Lichter als der Tag. Mirko Bonné

Lichter als der Tag - Mirko Bonné


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      Inhalt

       [Cover]

       Titel

       Widmung

       Zitat

       I Regen, wenn er in die Bäume rauscht

       II Facetten einer falschen Freundschaft

       III Flucht nach Süden mit dem Elsternkind

       Hinweis

       Autorenporträt

       Über das Buch

       Impressum

       [Leseprobe – Ein schönes Paar]

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      Für Ida und Klaus Schöffling.

      Für die, die’s angeht.

      Ja – für Dich.

      Nacht, lichter als der Tag!

      Andreas Gryphius

      Aus der Zeit, als er noch ein Junge gewesen war, kannte er ein Licht, das fand er später für sehr lange Zeit nur in der Bahnsteighalle seiner Stadt wieder, und auch nur an bestimmten Tagen. Er dachte oft darüber nach, woran es lag, dass etwa ein Tag Ende April dieses Leuchten hatte, aber einer Anfang Mai nicht. Doch er wartete auch einfach gern, und wenn er in der Mittagspause mit der U-Bahn vom Hafen zum Hauptbahnhof fuhr, dann war er umso froher, wenn das Licht überraschend da war.

      Einmal hatte er als Gymnasiast ein ähnliches Leuchten auf einem alten Gemälde gesehen, vor dem in einer Ausstellung über Landschaftsmalerei seine Kunstlehrerin stehen geblieben war, um der Klasse etwas über den Impressionismus und seine Vorläufer zu erzählen. Das Bild, nicht sehr groß und eher unscheinbar, stammte von Camille Corot, spätsommerliche Bäume stellte es dar, Pappeln, Robinien, in der Ferne eine Hügelkette und im Vordergrund den Rand eines Feldes, an dem ein Landarbeiter Getreide schnitt und eine Frau mit Kleid, Schürze und einer Haube auf dem Kopf dem Mann zusah. Weizenfeld im Morvan – was das bedeutete, wusste niemand, bis Moritz, sein bester Freund, ihnen erklärte, der Morvan sei ein Landstrich im Burgund, ein mittelfranzösisches Granitmassiv. Auf Corots Gemälde schien alles in ein Licht getaucht, als würde man durch ein Fenster auf einen Sommertag blicken, der längst vergangen war und zugleich bis heute anhielt.

      Der Himmel über der Stadt erschien Raimund Merz nie riesig oder gar endlos, selbst dann nicht, wenn er so hellblau war wie das Kleid der Frau am Rand des Weizenfeldes auf dem Bild. Am Horizont, Richtung Hafen und Elbe, war allerdings des Öfteren ein rosiger Schimmer zu sehen, und schon als Junge, wenn er mit den anderen Kindern über die Redder der Feldmark gelaufen war, hatte er sich an der Pracht des Hamburger Himmels gar nicht sattsehen können. Raimund Merz hatte nur wenig vermisst, als er nach dem Abi und dem Zivildienst für ein paar verschenkte Semester nach England ging, angeblich um Biologie zu studieren; aber dieses Heimweh, eigentlich ein Lichtweh, war nicht besser geworden, als er mit Mitte zwanzig zurückkam und für ein knappes Jahrzehnt nach Berlin zog, weil seine Frau es für ihren Werdegang und auch seinen vorteilhaft fand, wenn sie eine Zeit lang dort lebten, wo jeder lebte, der etwas aus sich und seinem Leben machen wollte. Merz hatte diesen um sich selbst kreisenden Ehrgeiz nicht.

      Floriane hatte ihn nach England begleitet. Während er das Studium hinwarf und anfing, lustlos bei Zeitschriften zu jobben, studierte sie in Birmingham Zahnmedizin und auf Anraten ihrer Mutter dazu auch gleich Medizin. Von Anfang an sollte Flori Kieferchirurgin werden. Er blickte stattdessen in den Himmel und die Wolken an. Ab und zu wurde er gefeuert. Im Feuern waren die Briten Vorreiter.

      Zum Leben brauchten Flori und er, die sich so lange schon kannten, nicht viel. Einer wie er untersagte sich jedes Vorwärtskommenwollen. Bloß das Licht vermisste er immer unbändiger, aber weder in den Midlands noch in Berlin gab es einen Fleck, an dem ein Strahlen am Himmel stand wie früher auf der Feldmark, nicht mal draußen am Müggelsee, wohin sie in ihren Berliner Jahren zum Wandern, Paddeln und Schwimmen fuhren und wo sie später, als Flori schon gut verdiente, ein Sommerhaus mieteten.

      Unter dem Stahl-und-Glas-Dach des Hamburger Hauptbahnhofs stand das ersehnte Licht vielleicht an acht oder zehn Tagen im Monat, dann aber so, als hätte es sich des notorischen Schmuddelwetters wegen in die Halle zurückgezogen und würde nun dort aufbewahrt werden. Es schien zu warten, nicht bloß auf Reisende, die aus dem Zug stiegen und verblüfft waren von der Helligkeit, der Herrlichkeit, mit der die Hansestadt sie willkommen hieß; das Licht war eine Wohltat gerade für Einheimische wie ihn, die morgens vor dem Büro oder nach Feierabend über die Bahnsteige schlenderten, als wären sie Bahnangestellte in Zivil.

      Merz spürte in dem Licht, dass es für einen wie ihn anscheinend nur weniges gab, für das sich zu leben wirklich lohnte. Kinder, ja. Freundschaft, ja. Und vielleicht Liebe, und vielleicht Erinnerungen. In dem Leuchten lag eine rätselhafte, warme Zuneigung, und vieles, was er erlebt hatte, war ihm nur verständlich, weil es in diesem Licht geschehen war.

      Ein paar Tage, nachdem seine jüngere Tochter elf geworden war, fuhr er am Morgen mit ihr in die Innenstadt und brachte sie zum Zug. Lindas Klasse ging auf Klassenfahrt in den Schwarzwald, in ein Schullandheim im Kinzigtal. 23 Kinder und drei Lehrerinnen, dazu jede Menge aufgeregte Eltern, zumeist Mütter, warteten auf dem überfüllten Bahnsteig auf die Einfahrt des ICE, in dem für die Kids und ihre Aufpasser ein halber Waggon reserviert war. Es war ein Montagmorgen Anfang September, aber noch immer war das Ende des Hochsommers nicht in Sicht. Auf eine weitere drückend schwüle Woche sollten erneut lange Tage mit fast unerträglich heißen Temperaturen folgen.

      Als der Zug schließlich kam, musste alles sehr schnell gehen. Merz hatte Mühe, Linda in dem bunten Gewimmel noch einmal kurz festhalten und umarmen zu können. Doch als sie dann im Einstieg stand, verloren wirkte und die Tränen ihr in die Augen stiegen, nahm sie ihren ganzen Mut zusammen und küsste ihn, auch wenn das auf der Stelle von drinnen mit höhnischem Johlen quittiert wurde. Lindy hatte es nicht leicht in der Schule. Sie wurde von Mitschülern und deren Eltern angefeindet, weil sie einige Diebstähle begangen und man sie dabei erwischt hatte. Keiner konnte sich den kleptomanischen Zug an der kleinen und zarten Linda Annabella Merz erklären, sogar die Schulpsychologin schien hilflos und riet vorläufig zu Gelassenheit und Abwarten.

      Merz winkte Lindy zu und lief, weil sie das liebte, Grimassen schneidend neben dem anfahrenden Zug her. Sofort brach ihm der Schweiß aus, aber er lief weiter, und obwohl das traurige Mädchen hinter den verdunkelten Scheiben längst nicht mehr zu sehen war, lief er und lief und lief und lief und lief neben dem Zug her hinaus ins Freie.

      Außer Atem blieb er stehen. Er sah dem Zug nach, bis der letzte Wagen am Berliner Tor verschwunden war, dann zog er sein Telefon aus der Tasche und schrieb Floriane, dass alles in Ordnung war und die Kleine unterwegs.

      Eine ganze Weile stand er noch in der Morgensonne auf dem Bahnsteig, blickte zu den reglos in der Windstille hängenden Plakaten an der Museumsfassade hinauf und wartete auf Floris Rückmeldung. Aber es kam keine Antwort. Er spürte Lindys kleinen Kuss auf den Lippen und vermisste sie mit einem Mal sehr. Er stellte sich vor, wie Floriane in der vormittäglichen Hektik der Praxis seine Nachricht las und die drei Sätze Sekunden später über dem aufgesperrten Rachen des nächsten Patienten schon vergessen hatte. Linda tat ihm leid. Irgendetwas musste es in ihrem Gemüt geben, das sie peinigte und immer öfter dazu nötigte, Dinge an sich zu bringen, die ihr nicht gehörten. Die Jungs und Mädchen, denen sie ein Stickeralbum, einen Füller oder zuletzt den Chip für eine Spielekonsole gestohlen hatte, taten ihm nicht leid. Das Elsternkind nannten sie Lindy in der Klasse. So wie das Kind tat er sich auch selbst leid. Er spürte, wie der alte Kummer, von dem keiner wusste, ihm in der Kehle aufstieg. Und im Grunde bloß deshalb


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