Lichter als der Tag. Mirko Bonné

Lichter als der Tag - Mirko Bonné


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Der Kurator, Kullmann, war angeblich eine Ausnahmeerscheinung, jung, omnipräsent, dabei alles andere als ein Karrierist. An ihrem letzten Abend würden sie sich außerdem das Pokalspiel des HSV bei den Stuttgarter Kickers ansehen. Die Kickers waren zwar nur ein Viertligist, doch dort einen hohen Sieg einzufahren würde den Hamburgern nach einem verhunzten Saisonauftakt vielleicht Auftrieb geben. Nach Brunos Ansicht wäre alles andere lachhaft, rein zum Weinen.

      Außer zu einem Spiel zu gehen, das ihn nicht sonderlich interessierte, hatte Merz in Stuttgart eigentlich nichts zu tun. Er machte keine Fotos, kannte sich mit Aufnahmegeräten nicht aus, hatte für Museen noch nie besonders viel übriggehabt, und auch Schwaben oder Baden, der Neckar und die Kinzig waren ihm schnuppe. Er würde auf dieser Reise überflüssig sein, obwohl kaum überflüssiger als sonst. Weder hatte er eine Aufgabe noch irgendeine Funktion, außer Herrn DeWitt zu begleiten. Der hatte darauf bestanden, dass Merz mitkam, und selbst die Stadionkarten hatte er Melly als Spesen untergejubelt.

      »Also Montag?«, fragte Bruno und sah dem Freund tief in die aschgrauen Augen.

      »Tue mein Bestes«, sagte Merz schwach. »Fritzi Feddersen und unsere gegen die Wand gefahrene Welt, das muss ich erst verkraften.« Damit ging er. Aber er hob noch kurz die Hand und rief Bruno zu: »Wir sehen uns Montagmorgen am Bahnhof. Gespenster halten Wort.«

      Floriane schrieb er, dass er sich den Nachmittag frei genommen hatte und spazieren ging, in Planten un Blomen oder auf dem Friedhof Ohlsdorf. Vielleicht sah er in der Staatsbibliothek vorbei.

      In den vergangenen Jahren hatte er für den Tag einige Artikel über neueste Erkenntnisse der Insektenforschung geschrieben, die von der Verlagsleitung und von Chefredakteurin Mareike Kennedy gut aufgenommen worden waren. Ein renommierter Hamburger Wissenschaftsverlag hatte daraufhin den Kontakt zu ihm gesucht und erwog offenbar ernsthaft, seine entomologischen Elaborate in Buchform herauszubringen. Niemand außer Flori und Bruno wusste davon.

      »Bin am Abend zur üblichen Zeit zu Hause«, schrieb er, aber wie in letzter Zeit üblich antwortete Floriane nicht.

      Er nahm die U-Bahn zu der Station, an der sein Wagen stand. Mit dem Phoebus fuhr er dann aber nicht nach Westen, wo sie wohnten, sondern quer durch die Stadt in die entgegengesetzte Richtung, über die Uhlenhorst, durch Winterhude, Alsterdorf und Ohlsdorf hinauf ins Alstertal.

      Nördlich des Parkfriedhofs war die Alster ein schmales Flüsschen und schlängelte sich durch schattige, am Nachmittag menschenleere Auenwälder hinunter zur Innenstadt. Unter Sommereichen unweit des Ufers parkte er so, dass er jede Schülerin, die aus dem Haupteingang ins Freie kam, genau sah, dabei aber selbst unbemerkt blieb. Er tat, worin er Fachmann war, er verhielt sich vollkommen unauffällig. Ein Mann, um die fünfzig, an sein Auto gelehnt. Er tat, als würde er telefonieren, er, der seit Jahren nicht mehr telefonierte. Auf dem Display rief er eine Landkarte von Frankreich auf und zoomte sie groß. Von Besançon ging es nach Nordwesten, vorbei an Dijon, Auxerre und Montargis Richtung Versailles. Zwischen Nemours und Évry lag der Wald von Fontainebleau.

      Er hatte Zeit. Fünfzehn Jahre lang hatte er auf diesen Tag hingelebt, still und so heimlich, dass er es beinahe selber nicht wusste, und deshalb wartete er gleichmütig, jedenfalls ohne nervös zu werden, ja im Grunde kaltblütig zweieinhalb Stunden lang vor der Andreas-Gryphius-Schule, bis Pippa herauskam.

      Allem Anschein nach hatte sie Sport gehabt: Ihre Haare waren noch nass vom Duschen. Sie war nicht allein, zusammen mit sechs oder sieben Mitschülerinnen, die alle eine Sporttasche abstellten oder fallen ließen und die alle ähnlich dürr, ähnlich langhaarig und ähnlich hübsch waren, stand Pippa im goldengrünen Licht unter den Bäumen vor dem Schulpavillon und wartete, bis sie an der Reihe war, den anderen irgendein Bildchen auf ihrem Smartphone-Display zu zeigen. Alle kicherten. Sie klangen wie Vögel.

      Alle hatten sie ganz ähnliche Stimmen. Sie waren alle gleich! Aber das schien nur so. In Wirklichkeit waren sie es nicht, und in Wahrheit unterschied sich jedes der Mädchen in beinahe allem von den anderen. Alle hatten sie ihre eigene Geschichte, ihre Ängste, ihre Sehnsüchte. Und alle ihr Leben vor sich. Keins würde dem anderen gleichen, auch wenn man ihnen das Gegenteil wieder und wieder weismachte. Kurz stellten sich ein paar Jungs zu ihnen. Deren Frisuren waren das einzig Auffällige an ihnen, als hätten sie blonde Helme oder Mützen auf. Schon trotteten sie weiter, linkisch und schlaksig, und Merz blickte ihnen nach, als sie auf dem Parkplatz durch die Sonne und an ihm vorbeistapften. Fast genauso alt waren Moritz, Flori und er gewesen, als damals ein dänisches Mädchen in ihr Dorf und dort zu seiner Tante zog. Ingers Eltern waren wenige Wochen zuvor beim Segeln auf der Ostsee ertrunken. Er erinnerte sich, wie sie ihm in ihrem so klaren Englisch davon erzählt hatte. Solsort hieß das Boot, auf Dänisch bedeutete das Amsel, und Inger sagte, bei jeder Amsel, die sie sah, denke sie an ihre Eltern. Sie saßen vor der Turnhalle im Schneidersitz auf dem von der Sonne aufgewärmten Asphalt und warteten auf die anderen. Inger Rasmussens Gesicht war voller Sommersprossen gewesen.

      Er hielt sich hinter einem Forsythiengebüsch verborgen. Pippa und ihre Freundinnen griffen sich ihre Taschen, dann gingen sie zu einem Fahrradunterstand ganz aus Wellblech, wo sie ihre Räder aufschlossen. Schon gondelte ihr kleiner Pulk los, und Merz musste sich entscheiden, wie es weiterging.

      Sollte er ihr nachfahren?

      Deswegen bist du doch hergekommen.

      Also los! Er stieg in den Phoebus. Er fuhr, den Mädchen hinterher. Herausfinden, wo und wie sie lebte. Wissen, was aus Inger und Moritz geworden war. Nein. Nein, das war nicht der wahre Grund. So wäre es vielleicht gewesen, hätten sie sich in Berlin getrennt, wie Leute sich trennten, weil sich die Dinge nun mal änderten und das Leben trotzdem weiterging. Aber so war es nicht. Die Dinge hatten sich geändert, und das Leben war nicht weitergegangen. Es hatte nur den Anschein gehabt.

      Eins der Mädchen führte am Lenker ein leeres Fahrrad neben sich her, schon lange hatte er das nicht mehr gesehen. Und wie früher schon, als er selbst noch so jung gewesen war, freute ihn, das zu sehen, es erinnerte ihn an ein paar Reiter, die er irgendwann mal – in der Nähe des wilden Gartens – dabei beobachtet hatte, wie sie zwischen ihren Pferden ein Fohlen mitführten, auf dem aber natürlich niemand ritt.

      Der Heimweg der Mädchen verlief entlang einer nicht enden wollenden Kastanienallee, die dem Alsterlauf folgte und auf der abendlicher Pendlerverkehr eingesetzt hatte. So wie am westlichen Stadtrand, wo Floriane, Pippa, Linda und er lebten, wälzten sich auch im Nordosten die Blechkolonnen tagtäglich unter den teilnahmslos vor sich hin rauschenden Bäumen hindurch, morgens stadteinwärts, abends wieder hinaus, dreihundert Tage und öfter im Jahr immer dasselbe. Die Jugendlichen schien es nicht zu kümmern. Sie hatten es nicht eilig und gondelten so dahin. Auf einmal aber bogen die Fahrräder ab, die Mädchen verschwanden zwischen lauter abgestellten Autos, die eine ganze, sacht eine Anhöhe hinaufführende Straße in eine einzige Blechhalde verwandelten. Unvermittelt fand sich Merz in einer Siedlung mit hunderten englisch anmutenden, weißgetünchten und beinahe vollkommen identischen Doppelhäusern wieder.

      Langsam, in sicherem Abstand, folgte er dem Pulk. Ein erstes Mädchen verabschiedete sich, und alle übrigen winkten und riefen der Schulfreundin noch etwas nach. Es war ein ruhiger, fast dörflicher Stadtteil, den er nicht kannte. Eine Katze überquerte ohne Eile die Straße. Berberitzenhecken umgaben Vorgärten mit symmetrisch gestutzten Weidenbäumen, aus deren Kronen hier und da eine Schaukel herabhing. In den Carports und Auffahrten parkten Familienkutschen, nicht selten ein neuer Phoebus. Sie lebt in einer Siedlung für Phoebusfahrer wie mich, dachte Merz, in einer Phoebussiedlung! Es gab Fahnenmaste. Es gab Gartenhäuser. Es gab Baumhäuser. Es gab Kanus und Kajaks unter Kanu- und Kajakabdeckungen. Es gab mit bunter Kreide auf den Asphalt gemalte Kopffüßer. Floriane hätte es als Neandertalersiedlung bezeichnet und sich darüber mokiert, zumal wenn sie gewusst hätte, dass auch Inger und Ingers Kind und vielleicht ihr Mann hier wohnten. Aber Merz hatte von den Neandertalern ohnehin eine abweichende Ansicht, seit im Radio berichtet worden war, dass sie sich vermutlich über Gesänge miteinander verständigt hatten, über ihre schönen Neandertalermelodien.

      Das leere Fahrrad, das eins der Mädchen neben ihrem herschob, im Grunde, dachte Merz, könnte darauf genauso Prissy sitzen. Er war froh, als das Mädchen abstieg und sich verabschiedete und die anderen weiterfuhren.

      Von


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