Lichter als der Tag. Mirko Bonné

Lichter als der Tag - Mirko Bonné


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Bahnsteighalle und das Licht.

      Ein Autoreisezug voller großer Wohnmobile mit skandinavischem Kennzeichen donnerte durch den Bahnhof und weiter Richtung Altona, um dort entladen zu werden. Der Lärm des Monstrums war unfassbar, er setzte Merz so zu, dass er sich abwandte und die Ohren zuhielt.

      So stand er eine Zeit lang am Fuß einer Rolltreppe, die zur Wandelhalle hinaufführte. Unaufhörlich strömten Menschen an ihm vorüber; hunderte fuhren hinauf, hunderte kamen herab, als wären es dieselben. Keiner von ihnen schien das Licht wahrzunehmen, und auch er schloss irgendwann die Augen, tauchte in das Schwarz und öffnete sie erst wieder, als der Zementboden nicht länger bebte.

      Er holte tief Luft. Und das war der Augenblick … gerade als das Dröhnen und Rattern des nur wenige Schritte entfernt vorbeirollenden Zuges nachließ und er das Licht wiedersah und den alten Abschiedsschmerz spürte und den Kummer darüber, dass sich das Verlassenheitsgefühl durch nichts lindern ließ als Ablenkung, Weitergehen, Weitermachen … in diesem Augenblick kam Inger die Rolltreppe herunter. Er sah sie, aber sie blickte nicht in seine Richtung, sondern zur Seite, über die Gleise, in die Halle. Er erkannte sie sofort, war jedoch so geistesgegenwärtig, sich wegzudrehen, weiterzugehen, an der Rolltreppe vorbei und in den Tunnelbereich unter der Wandelhalle. Er eilte in eine Richtung, die eine Sackgasse war, ohne Ausgang, ohne Eingang. Ihm wurde klar, dass er sich auffällig verhielt, keiner hatte etwas verloren in dieser finsteren Unterführung; darum blieb er stehen, als würde ein Film angehalten.

      Sie folgte ihm nicht. Er stand im Halbdunkel und blickte ihr nach. Sie war es ohne Zweifel. Sie ging weiter zur Bahnsteigmitte, wandte sich nicht nach ihm um, schien sich nicht zu fragen, ob sie sich geirrt haben könnte. Inger hatte ihn nicht erkannt, anscheinend nicht mal bemerkt.

      Kein Koffer, kein Rucksack, sie war ohne Gepäck. Nur eine schmale rote Handtasche in genau der Farbe ihres Nagellacks trug sie über der Schulter. Und ein helles Sommerkleid hatte sie an, übergroße, seltsam blasse Mohnblumenblüten sah man darauf. Ihr Haar war noch wie in Berlin, lang und offen, nur etwas weniger blond kam es ihm vor, nicht mehr ganz so vollkommen blond. Sie war älter geworden, Ingers Angst vor dem Altern hatte es nicht verhindern können.

      In sicherer Entfernung folgte er ihr. Da war ein Funkeln auf ihren Haaren, an das er sich gut zu erinnern meinte – bis er sah, sie hatte sich eine Sonnenbrille auf den Scheitel geschoben, die das Licht reflektierte. Er schüttelte den Kopf über sich selbst, lächelte, und er fühlte sich dadurch sicher, als wäre das Lächeln das Visier eines Helms.

      Allmählich ließ seine Nervosität nach, die Anspannung wich einer Neugier, die er so heftig lange nicht verspürt hatte. Er genoss es, nicht von ihr gesehen zu werden, sie aber genau im Blick zu haben. Und zum ersten Mal fragte er sich, auf welchen Zug sie wartete, wohin sie reisen wollte. Inger verschwand in einen Bahnsteigkiosk.

      Merz blieb stehen und zog, es kam ihm selber vor wie einstudiert, ohne zu zögern, das Handy aus der Tasche. Von Flori keine Antwort. Er brachte sich hinter einer Fahrplantafel in Sicherheit, und dort tat er so, als würde er nachlesen, wann montagmorgens der ICE nach Stuttgart fuhr, den Bruno und er nächste Woche würden nehmen müssen. Warteminuten, in denen er nichts weiter als die abenteuerliche Absurdität seines Verhaltens wahrnahm.

      Sein Blick fiel auf die Anzeigetafel. Von dem Bahnsteig fuhr überhaupt kein Zug ab, hier kam demnächst einer an, der verspätete Nachtzug aus Budapest.

      Budapest – Wien – Prag – Berlin – Hamburg.

      Erst da ließ er es zu. Zum ersten Mal seit Wochen, seit Monaten, dachte er an Moritz, ohne den Gedanken sogleich zu verscheuchen. Er wusste nicht, ob sie noch verheiratet waren; aber falls ja, war davon auszugehen, dass Inger ihren Mann vom Zug abholte. Merz kam der Gedanke, auf der Stelle Reißaus zu nehmen … nur nicht mitansehen müssen, wie sie Moritz begrüßte, so wie damals im Dorf, wenn sie getrennt zum Garten kamen, oder später in Weißensee und draußen in Köpenick, wenn Inger im Atelier gemalt hatte und nachkam zum Baden.

      Im Schutz der Fahrplantafel warf er den Kopf in den Nacken, starrte in das Licht, das durch das verglaste Dach auf die Züge, die Gleise, die Reisenden auf den Bahnsteigen fiel. Er fühlte, wie ihn Panik ergriff, und so floh er vor dem, was er nicht sehen wollte, und der Angst davor. Er hastete davon, zurück zu der Rolltreppe und unter die Leute, wo er sich sicher fühlte. Ein Trugschluss.

      Durch eine Schaufenstergasse, deren silberner und goldener Flitter ihn blendete, kam er in die Wandelhalle und merkte sofort, etwas stimmte nicht. Die Lautsprechermusik, die dort seit Jahren gespielt wurde, immer dieselbe, immer dieselbe, war an diesem Morgen eine völlig andere.

      Wie es hieß, diente die Wandelhallenmusik dazu, die Aggressionen der Drogensüchtigen zu lindern und die Junkies dadurch von Geschäften und Bahnsteigen fernzuhalten. Aber das hatte ihm nie eingeleuchtet. Immer empfand er die stumpfsinnige Berieselung als an ihn gerichtet, unzufriedene, aufmüpfige, reizbare Existenzen sollten durch die Musik, die eine Nichtmusik war, beruhigt werden, und nicht selten gelang das sogar und fühlte sich einer wie er seiner Aufgebrachtheit beraubt und ruhiggestellt. An diesem Vormittag nicht. Die Musik war eine andere, war wirklich Musik, auch lauter, fast unangenehm laut; beruhigen oder besänftigen konnte sie keinen, und noch etwas anderes war nicht wie sonst, doch was, darauf kam er nicht, während ihn sein Weg zwischen Kiosken, Essensständen, einem Tabakladen und Blumengeschäften hindurch zum Ausgang führte. In der Mönckebergstraße fuhr der Bus zur Hafencity. Wenn er den nächsten erwischte, würde er pünktlich zur Vormittagskonferenz in der Redaktion sein, alles würde seinen gewohnten Gang gehen, und am Abend konnte er den Schock, Inger begegnet zu sein, vor Floriane herunterspielen oder am besten gar nicht erwähnen und dann insgeheim bei einer Flasche Weißwein dabei zusehen, wie er sich in Luft auflöste und schließlich auch von ihm selber vergessen wurde.

      Allerdings bemerkte er jetzt, wie viele junge Leute, nicht nur Jugendliche, sogar Kinder sich in der Wandelhalle aufhielten, obwohl die Sommerferien lange vorbei waren. Ein lautes Raunen, fast ein Lärmen erfüllte den großen und hohen Raum unter dem Walmdach. Ein Gewimmel ist das hier!, dachte er. Und gerade fragte er sich, ob dieses Durcheinander wohl auf mehrere Schulklassen zurückzuführen war, die die Kunsthalle oder eine Ausstellung in der Galerie der Gegenwart besuchen sollten und eben aus der S-Bahn gestiegen sein mussten, da änderte sich schlagartig alles.

      Denn die Musik verstummte mitten in einem Takt, und unmittelbar vor ihm, sodass er nur mit Mühe nicht in sie hineinrannte, blieb eine Schülergruppe einfach stehen, so als hätte jemand die Zeit und mit ihr auch alles andere angehalten. Er wich den schlaksigen Jungs und Mädchen aus, die fast alle schwarze Klamotten trugen, wunderte sich zwar, aber schritt weiter durch die Menge, bis rechts, links, vor ihm und hinter ihm, überall schwarzgekleidete Jugendliche, wie mitten in ihren Bewegungen eingefroren, in dem Augenblick stehen geblieben sein mussten, als die Musik aussetzte.

      In Wirklichkeit, das erkannte er jetzt, war er einer der wenigen, die sich überhaupt noch bewegten. Und alle diese zehn, zwölf Staunenden und noch ein paar Schritte Weiterstolpernden, zu denen er sich dazurechnete, waren älter als diejenigen, die auf einmal stocksteif dastanden mit Gesichtern ohne Ausdruck und erstarrten Gliedern.

      Wer sich noch bewegte, war alt, wer nicht, war jung. So sah es aus. Doch wurde schnell klar, dass das Spiel anders ging. Nur wer nicht mitspielte, bewegte sich noch. Wer die Regeln kannte, stand still.

      Da waren auch Erwachsene, die sich nicht rührten. Sie verharrten am Rand, vor den Läden, und anders als die Kinder wirkten sie wie Statuen, weiße und bunte Aus-Stein-Gehauene, die aber ebenso genau zu wissen schienen, was hier vor sich ging. Eine dieser offenkundig Eingeweihten war die Frau seines früher engsten Freundes Moritz und ehemalige Freundin seiner eigenen Frau. Inger.

      Im Sommerkleid mit großen, blassen Mohnblumenblüten stand sie vor einem Blumenladen: Es hatte noch keinen Hintergrund gegeben, aus dem sie nicht herausstach. Etwas an ihr regte sich – die Augen. Ihre Blicke folgen mir, meinte Merz, während er sich durch die stillstehende Menge schlängelte, bis mit einem Mal die Musik weiterging und alles sich wieder bewegte, als wäre nie etwas gewesen.

      Über dem Ausgang zum Glockengießerwall entrollten im selben Moment mehrere Jungs und Mädchen ein schwarzes Transparent; in großen weißen Lettern war darauf zu


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