Solo für Schneidermann. Joshua Cohen
sie – auch damals, was zumindest den meisten von Ihnen hier wie eine Ewigkeit her vorkommen muss, von einem sinaihohen Gipfel der Weltkultur herab die gesamte Schtetl-Ästhetik ausschlachteten,
genau wie der schmalzige Chagall
und später der Nobel-Singer,
um damit unser eigenes Süppchen zu kochen, unseren eigenen Aberglauben auf die Schippe zu nehmen, derweil wir die Gojim als Moderne überholten, ihren Nationalismus aushebelten oder zumindest verurteilten, während wir uns an unseren klammerten, in allen vier zehn Szenen langen Akten der Ziege und darüber hinaus in der Welt (die Ouvertüre war beliebt und wurde damals oft ausgekoppelt aufgeführt), in der, ich hasse Zusammenfassungen und Sie sollten das auch:
in der also ein reicher Herzog, der nichts anbrennen lässt, und andere gibt es ja wohl auch gar nicht, nein, Moment, das ist ein Baron, van oder von Irgendwas,
könnte gut ein kleines halb deutsches, halb österreichisches Blaublut namens Gregor van Vonvon gewesen sein, das Libretto hatte jedenfalls den entsprechenden Reifegrad,
dieser Baron van oder von Baron verliert jedenfalls seine Männlichkeit, der Typ verwelkt einfach, ein laublütiges Blaublut, und es muss wohl nicht eigens erwähnt werden, dass das lange vor dem Aufkommen der kleinen blauen Pillen ist, eine kleine Unendlichkeit vor den 100 mg pro Dosis oder sind das Tabletten von PFIZER? also er bringt jedenfalls keine Leistung, keine Kur schlägt an, nichts, auch wenn er im ersten Akt alles ausprobiert: beten und noch mal beten, den Verzehr der verschiedensten Wurzeln und Knollen, primitive Saugtherapien, bei denen hinter den Kulissen gedämpfte Posaunen zum Einsatz kommen, einmal geht der Vorhang vor dem ganzen Zinnober auf und zeigt ihn im Bett mit einer seiner vielen Frauen, einem Bauernmädchen, das ihn bloß auslacht, lacht und lacht, »ihr Lachen bauscht den Damastbaldachin des eichenen Himmelbetts zu Wolken, die die untergehende Sonne purpurn färbt« – so viel zu Hofs Regieanweisungen! Das ist die erste und meines Wissens einzige reine Lacharie im gesamten Opernrepertoire, eine Arie, in der eine heitere Hetäre, Das Bauernmädchen (in diesem Fall, ihrem Debüt, ein Mezzosopran mit Glupschaugen, Pferdefresse und schlagringharten Nippeln), zur Musik einfach nur lacht, gewiss, in festgelegten Tonhöhen, aber das war ästhetisch und formal gesehen die einzige Neuerung gegenüber der sogenannten Sprechstimme, mit der Schönberg im Pierrot Lunaire zwei Jahrzehnte zuvor Neuland betreten hatte,
aber nicht nur diese Arie, die schon den formalen, wenn nicht ästhetischen Höhepunkt der Technik darstellt, sondern alle Zeilen, die gesamte Rolle dieses tuberkulösen, schwindsüchtigen, spitzknochigen Mezzos besteht nur aus Lachen, eigentlich sind alle Zeilen aller Frauen des Barons (mit Ausnahme seiner Ehefrau, der Baronin), und deren gibt es viele (Frauen, nicht Zeilen), nur Lacher auf einer festgelegten Tonhöhe, der gute alte Hof stand nicht gerade auf harte Arbeit, daher dieses ständige Lachen, Lachen, Lachen, Mann, wie ich Opern hasse!, und ein seltsamer alter jüdischer Arzt, nein Rabbi, überzeugend dargestellt von einem Debütanten namens Hans irgendwas mit K, der geht eines Tages spazieren, sagen wir, er will seine notleidende Schwester besuchen oder ist zu einem Sabbatauftritt meinetwegen in Kasrilevke unterwegs und wird fast überfahren, der Baron macht ihn mit seiner Kalesche fast platt, seiner Kutsche, keiner ungarischen kocsi, auf die das Wort zurückgeht – MADE IN KOCS –, eher einem deutschen Landauer, auf Schneidermanns Drängen hin unterwegs zu einem therapeutischen Serail, was Hof nicht weiter ausgestaltet hatte, denn der musste die Überarbeitung abbrechen, weil er in Davos einen dringenden, wenn auch verfrühten Termin mit dem Tod hatte, und der Baron vertraut dann dem Rabbi – bei dem er sich für den um ein Haar tödlich ausgegangenen Unfall natürlich nicht entschuldigt, und außerdem lässt er erst noch die Peitsche mit sexuellem Unterton an seinem Postillion, einem Mohren, aus – prompt sein winziges Impotenzproblemchen an, und der Rabbi rät ihm, sich eine Ziege zu besorgen, ganz recht, eine Ziege, sie in seinem Zimmer einzuquartieren, nur sie und sich im baronalen Bett im baronalen Schlafzimmer schlafen zu lassen und zwar bis zum Anbruch des jüdischen Monats Nisan, um Ostern herum, wie der Rabbi erklärt, rund drei Monate nach der fast tödlich ausgegangenen Kollision mit dem Tötungsfahrzeug, dann werde er geheilt sein, und der Baron kommt dem Rat nach – was bleibt ihm auch anderes übrig? –, lässt sich aus den Stallungen eine Ziege kommen, liebevoll aufgezogen und jetzt die einzige Freundin eines armen Stalljungen, der bloß den ganzen Tag Flöte spielt (pantomimisch, aber aus dem Orchestergraben hört man dazu eine Piccoloflöte, eine normale Querflöte, eine Altquerflöte und in einem denkwürdigen, 24 Takte langen Solo eine mit Flatterzunge gespielte Bassflöte, ein Instrument, das von Rudall Carte & Company erst ein Jahr zuvor perfektioniert worden war, und zwar auf Grundlage des Böhm-Griffsystems, dessen Patentinhaber mit dem Flötisten der Uraufführung irgendwie verschwägert war),
dieser so arme wie junge, Flöte spielende Stalljunge liebt jedenfalls die Herzogin (die Femme fatale der verfemten Kunst),
und die Baronin liebt ihn auch, und es ist natürlich schon seit Jahren ein offenes Geheimnis, dass die beiden was haben,
und den Rest können Sie sich eigentlich selber zusammenreimen: der Baron schläft in seinem Bett mit der Ziege, und weil wir es mit der deutschen Moderne kurz vor dem Zweiten Weltkrieg zu tun haben (um nicht zu sagen verdrängtes Weimar oder gar ein österreichisch-ungarisches Überbleibsel), ergibt sich eine Übertragung von weit mehr als nur Temperament zwischen Baron und Ziege – gespielt von dem Juden Hans irgendwas mit K, der auch den Rabbi gespielt hat –, und durch allmähliche subtile und für damalige Verhältnisse fast übernatürliche Beleuchtungseffekte sowie natürlich einige musikalische Holzhammerandeutungen (jedem Pläsierchen sein Tierchen) kommt es zu einem kompletten Existenztausch: der Baron wird die Ziege, und die Ziege wird der Baron, der ehemalige Baron, die Ziege, begibt sich in die Obhut des armen Knechts oder Stalljungen zurück, der die Baronin heiratet, nachdem die ehemalige Ziege, der jetzige Baron, sie abserviert hat, der jetzt wieder, ähem, mehr als volle Leistung bringt und diese Leistungsträgerschaft mit einem großen spritzenmäßigen Finale aufnimmt, einem sämtliche Finale in den Schatten stellenden Finale, das sämtliche Zensoren zum Herzinfarkt treibt, einem vollen Publikumserfolg, einer über einen ganzen Akt sich erstreckenden Szene intensiver und zügelloser Unzucht:
okay, also Schneidermann, er hasste das Libretto auch noch nach seinen eigenen, hastigen Überarbeitungen im Anschluss an den ersten Durchlauf in Berlin, aber er verdiente sich dumm und dämlich daran, und die Oper ist zigmal so intelligent wie die Zauberflöte mit ihrem ganzen Freimaurermeschuggas – einem von Schneidermanns Lieblingsausdrücken,
oder Der Rosenkavalier, mal ehrlich, die Musik von diesem Großnazi Richard Strauss, der als Wiedergutmachung und um am Lebensende über die Runden zu kommen am Kriegsende hingeht und den Inbegriff der Selbstbeschränkung komponiert, sein spätes Oboenkonzert für John de Lancie, einen amerikanischen G.I. vom Chicago Philadelphia Orchestra, der damals in Strauss’ Villa in Garmisch-Partenkirchen einquartiert worden war und, aber egal, nach fast achtzig, ständig von schockierten Zwischenrufen gestörten Aufführungen, die Schneidermann höchstpersönlich inszeniert und dirigiert hatte, fiel für Die Ziege der letzte Vorhang, und sie machte ihren Komponisten ganz schön berühmt oder sagt man berüchtigt, verschaffte ihm einen Namen, und das ist ja letztlich das Einzige, was zählt, hat mit Integrität nichts zu tun, da die Partitur angeblich – laut Schneidermann von belanglosen Musikwissenschaftlern des Letzten Reichs – zerstört wurde, glücklicherweise jedenfalls im Krieg verloren ging,
laut Schneidermann zur Zeit dessen, was geschehen war,
wenn man den ganzen Text wegließ, war die Musik hervorragend, weiß ich noch von seinem Vorspielen und -singen, er näselte mir in meinem mindestens herzoglichen Penthouse im Grand aus dem Gedächtnis Fetzen daraus vor,
oder wenigstens Schneidermann, er erzählte einmal: lass die Wörter weg, und die Musik spricht in eigener Sache, spricht viel mehr zu ihrer Zeit, reicht viel tiefer als zum Beispiel der Rosenkavalier – Uraufführung 1911 in Dresden, einer Stadt, die sinnlos in dreißig Silberscherben zerbrechen sollte, kurz nachdem die Alte Welt 1914 oder 1918 gestorben war, können Sie sich aussuchen, jedenfalls mit dem Krieg, und die einzige Oper, die zum Vorschein kam, die dem klaffenden Anus mundi entkam, sagen wir subito durch die Speiseröhre, war danach von Puccini, falls Sie das noch nicht wussten, nie erraten hätten, Signore Giacomos Rückfall von 1924 in die von ihm nie vollbrachte Jahrhundertwende, das Sahnetörtchen