Solo für Schneidermann. Joshua Cohen

Solo für Schneidermann - Joshua  Cohen


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– sind Demokratien nicht toll? außer in der Kunst –, der dann einen anderen beauftragt, das vergammelte Gemüse zu holen, und selbst wenn dann keiner damit wirft, geht das in Ordnung, denn ich bin sicher, mindestens eine meiner Frauen kocht eine gute Suppe.

      Anfängliche Missverständnisse, Unverständnisse beim ersten Hören sind okay. Gehen in Ordnung. Sind zulässig. Zu erwarten. Ignoranz aber nicht.

      Auch ich selbst bin zwar ab dem dritten Lebensjahr ausgebildet worden, war aber sprachlos, als Schneidermann mir das hier, nein, nicht das hier, sondern sein Konzert vorspielte, und zwar aus dem Klavierauszug, in dem nichts herausgezogen wurde, am ersten Tag Harmonielehre an der Budapester Musikakademie – eine seltsame Disziplin, dieses Studium der Harmonie, und noch seltsamer, es am ersten Tag dieses ersten Studiums mit dieser Komposition zu beginnen, aber so war Schneidermann, das war sein Genie, das war sein Totalbedürfnis nach totaler Aufmerksamkeit, nach Bestätigung, seine Methode war seltsamer sogar als dies, als sein Violinkonzert, das Schneidermann, er erklärte es, diese Komposition, in deren Wiedergabe wir pausieren, folgendermaßen, während er den Raum durchmaß,

      denn Schneidermann, er schritt voran wie ein ungeschickter Versuch, eine Saite zu stimmen: angespannt, nervös vibrierend und erst nach und nach, nach stundenlangen körperlichen wie geistigen Exerzitien, wurde er etwas lockerer, erschlaffte täglich einem Nickerchen um 17.00 entgegen, verlor seine Tonlage, und von der Musik kam er auf das Bauchgefühl zu sprechen, seine Därme,

      meine Darmen, so sprach Schneidermann das immer aus, wenn er es Helmholtz erklärte, Hermann, dem Akustikforscher aus Bonn und Berlin, der außerdem glaubte, Helmholtz glaubte, das Leben wäre von Meteoriten weit entfernter Sterne auf die Erde gebracht worden, oder zumindest Schneidermann zufolge, der mein Lehrer nicht nur in Sachen Musik war, sondern weit mehr, auch in der Kunst, der niedrigsten Disziplin der Geschichte, der höchsten Disziplin der Philosophie (Metaphysik),

      im Leben,

      Helmholtz starb ja 1894, Mahler ist auch tot, Schlesinger dito, der aber als Bruno Walter starb, denn wie kann man mit einem jüdischen Namen auf einen guten Tod hoffen?, fragte Schneidermann oft niemanden und erst recht nicht sich selbst, mit einer jüdischen Schaufel in jüdischer Erde graben ist schön und gut, auch ein jüdischer Grabstein mit einem Juden drunter und namenlosen jüdischen Bäumen drüber ist verständlich, aber ein jüdischer Name auf dem Stein? das ist vielleicht denn doch zu viel verlangt, könnte zu klar ersichtlich sein, zu unverblümt, ein Schlag in zu viele Gesichter, sagte Schneidermann oft beim Kaffee und noch mehr Kaffee und noch mehr Kaffee und noch mehr Kaffee

      (egal wo Schneidermann und ich vor und nach unseren Matineefilmvorstellungen hingingen, Hauptsache es gab kostenloses Nachfüllen, KAFFEETASSEN OHNE BODEN) – Bernstein mit seiner goldenen Stimme ist hinüber, und, na ja, Schneidermann vielleicht auch, ja, vielleicht ist er tot, tot wie all die anderen, wie all die anderen Juden, vielleicht noch toter, vergessen, mein echter Vater, der mein Schneidermann sein wollte, ist vor langer Zeit verstorben, und ich bin es auch bald. Und aus Darm, Katzendarm, hat man Geigensaiten gemacht, falls Sie das nicht wussten oder vergessen haben – dafür sind Katzen da, fragen Sie meinen Freund, den Zeitungsredakteur Katz, der davon zehn Stück von der Straße hat, und dann wird die Zähmung einer Violine in ihren frühen Stadien natürlich oft als Katzenmusik bezeichnet,

      und welcher Notenschmierer hat sich noch gleich von einem Miezekätzchen, das über seine Cembalotastatur lief, zu einer Fuge inspirieren lassen? Schneidermann, er hat’s mir mal erzählt, aber ich hab’s vergessen, er hat mir immer Sachen erzählt, die ich dann vergessen habe, wer war das beispielsweise noch mal, der seinen Vogelbauer mit Noten auskleidete? auch Frau Haydn? die war ja auch dermaßen religiös, dass sie,

      oder ein Katzenklo mit Partituren von wem, Herrn Baryton? ja, Schneidermann, der wüsste das, der hätte das gewusst, der wusste immer alles, aber ich? Ich hatte nie Haustiere, und das hat den einfachen Grund, dass sie blöd sind, noch blöder als Menschen, als die Leute, aber Schneidermann, er hielt Spinnen in einem Marmeladenglas (wie Spinoza, eine intellektuelle Anmaßung), Spinnen, die er auf Leben und Tod gegeneinander kämpfen ließ, und einmal – aber bei ihm wusste man nie, ob er etwas ernst meinte, einen zum Narren hielt oder einfach alt wurde –, einmal jedenfalls erzählte Schneidermann mir, als wir zusammen aus der hierzulande nachmittags stattfindenden Matinee eines schlicht gestrickten Animationsfilms kamen, er sagte, er hätte kein Problem damit, eine Katze zu haben (Bastet, die ägyptische Göttin Bastet), er würde eine Katze zu sich nach Hause (in seine Wohnung, sein Zimmer) einladen, kein Problem, aber nur, wenn er Miete verlangen könnte, eine Mietzahlung wäre die einzige Bedingung für das Wohnrecht der Katze, und dann fragte er mich, eine wie hohe Miete er einer Katze wohl abverlangen könne, wie viel würde eine Katze meiner Meinung nach wohl zahlen für ein mit Manuskripten vollgestopftes Eckchen und Schneidermanns von Herzen kommende Gastfreundschaft? aber ich wollte ja nicht vierbeinige Lieblinge, sondern Schneidermann erklären (obwohl ich in einem gewissen Sinn ja auch Schneidermanns Liebling bin),

      aber wenn ich Ihnen Schneidermann erklären soll, müsste ich Ihnen als Erstes sein Werk erklären, müsste Ihnen diese Komposition erklären, dieses Stück, in dem wir eine Pause gemacht haben, meine wilde Zäsur in seinem Konzert, aber Schneidermann, er war natürlich alles andere als ein erklärter Mann, sträubte sich gegen Erläuterungen, hatte nichts Programmatisches an sich, oder sein Programm war so lang wie unverständlich: Mann und Werk und Werk und Mann, kommt aufs Gleiche raus, ist ein und dasselbe, untrennbar,

      sie klammern sich aneinander fest,

      beide retten einander,

      Interimsflüchtlinge quasi, die beide vor dem Terror der völkischen Inquisition flohen

      (aber kann das an Grabesohren dringen über dieses Tal des

      Gähnens hinweg?), nein, schicken Sie keine Antworten ein, mir egal, was Sie glauben,

      wenn das überhaupt ginge und dann auf diese Entfernung – bestenfalls ist das alles doch ein in ein Enigma gehülltes und von einem krummen Fragezeichen stranguliertes Mysterium.

      Enigma, in dieser Verwendung entgleitet das Wort, stiehlt sich fort in die eigene Definition, wird nach einigem Nachdenken verinnerlicht und nach innen gerichtet, aber in meiner eigenen Sprache, meiner ersten Sprache, deren Wörter ich als Junge lernte, in meinen weißen Matrosenanzug aus Alpakawolle gehüllt, lautet das Wort:

      Rätsel, was fast ein Anagramm zu meinem Namen bildet, des Nachnamens Lästerer, also Spötter, den ich zu Laster geändert habe, also Untugend, anglisiert und später amerikanisiert wie alle Dinge und ohne Umlaut – den Einwanderungsbehörden, ROTHSTEIN Management sowie meinen Konzertveranstaltern sei Dank – mit dem Präfix Gottes- wird ein Gotteslästerer daraus, ein Blasphemist oder Gottfopper, und um diesem Namen alle Ehre oder Unehre zu machen, lästere ich durch meine Musik, zu Laster eingebürgert bin ich lasterhaft die ganze Nacht, fragen Sie mich morgen noch mal, und ich werde dasselbe antworten wie all den Zeitungen und Zeitschriften, die nach meinen Anrufen zurückriefen und Nachrichten hinterließen, weil ich immer den Antwortbeanrufer rangehen lasse, das machen hier in der City ja alle so, riefen immer wieder zurück,

      wollten wissen,

      nicht verstehen, sondern nur wissen,

      die Fakten festhalten, wie eine Redakteurin sagte, als ließen Fakten sich jemals festhalten, ja wie denn?

      Geboren in Buda oder in Pest – wo genau, kann ich mir nie merken – am Neujahrstag 1910, wurde Schneidermann.

      Schneidermann zu mir: am 11. November 1911, was mir zu spät vorkommt, im ungarischen Kisvárda.

      Schneidermann zu mir: am Neujahrstag 1906 in Böhmen, der späteren Tschechoslowakei, aber als Kind ungarischer Eltern (deren Name dort Šnajdrman geschrieben worden wäre).

      Schneidermann zu mir: 1902! im rumänischen Máramaros-sziget, als Kind ungarischer Eltern.

      Schneidermann zu mir: 1904 in der heutigen Ukraine, als Kind ungarischer Eltern (wenn es ein anderes Wort gab, sagte Schneidermann nie JÜDISCH).

      Schneidermann zu mir: Ungwar, Weihnachten 1909.

      Schneidermann zu mir: am fraglichen Tag in Košice.


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