Lichter als der Tag. Mirko Bonné
vom Blau der Elbe ab. Als Junge hatte er ein großes Plastikmodell des Segelschulschiffs zusammengebaut und bemalt, viele Monate lang hatte der Windjammer seine Fantasie beschäftigt, aber das wirkliche Schiff gesehen hatte er nie. Mit einem Mal, vierzig Jahre später, lag es vor ihm.
Als sie durch die Speicherstadt zum Tag zurückgingen, jeder sein Sakko überm Arm und im gleißenden Licht die Augen zusammengekniffen, erzählte er von dem vormittäglichen Flashmob und sagte, wenn er sich nicht täusche, habe er eine früher mal ziemlich enge Freundin im Hauptbahnhof gesehen.
»Hm. Wie eng?«, fragte Bruno.
»Sehr eng«, sagte Merz.
»So eng?« Bruno presste Daumen- und Zeigefingerkuppe fest aufeinander.
»Enger«, sagte Merz.
Ingers Namen gab er lieber nicht preis, und das Mädchen verschwieg er ganz.
Die vier Wörter auf dem Transparent stammten tatsächlich aus einem 375 Jahre alten Sonett aus dem Barock. »Es ist alles eitel« hieß das Gedicht von Andreas Gryphius, und auf der Kopie, die ihm Bruno auf den Schreibtisch legte, las Merz noch am selben Nachmittag den ganzen Vers: »Ach! was ist alles dies, was wir für köstlich achten, / Als schlechte Nichtigkeit, als Schatten, Staub und Wind.«
Am Abend nahm er seinen Mut zusammen und erzählte Floriane gleich beim Nachhausekommen von der morgendlichen Begegnung. Ihre ältere Tochter Priska deckte im Esszimmer den Tisch, Flori verschloss ihm mit dem Zeigefinger die Lippen, aber kaum waren sie in der Küche allein, forderte sie ihn auf zu erzählen, und er beschrieb ihr sogar die Blicke, mit denen Inger ihn, wie er meinte, in der Hauptbahnhofwandelhalle verfolgt hatte.
Floriane fragte: »Du bist aber nicht zu ihr hin und hast mit ihr geredet, oder doch?«
Merz tat und war ja auch entrüstet: »Natürlich nicht!«
Dann kam Priska in die Küche zurück, und sie unterhielten sich über Lindas Klassenreise, über seine berufliche Fahrt mit Bruno DeWitt in der folgenden Woche und darüber, dass es von Stuttgart ins Kinzigtal gar nicht weit war. Er könne, sagte Merz, die kleine Maus glatt besuchen fahren.
Die Johannisbeerbüsche litten furchtbar unter der Hitze, meinte Floriane. Sie hielt es für besser, wenn der Rasensprenger über Nacht anblieb. Merz fragte, wann mit einer Nachricht von Lindys Klassenlehrerin zu rechnen sei, bekam aber keine Antwort.
»Wie groß Pippa geworden ist«, sagte er, sobald Priska wieder im Flur verschwunden war.
Von Floriane kam bloß ein Atemgeräusch.
»Ich hab sie zuerst gar nicht erkannt.«
Von Flori kam nichts mehr.
Erst nach einer ganzen Weile sagte sie, und er hörte an ihrer dunklen Stimme, dass sie aufgebracht war: »Bitte Themenwechsel. Ich kann, ich will, ich werde mich damit nicht abgeben. Gott! Du glaubst ja nicht, wie ich juble, sollte es jemals wieder kühler werden.«
Sie aßen. Während Priska von ihrem aufregenden Tag erzählte – ihre und die Parallelklasse hatten offenbar den Flughafen besichtigt –, sah Merz in den Garten hinaus, wo Hecken, Sträucher und die Pergola in ein fast goldenes Licht getaucht waren. Noch abends lag das hochsommerliche Flirren der Hitzenachmittage in der Luft, und auch heute wieder sah man nirgends einen Vogel, ganz als wären sie alle längst verdurstet, die Tauben, die Meisen, die Amseln. Wo waren die Johannisbeeren? Rot wie roter Nagellack, dachte Merz. Und die Blätter alle welk, ausnahmslos. Es wird nichts mehr jemals wieder gut. Man kann es aushalten, ich kann es aushalten. Aber gut, gut wird es nie wieder, alles kaputt, alles vor langer Zeit kaputtgegangen, und das Einzige, was ich machen kann, ist, es zu vergessen und so zu tun, als wäre es anders.
Die Traurigkeit hatte seit dem Morgen auf der Lauer gelegen, jetzt witterte sie ihre Gelegenheit und kam heran; er schenkte sich Wein nach.
Seine Frau und seine Tochter unterhielten sich. Er war in Gedanken, hörte nicht zu, verstand daher nicht, wovon sie redeten.
»… und dann habt ihr alle angefangen zu tanzen, einfach so?«, fragte Floriane. »Auch die Jungs?«
Prissy strahlte. Sie spießte eine Nudel auf, drehte die Gabel in der Luft und ließ die Nudel ein paar Mal hin und her tanzen und Kreise beschreiben.
»Ja! Alle!«, sagte sie begeistert. »Erst standen wir nur so im Terminal rum und taten, als würden wir einchecken oder jemanden abholen. Ein paar von uns hatten sogar Rollkoffer oder Rucksäcke mit. Und die Lehrer einen CD-Player. Pünktlich um zehn stellten sie ihn an. Sehr laut! Mitten im Terminal. Dazu hatten wir die Erlaubnis. Und alle haben wir losgetanzt, wild durcheinander, einige das, was sie in der Tanzschule lernen, die meisten so wie ich einfach nur so. Und alle Fluggäste an den Schaltern und die Stewardessen, die vorbeikamen, alle kriegten sie solche Augen!«
»Was ihr euch ausdenkt«, sagte Floriane. »So was wäre uns nie eingefallen. Oder?« Sie sah ihn an; sie lächelte, aber nur mit dem Mund, nicht mit den Augen. Es war kein wirkliches Lächeln, sondern die Maske, die Frau Dr. Lepsius täglich acht Stunden lang in ihrer Praxis trug, damit niemand ihr Gesicht sah, ihre Müdigkeit und ihr Befremden.
Stumm schüttelte er den Kopf. Was Flori gesagt hatte, ergab keinen Sinn. Doch er war zu erschöpft für ein Wortgefecht. So manches war ihnen eingefallen, gerade Flori, die sich von Lehrern oder Profs nie hatte etwas vorschreiben lassen, und so lange her war das alles noch gar nicht. Allerdings hatten auch sie zum Glück nicht in die Zukunft sehen können.
Priska sprach aus, was ihr Vater dachte: »Früher gab es nun mal keine Flashmobs. Da gab es andere Aktionen in der Öffentlichkeit. Demos, klar. Aber auch von Künstlern organisierte Happenings zum Beispiel. Oder politische Sit-ins.«
»Und jede Menge anderen Kram«, sagte Floriane.
Selbst schuld, wenn du eine Zahnärztintochter heiratest, dachte Merz und trank. Engagement und menschliches Miteinander hatten für Flori einherzugehen mit ordentlichen Einkünften, deshalb war es für sie ausgemacht, dass beide Mädchen, Priska Marie und Linda Annabella, nach dem Abi Medizin, Zahnmedizin studieren würden, wie ihre Mutter, wie ihre Großmutter. Etwas anderes kam gar nicht infrage.
»Ich wäre ja gern mal bei so einem Die-in dabei«, sagte Merz trotzig und stellte sich vor, Bruno und er ließen sich in der Mittagspause an den Magellan-Terrassen mitten unter den ganzen Büromenschen aufs Pflaster fallen, als hätte sie der Schlag getroffen.
»Tot! Zwei Mitarbeiter des Tag in der Hafencity zusammengebrochen«, würde die Schlagzeile lauten.
»Nice«, sagte Priska. »Bei einem Die-in hätte ich am Flughafen auch gern mitgemacht, aber das haben die Lehrer natürlich abgeblockt. Gähn! Zu makaber. Abstürze und so. Nine-Eleven. Nicht mal einen Freeze haben die Sicherheitsmenschen vom Flughafen erlaubt. Gähn. Awkward.«
»Einen Fries?« Flori kniff die Augen zusammen, verständnislos schüttelte sie den Kopf.
Hilfesuchend sah Prissy ihn an und verdrehte die Augen.
Merz sagte: »Bei einem Freeze bleiben alle wie eingefroren stehen und bewegen sich nicht mehr. Der Freeze ist das Gegenteil vom Tanz-Flashmob. Stimmt doch, oder?«
Priska nickte. Sie hatte einen stark ausgeprägten Gerechtigkeitssinn, deshalb beugte sie sich zu ihrer Mutter und gab ihr einen Kuss auf die Wange.
»Love you«, sagte sie.
»Danke, wieder was gelernt«, sagte Floriane.
Merz beobachtete seine Frau: ihre Zerknirschung, weil sie sich ausgeschlossen fühlte. So war sie schon als junges Mädchen gewesen. In Floris Augen waren Kinder eine eigene Spezies, auch ihre: »Neandertalernachwuchs«. Sie verstand Kinder nicht, und aus kindlichem Trotz wollte sie sie auch gar nicht verstehen, schließlich hatte sie früher auch keiner verstehen wollen. Kinder waren die Zukunft, aber sonst? Sie machten ihr Angst; über Linda, ihr Elsternkind, sagte Floriane oft, sie sei verrückt.
»Ich finde ja tanzen besser als sterben«, lachte sie. »Wie lang hat das Ganze denn gedauert? So ein Flashmob ist doch meistens eher kurz, dachte ich.«
»Na