Solo für Schneidermann. Joshua Cohen

Solo für Schneidermann - Joshua  Cohen


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      come on, Doktor, come prima, come sopra, mir können Sie’s doch sagen: wie fühlen Sie sich angesichts dieser bald schon berüchtigten, bald zum Inbegriff des Wertlosen gewordenen Nichtaufführung – meine, nicht Schneidermanns –, wie sie gerade in diesen berühmten und abbruchreifen Saal gespien wird?

      denn die Hoffnung stirbt zuletzt, stimmt’s?

      diese zu Recht oder Unrecht berühmte und hochgeehrte Carnegie Hall, benannt nach einem Mann, der auf dem Weg nach oben sogar seine eigene Wohltätigkeit ausbeutete, dieses Konzerthaus, das einst auf den schmerzenden Rücken eingewanderter Atlasse, Eisenbahner und Stahlkocher erbaut wurde, die die Bundesregierung rein zufällig nicht einfach bei einem Streik abgeknallt hatte, als es mit dem Hippodrome zu Ende ging, ist heute nur noch mit mildtätigen Subventionen und Zuwendungen am Laufen zu erhalten, das Geld wird direkt aus den Gräbern gebuddelt – wie lange dauert das wohl noch, bis sie dichtgemacht wird? wie viele halbvolle Konzerte in diesem 1 000-Personen-Saal wird es noch geben? wie oft werden Sie Ihre Plätze im ersten Rang schon in der Pause verlassen, um ins Restaurant zu gehen (obwohl Sie den Tisch erst für eine Dreiviertelstunde später haben reservieren lassen)? wie lange noch, bis Sie einfach keine Schecks mehr schicken, weil Sie etwas gefunden haben, das man Ihnen als unterstützungsbedürftiger angepriesen hat? das als der letzte, ja der allerletzte Schrei vermarktet wird? wie viele Spielzeiten noch ohne Abonnement, mit einem auswendig aufsagbaren Repertoire, bis das alles schließlich und vielleicht sogar glücklicherweise mit Brettern vernagelt und zum Abriss freigegeben wird?

      wie die berühmten Aufnahmestudios von CBS in der 30th Street (hier spielte man – dort nahm man auf), die alte Barockkirche, oder eher schon dieser wundervolle nichtkonfessionelle Tempel aller großen Virtuosen einschließlich meiner Wenigkeit, wo für meine erste amerikanische Aufnahme von Mozarts Violinkonzerten 1955 die rote Lampe eingeschaltet wurde, im selben Jahr, in dem auch Glenn Gould in derselben Einrichtung erstmals Schallplatten aufnahm, und einmal dürfen Sie raten, wer die ganze Presse abkriegte; bevor das Studio 1981 an den Multi verkauft wurde, gab es letzte offizielle Aufnahmen und mit wem? was glauben Sie? aus zwar nicht klassischen, aber doch barocken Symmetriegründen war es abermals Glenn Gould, der selbst in seiner misanthropischen Abgeschiedenheit unvermeidliche, unumgängliche Glenn Gould, der unvermeidlicherweise BWV 988 aufnahm – Bachs Goldberg-Variationen –, zum zweiten Mal, eine Zugabe-Aufnahme, könnte man sagen, oder Wiederneuaufnahme, nachdem er schon 1955 im selben Studio dasselbe Werk aufgenommen hatte, jedenfalls war das die letzte behördlich zugelassene Aufnahme-Session in jenen heiligen Hallen, bevor diese in die Zukunft starben:

      und eine im Dunkeln leuchtende Disco wurden, der neuste Zeitgeist-Nightclub oder was weiß ich (ich komm da nie dran vorbei, weil ich in dieser Stadt nicht spazieren gehe),

      aber das ist okay, denn Glenn Gould zog sich wieder in seinen Schlupfwinkel zurück, kam mit heiler Haut wieder in Toronto an, hatte nie Probleme wie die meinen, weil Glenn Gould, er heiratete nie und ich schon, außer seiner Mutter gab es nie eine Mrs. Gould, aber es gibt wahrscheinlich hundert Millionen Mrs. Lasters (fragen Sie meine Anwälte; oder ihre),

      und wahrscheinlich sind sie heute Abend alle hier unter Ihnen! flüstern, tsissen, tratschen, vergleichen Schiedssprüche und Vergleiche, Herrgott, am Ende stillen die sich gegenseitig! ein ganzer Konzertsaal voller Exgattinnen und einer jetzigen, wahrscheinlich aber nicht mehr lange, Frau, und die Mrs. Lasters stellen alles Mögliche an, hören aber nicht zu,

      ihr habt mir nie zugehört,

      aber das ist nun auch fast fünfzig Jahre her, nach Norden am Haus einer Exfrau bei Danbury vorbei, nach ihrer zweiten Scheidung genauer gesagt jetzt der Immobilie meines Exnachfolgers, wenn man so will, jedenfalls da oben in Ives’ Walachei, dem ›Housatonic at Stockbridge‹, genau, außerhalb von Charles Ives’ Kaff da oben im nennen wir’s höflich ländlichen Connecticut, auf dem Weg nach Boston kommt man da dran vorbei, im alten klapprigen MERCEDES M-KLASSE bin ich da tausend und ein halbes Mal im Schlaf hochgefahren, um diese schnellen, straffen One-Night-Stands in der akustisch nahezu vollkommenen Symphony Hall der Stadt abzuliefern, wo RCA VICTOR im Winter 1954 so ziemlich im Alleingang das Mehrspur-Aufnahmeverfahren erfand, als nämlich Charles, der für mich immer Chuck Munch war, zusammen mit dem Boston Symphony Orchestra interessanterweise ausgerechnet Berlioz’ riesige Damnation de Faust einspielte,

      die Ingenieure von RCA nahmen die Aufführung sowohl mono als auch auf Zweispurtonbändern auf – das waren die ersten Vorstöße in die WORLD OF STEREO, den Stereo-Sound, den heute jeder Hinz und Kunz bis in die Badezimmer installiert hat, so dass das monaurale Hören der Vergangenheit angehört, im Klo runtergespült worden ist und man alle Nuancen von Heifetz erfasst (hat ja keinen Sinn, den Namen ewig zu verschweigen),

      Piatigorsky, Reiner, ja, Munch, Rubinstein, Fiedler und so weiter, all diese Europäer in Amerika, alle sind davon ausgegangen, die Hausbeschallungstechnik

      (oder auf gut Deutsch Home Sound Technology) würde irgendwann und zwar schon bald aufholen, und ein Jahr später hatte sie aufgeholt, im Jahr Glenn Goulds, 1955, in dem endlich die ersten Stereo-Tonbandgeräte mit Viertelzollbändern und einer Bandgeschwindigkeit von 7,5 ips auf den Markt kamen, und damit verfügte die breite Öffentlichkeit, jeder, der willens und in der Lage war, die Kohle rüberwachsen zu lassen, über ein Stereogerät mit einer Spur für jedes Ohr, dann bald drei und mehr, und bis heute immer mehr und mehr und mehr,

      letzten Monat, da war ich zum Beispiel mal im Studio, und jetzt gibt man nur noch einen Sound ein und dann gibt man den nächsten ein, man zeichnet Note für Note auf, alles mit diesen grauen Computerblasen, und instrumentale Kunstfertigkeit ist gar nicht mehr gefragt (das stückeln wir dann in der Postproduktion zusammen),

      wird sogar gemieden, jedenfalls von denen, die ihr Vermögen und ihre Unfähigkeit schützen müssen.

      Machen Sie sich bitte klar, dass wir Schneidermann zufolge nicht mehr qualifiziert sind, Risiken einzugehen. Machen Sie sich bitte klar, dass wir Schneidermann zufolge keine Papiere mehr dabeihaben, die uns berechtigen, Fehler zu machen. Machen Sie sich bitte klar, dass es kein Verständnis mehr dafür gibt, dass wir als Musiker Fugen zu improvisieren pflegten: im Rahmen strengster Disziplin so frei wie möglich improvisieren, wie Schneidermann, er sagte das oft, Regeln dürften nicht gebrochen, sondern müssten reflektiert werden (Schneidermann, er begehrte mehr als alles andere eine verspiegelte Panoramasonnenbrille, wie wir sie mal in einem Rettungsmissions-Matineefilm gesehen hatten; als ich mal in L.A. war, hab ich ihm eine gekauft, aber Schneidermann, er hat sie nie getragen,

      hat gesagt, ich hätte die falsche gekauft) – und dann gehen die los und verwenden Popmusik in E-Musik und E-Musik in Popmusik, pfropfen Sprösslinge so lange auf andere Pflanzen, bis alle Bestimmungen laut Schneidermann ihre Bedeutung verlieren, der immer zuhörte, die Ohren weit offen hielt, und auch ihre Orchestrierung der Geschichte klingt nach nichts mehr, also wenn Sie dann an Verdi denken und wie viele Menschen sich bei dessen Beerdigung sehen ließen (Abertausende laut Schneidermann!),

      wenn man bedenkt, dass Verdis Musik dann die Lieblingsmusik aller Drehorgelspieler und ihrer Äffchen von Mailand bis Paris wurde,

      Affengutans und Schimprillas, ein ganzer Chor von denen bekreischte und bebrüllte unter sich wie verrückt die Bedrängnis aller Kreatur, durch rosigstes bespeicheltes Zahnfleisch, diskursivierte die Schwierigkeit wo nicht platterdings Unmöglichkeit ethischer Kommunikation, moralische Kolloquien ganz oben in Uptown im Zoo der Bronx: das war letztes Jahr während des bestialisch spätsommerlichen Überfalls auf den Frühherbst, so in der Zeit zwischen jüdischem Neujahr und Jom Kippur, als Schneidermann mich bat, sein von Armut erzwungenes Fasten zu brechen und ihm Zuckerwatte zu kaufen, und dann schob Schneidermann mir – während er sich vorbeugte und sein Zahnfleisch im gesponnenen Naschwerk versenkte – hinter seinem Rücken, als wären wir in einem Spionage-Matineefilm oder bei einer Spartakiade, einen klammen, flechtenbewachsenen Papierstoß zu, ein Manuskript, das ich, wie ich dachte, nur festhalten sollte, während Schneidermann sündigte, aber das war seine Art der Weitergabe, das war sein Geschenk, seine Komposition für mich, als wäre sie für mich geschrieben oder endlich vollendet oder noch nicht vollendet, wie sie war und wie sie ist, und auch noch gewidmet: das war tatsächlich das Manuskript dieses Violinkonzerts,

      von dem wir bisher


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