Lichter als der Tag. Mirko Bonné
Gruppe und stürzte Inger in die Arme.
Alles war vorbei. Der Flashmob war zu Ende, und dieser Teenager, der mit dutzenden Klassenkameradinnen und Mitschülern daran teilgenommen hatte, konnte nur Pippa sein. Am Müggelsee, in Köpenick, war Inger bereits schwanger gewesen, über vierzehn Jahre war es her, dass sie alle sich zuletzt gesehen hatten.
»Du siehst aus, als wärst du mit einem Gespenst Fahrstuhl gefahren«, sagte Bruno zu ihm im Treppenhaus, als sie nach der Konferenz zusammen in die Mittagspause gingen. »Du solltest an die frische Luft.«
Eigentlich hatte Merz in den klimatisierten Redaktionsräumen bleiben und das am Vormittag Versäumte nachholen wollen. Doch er merkte, wie sehr ihm die Begegnung mit Inger zusetzte, und so erschöpft er sich fühlte, war er froh, mit dem Kollegen und Freund über Dinge zu reden, die ihn auf andere Gedanken brachten.
»Wieso bist du so finster, hast du den HSV-Vereinsbus gesehen? Ich hoffe, du weißt, dass wir nächste Woche zusammen runter zu diesen Menschen fahren, die nur Schwäbisch sprechen. Bitte, lass mich nicht allein!«
Bruno brachte ihn zum Lachen, wann immer er konnte, am liebsten mit Witzen über den Fußball des chronisch dem Abstieg entgegentrudelnden Hamburger SV.
»Außerdem weht unten am Hafen eine Brise, im Ernst! Bei der Hitze tut ein kleiner Wind gut. Also los!«
Sie schlenderten den Baumwall entlang und weiter ins Portugiesenviertel. Die Leute lagen im ausgeblichenen Gras auf den Michelwiesen oder saßen im gleißenden Septemberlicht an den Straßentischen. Fast alle waren sie sonnengebräunt vom zurückliegenden Urlaub, hatten dunkle Brillen auf, waren nur mit dem Nötigsten bekleidet und unterhielten sich. Viele lachten. Merz schien der Einzige zu sein, der düsteren Gedanken nachhing, so kam es ihm vor, während sie auf zwei Sandwiches und die bestellten Getränke warteten. Ja, zum Teufel, er hatte ein Gespenst gesehen!
»Schatten, Staub und Wind«, sagte er tonlos, ohne etwas damit zu bezwecken, und blickte über die Straße zu den vollbesetzten Tischreihen dort auf dem Bürgersteig, die wie ein Spiegelbild wirkten, in dem er zwar vorkam, aber genauso hätte fehlen können. Es war auch ohne ihn vollständig.
Er fragte Bruno: »Kommt dir das bekannt vor: ›Schatten, Staub und Wind‹?«
Der portugiesische Kellner stellte zwei Gläser und eine amphorenförmige Flasche Wasser auf den Tisch. Lauter Bläschen standen perlend außen an dem hellblauen Glas, und wo einige der Tropfen auf die Tischdecke hinuntergeronnen waren und sich ein kleiner Mineralwassersee sammelte, saß ein geflügeltes Tier, das man leicht für eine Wespe halten konnte. Es war aber keine, auch wenn so eine Schwirrfliege zu ihrem eigenen Schutz vorgab, eine Wespe zu sein.
Der Freund überlegte. »Wusste gar nicht, dass du dich für Barockdichter interessierst.«
»Klingt das nach Barockdichtung für dich, du elendig belesener Schlaumeier?« Ein Teller mit zwei Toastsandwiches stand auf dem Tisch. »Hat der Kellner die gebracht?«, fragte Merz und blickte sich um: Ein Kellner war nirgends zu sehen. Er schenkte ihnen ein, und die Schwirrfliege, eine Zweiband-Wespenschwebfliege, schwirrte davon, er spürte den Handteller kühl und nass werden.
»Deswegen will ich immer in dieses Lokal, hier passieren kuriose Dinge«, sagte Bruno mit einem Sommerlachen. »›Schatten, Staub und‹ … Ich hab’s! Das ist das Vereinsmotto dieses Hamburger Rasenschachklubs, wie hieß er gleich?«
»Haha SV.«
»Richtig!«
Eine Frau ging vorbei und grüßte Bruno. Sie trug kaum etwas am Körper, hatte dafür aber goldene Sandalen an.
»Hallo Elfi«, sagte er. »Also, ich glaube, das ist aus einem Gedicht von … Fleming, vielleicht auch Gryphius. Jedenfalls – lass es dir schmecken, mein Lieber – klingt es ziemlich alt. Paar hundert Jahre. Wie kommst du darauf?«
»Elfi?«, fragte Merz und schüttelte lächelnd den Kopf.
Bruno drehte sich um und sah der brünetten Frau nach, und Merz sah, dass auch sie sich umdrehte und Bruno lächelnd und mit einer vertrauten Geste kurz zuwinkte.
»Sie ist einsam, reizend und sehr klug,« sagte Bruno ernst. »Geld hat sie auch. Ich werde nicht schlau aus ihr.«
»Vielleicht möchte sie geheiratet werden«, sagte Merz. »Möchte Familie haben und ein Haus im Grünen und eins am Meer.«
»Meinst du?« Bruno drehte sich um. Aber die Frau war schon verschwunden.
Als Bruno vor einigen Jahren eingestellt und zu ihm ins Zimmer gesetzt worden war, hatte Raimund Merz in Gesprächen mit seinem neuen Kollegen noch lange das Blaue vom Himmel gelogen, sobald Bruno nach seinen Wochenendplänen, seiner Frau, seinen Kindern, seiner Freizeit fragte. Lange Zeit hatte er das Gefühl gehabt, diesem DeWitt ebenso wenig etwas anvertrauen zu können wie dem Rest der Redaktion des Tag. Und dem Rest der Welt.
Aber das war ganz anders geworden.
Irgendwann hatte er begriffen, dass entgegen aller Erwartung Bruno tatsächlich sein Freund geworden war, ein kritischer zwar – kritisch zu sein war Brunos Beruf –, aber ein aufrichtiger. Und als sie dann schließlich offen miteinander zu reden anfingen, hatte er nur unter Mühen die ganzen alten Lügen so zurechtzubiegen vermocht, dass sie sich einigermaßen mit den Fakten vereinen ließen. Floriane, die er vor Bruno in Marianne umgetauft und zur Osteopathin gemacht hatte, war auf diese Weise eine Zeit lang Orthopädin gewesen, ehe Merz sich sicher war, sie ungefährdet als Kieferchirurgin bezeichnen zu können.
»Wie kommst du auf Marianne? Meine Frau heißt Floriane. So heißt sie schon immer, glaub mir, ich kenne sie lange.«
Es war nicht wirklich schlimm, Kieferchirurgin zu sein. Auf einem Erdball, der anscheinend nicht um die Sonne rotieren konnte, ohne dass unzählige seiner Bewohner unter grässlichen Schmerzen litten, hatten Kieferchirurgen eine sicherlich wichtige, mitunter sogar tröstliche Funktion. Doch eine solche banale Feststellung oder überhaupt das, was gemeinhin unter Wahrheit verstanden wurde, erschien einem wie ihm oft seltsam anfechtbar, sobald man es offen aussprach. Immer wieder gab er deshalb dem Bedürfnis nach, eine Tatsache entweder ganz zu verheimlichen oder sie immerhin leicht abzuändern und damit zu schützen.
Schützen wovor? Darüber dachte er täglich nach.
Das ganze Lügen hing ihm furchtbar zum Hals heraus. Es machte das Leben so anstrengend. Merz war heilfroh, als Bruno ihm eines Tages riet, ihm endlich reinen Wein einzuschenken. Hatte er zwei Frauen, hatte er eine, zwei, drei oder mehr Töchter? Merz wusste selbst nicht, was er Bruno alles erzählt hatte. Damals nutzte er die Gelegenheit und bat den Kollegen, der Übergewicht, kurze Beine und dünnes Haar hatte, der die Frauen aber wie magnetisch anzog und auch ihm auf unerklärliche Weise ans Herz gewachsen war, um Verzeihung.
»Vertrauen, schon mal davon gehört? Könnte auch dir gefallen, Herr Merz!« Bruno boxte ihn mitten im Konferenzraum lachend auf den Oberarm. Es tat lange weh.
Seither machte er dem Freund nichts mehr oder kaum noch etwas vor. Bruno erfuhr entweder alles oder nichts von ihm. Sie redeten viel miteinander, am meisten über Fußball und Musik. Merz erzählte ihm von dem Licht und davon, was es ihm bedeutete. Er erzählte von der Feldmark und dem wilden Garten. Sogar von Moritz und Inger erzählte er. Bruno schilderte dafür ihm, was er an dieser oder jener Frau mochte und wie er sie erobert hatte oder von ihr erobert worden war – was gar nicht selten passierte. Nie äußerte er sich abfällig über eine Liebschaft.
Sie flachsten, sie schwiegen, sie lachten und betranken sich miteinander, aber sie konnten auch ernst sein, über Filme reden, alte oder neue, den unüberwindbaren Graben, der die späten von den frühen Genesis trennte, den Irrsinn der Sportler, den Irrsinn der Politik, den Irrsinn der Leute, und manchmal wusste Merz: Gab es einen Mann, mit dem er zusammen weinen könnte, weinen über den Irrsinn der Welt oder den Irrsinn des eigenen Lebens, dann war es dieser so lebendige Bruno, der unverheiratet war und keine Kinder hatte, der in einem klimatisierten Dreizimmerappartement in einem Hochhaus mit Portier am Elbufer wohnte und dort von einer Liaison zur nächsten schlitterte.
An den Landungsbrücken lag die Kruzenshtern.