Solo für Schneidermann. Joshua Cohen
Karriere gilt und nicht dem greisen Violinisten, den Sie heute Abend vor sich hören:
Lob kann mit mir nichts mehr anfangen, so abgewrackt oder sagt man abgetakelt wie ich bin, verlassen von jenen, die es nicht einmal wert wären, mich zu verlassen, von Schneidermann dem Alter überlassen, von meinen jetzigen und Exfrauen bankrott, sogar von der Musik betrogen: Auch sie stirbt – starb vielleicht mit Schneidermann – und begegnet den Tempi passati nicht einmal mit dem mindesten bisschen Respekt, anständig Lebewohl zu sagen. Ihre Melodie passioniert zu beenden. Toitoitoi. Ihre Möglichkeiten auszuschöpfen und – viel Glück der Seele bei ihrer Passage! – das Leben und Gewissen des Publikums zu erlösen, das heute in Kabeln verstrickt ist, in kabellosen Geräten und in umgewidmeten Manuskripten verpackt, wie es häusliche Praxis von Maria Anna Keller war, Frau Haydn, die die Kompositionen ihres Mannes als Fleischpapier verwendete – sie ist das Urbild, die Schutzpatronin von all Euch Musikpatronen:
nein, ich meine nicht, dass die Musik keinen von Ihnen rührt, dass keiner von Ihnen etwas fühlt, es ist etwas Fundamentaleres, wie Schneidermann, er sagte das immer, etwas Grundsätzlicheres, wie Schneidermann, er beharrte immer darauf, ich meine, dass Sie keine Ahnung haben, was das eigentlich ist, dass Sie gar nicht mehr wissen, was Musik eigentlich ist, niemand weiß das mehr, und was kann man auch erwarten? beispielsweise letzte Woche erst, da treffe ich einen Mann in der U-Bahn, schmale Lippen, grau, macht’s nicht mehr lange, in der Linie Q war’s, der muss mich erkannt haben, vielleicht auch nicht, jedenfalls, er spricht sein Bedürfnis an, dieser Massenverkehrszombie dreht sich einfach zu mir, Zerrüttung im Gesicht, und die Ohren baumeln wie hodengefüllte Piroggen, er fragt mich schlicht und einfach, was Musik ist, fragt mich, was ist Musik? und was mache ich? ich antworte ihm, so flinkzüngig ich kann, mit dem alten Sprichwort, das gemeinhin Louis Armstrong zugeschrieben wird: Wenn Sie fragen müssen, werden Sie es nie wissen, wenn Sie es nicht wissen, werden Sie das auch nie tun, aber wissen Sie, als ich dann in der Einzimmerwohnung mit Kochnische meiner Herzensdame ankam (einer Polin draußen in Brighton Beach) und meinen, wie Schneidermann sagen würde, ehelichen Pflichten obgelegen hatte, erhob ich mich von ihrem strahlenumkränzten Futon, schälte mich in Haut und Schweiß heraus, ging zu ihren wandhohen, gut bestückten, wiewohl nie verstandenen Walnussholzregalen und zupfte ihr Webster’s Dictionary heraus (ihren ersten nach der Ankunft in Amerika vor einem Jahrzehnt erworbenen Besitz, wie sie mich unterrichtete), blätterte drauflos und fand trotz meines Alters und meiner Erfolge tatsächlich zum ersten Mal MUSIC, den Eintrag für MUSIC, stand dort in der Vormittagssonne, tropfte in meinen Socken mit rosa Paisleymuster und verlor plötzlich auch meinen Glauben an die Worte:
nicht nur gab es dort kein Bild von mir, sondern auch Schneidermann, er steht auch nicht mal im Grove, ist das denn zu fassen? oder zumindest nicht in meiner Ausgabe, im lückigen Band Riegel bis Schusterfleck – eine Tragödie,
eine Travestie,
eine Unverschämtheit, deshalb Sie erlauben mir, die Gelegenheit zu ergreifen, Ihr Unwissen zu korrigieren, ja? auch offizielle Ignoranz, aber wir beginnen mit dem Begonnenen, erlauben Sie mir, die Lücken in jeder Melodie zu füllen, die je durch diesen großen Saal gespien ward, ja: darf ich einen Augenblick Ihres Abends und meines Solos der Erinnerung an Schneidermann widmen? eine künstlerische Entscheidung, die seinem Geist, falls er ein Geist ist, gestatten dürfte, ruhiger zu ruhen, wenn ich mir diese Freiheit herausnehme, und sicher,
was kann man da erwarten? Sie grummeln wieder! jetzt schon! schreien mich an, als ob ich Sie mit all dieser Musik im Kopf hören könnte, all diesen Erinnerungen an Erinnerungen,
ich selbst nur eine weitere Stimme im Getöse, in dieser ganzen Heteroglossolalie, die sich hier den ipsissima verba nähert (Schneidermann), so dass ich mich beim besten Willen nicht daran erinnern kann, was das Wichtigste ist,
die Spreu vom,
der Wald vom
der Wald in Polen, wo Schneidermann, er – nein, nur was ich will, nur was ich selbst weiß, werde ich in Erinnerung rufen: zuallererst diesen großen Mann und unsere Freundschaft,
unsere Verwandtschaft,
das Schiff, auf dem mein Vater und ich die Überfahrt machten (auf der Leviathan; und unglücklicherweise mein leiblicher Vater und nicht mein Schneidermann), das dem großen goldenen Gestirn entgegendampfte, das auf meinen Nacken trifft, über New York scheint und doch nicht wärmt.
Wenn Sie bloß zuhören würden, dann würden Sie etwas erfahren: aus meinem Leben, aus seinem Leben, aus unseren Leben und unserem Leben,
und diese Geige, auf die Sie sich vor nur einer Viertelstunde so eingestimmt haben, diese Geige gehörte, auch wenn er sie nicht gespielt hat, tatsächlich Hitler – nein, war nur ein Scherz, aber einen Moment lang haben Sie mir geglaubt, einen Moment lang hat dieses Artefakt uns Tiefe verliehen, hat alles verändert. Schneidermann, er hat übrigens selbst diese Geige gespielt (wenn auch nicht sehr gut),
Schneidermann, der vielleicht so verrückt starb, wie er immer gewesen war, Sie alle (sollten) ja den Langerredenkurzensinn kennen und von seinem Verschwinden vielleicht gelesen haben, am letzten und trägsten Sonntag auf der hintersten Seite unserer meinungsbildenden Blätter oder im nicht so erlesenen Pressewesen, die haben seinen posthumen Ruhm abgedruckt – seine vierzehn Minuten und neunundfünfzig Sekunden postmortalen Ansehens, seine Auferstehung für nicht einmal eine Viertelstunde, deren höchstwahrscheinlich letzten Akt, deren zweiten und letzten Satz dieses Konzert bildet, auf mein Ersuchen hin initiiert, meinen Einfluss, meine eigenen finanziellen Auslagen und mein Drängen, so schrill wie das jeder Frau, ob noch oder Ex, und was dann?
starb vielleicht verrückt, starb aber wie genau? und wo? starb jedenfalls, oder zumindest ich habe ihn an diesem Spätnachmittag begraben, Schneidermann, der mich mit dieser Geige beschenkte – die er seinerseits als Geschenk bekommen hatte, als Adelstitel eines Barons für seinen frühesten und einzigsten Erfolg, die Oper – als wollte er mich für meine oder meines Vaters Weitsicht belohnen, vor Hitler zu fliehen (ich mit meinem Vater, ich ohne meine Mutter oder meinen Schneidermann), und so könnte sie im poetischen Sinne, der Liebe und Kriege verursacht, Hitler gehört haben, wenn ich und mein Vater nicht Glück und Umsicht in dieser Reihenfolge gehabt hätten.
Eine Frage! Aus dem Orchester, das sich hinter mir vollversammelt hat, um meinen Solohintern zu bestaunen, hundertsieben Seelen, hundertacht im zweiten und letzten Satz, falls wir je so weit kommen, wenn auch die Harfenistin reinhaut – jetzt sitzt sie nur lieblich, atemberaubend und unnahbar da, die manikürte Hand im Schoß und durch und durch verlegen –, wie viele von Ihnen allen verstehen wirklich, was Sie spielen, wirklich und wahrhaftig, ich frage rhetorisch? weil alles, was der Solist tut, de facto aus Rhetorik besteht – oder wie einer meiner Anwälte immer sagt,
in Tat und Wahrheit, was ich nie ganz verstanden habe – alles ist heutzutage Rhetorik,
nicht Rhetorik als eine der schönen Künste,
wie Plato das sah,
als wesentlicher Bestandteil, als Ausgangsmaterial jeder guten, um nicht zu sagen allumfassenden Bildung, sondern im Sinne – im sinnlosen Sinne – der Quertreiber, der Zwischen- und Spottrufe, die einige von Ihnen jetzt absondern, die Krach schlagen, ohne erst zuzuhören, wie ich Schneidermann zurückzustehlen, ihn aus der Nekrologorrhö und ihrer Marktschreierei für die Kunst zurückzugewinnen trachte, Ihnen, die ungestüm Krach schlagen, ohne erst zuzuhören, als müssten Sie Ihre Existenz beweisen, als würde die nicht schon dadurch bewiesen, dass ich mich hier an Sie wende! also machen Sie nur! tun Sie sich keinen Zwang an!
Guten Abend, Herr Vorsitzender dieses Forums eines baldigen Fiaskos. Nehmen Sie Platz. Die Sitzplätze gehören ja alle Ihnen. Wir werden noch ein Weilchen hier sein.
Und wenn Sie schon dabei sind, könnte genauso gut jemand in eine nahegelegene Schenke gehen und bei José oder Manuel – oder María, falls die grad da ist? – ein paar überreife, von Migranten gepflückte Trenton-frische Tomaten besorgen. Wenn Sie die Konzertkarten nur für sich und Ihre liebe Mutter besorgt haben (oder gehört die schon zu den verschiedenen Verschiedenen?), wer außer ihr (oder denen mit derselben Ausrede wie sie, einer – sechzig Millionen starken – Minderheit anzugehören), wie viele von Ihnen wissen, was Sie hören, wenn Sie lauschen?