ferry, West Virginia, teil. Als er dorthin ging, vermisste ich ihn. Manchmal besuchte ich Terry in West Virginia und einmal im Monat kam er nach Hause, sah nach mir und verbrachte Zeit mit mir, egal wo ich gerade wohnte. Dann ging er wieder zurück und wir schrieben uns jeden zweiten Tag Briefe. Ich hob diese Briefe für viele Jahre auf.
Als ich dann sechzehn wurde, nahm ich auch an diesem Bildungsprogramm in Charleston, West Virginia, teil, um näher bei Terry sein zu können. Und er wechselte innerhalb weniger Monate von Harpers Ferry nach Charleston, um bei mir zu sein. Danach waren wir fast immer zusammen.
Wir verließen beide das Programm nach zwei Jahren – ich mit neuen Kenntnissen in Sachen Verwaltung und Maschinenschreiben sowie Terry im Baugewerbe und Schweißen. Zu der Zeit hatte meine Mutter in Washington, D.C., eine Wohnung gemietet, und ich fragte, ob ich bei ihr einziehen könne.
Sie sagte ganz energisch: „Nein!“
„Dein loses Mundwerk hat uns in der Vergangenheit von all den anderen Orten vertrieben“, begründete sie.
Terry fragte dann seine Mutter, ob wir zu ihr in ihre Wohnung in D.C. ziehen könnten, doch auch sie sagte Nein. Und plötzlich war ich wieder obdachlos. Terry und ich schliefen im Erdgeschoss des Mehrfamilienhauses, in dem seine Mutter wohnte, an dem dunklen Ort unterhalb des Treppenhauses. Wir verwendeten unsere kleinen Kleidertaschen als Kissen, kuschelten uns aneinander und schliefen dort unten so gut wir konnten, umgeben von Staub, Dreck und Mäusen. Morgens, nachdem Terrys Mutter, die als Krankenschwester arbeitete, zur Arbeit ins Krankenhaus gegangen war, gingen wir in ihre Wohnung, duschten und aßen und schliefen vielleicht sogar noch eine Weile in seinem Bett dort. Sie hatte nichts dagegen, dass wir ihre Wohnung benutzten, wenn sie nicht da war. Aber weil wir nicht verheiratet waren, weigerte sie sich, uns dort zusammen übernachten zu lassen.
Ich kann nicht einmal sagen, dass ich unglücklich darüber gewesen wäre, unter einer Treppe zu schlafen, schließlich hatte ich Terry. Damals dachte ich, er sei alles, was ich brauche. Er war wirklich lieb zu mir, gab immer auf mich acht, sorgte für mich und kümmerte sich bestmöglich um meine Sicherheit. Er arbeitete tagsüber als Fahrer und brachte Essen und Kleider mit sowie alles, was wir zum Leben brauchten. Ich arbeitete als Bäckereiverkäuferin in der örtlichen Filiale einer Café- und Bäckereikette und brachte auch etwas Geld mit nach Hause. Es schien mir, als seien Terry und ich so wie jedes andere junge verliebte Paar – und das, obwohl wir unter einer Treppe hausten.
Das Muster, von einem Ort zum nächsten zu ziehen, behielt ich auch bei, nachdem meine Mutter mich vor die Tür gesetzt