Lichter als der Tag. Mirko Bonné
und einen jungen Hund mit auffällig langen Beinen an der Leine führte. Der Hund bellte, er war rötlich braun, fast wie ein Fuchs, er kläffte in seine Richtung, und als Merz endlich aufhörte, wie besessen auf die Hupe zu drücken, erkannte er auch, dass das Mädchen Pippa war.
Ihm wurde bewusst, dass der Motor des Phoebus lief. Er konnte fahren, einfach wegfahren, ganz gleich, wohin.
»Sleipy, hör auf, sei jetzt ruhig. Aus, Sleipner!«, sagte das Mädchen zu dem Hund.
»Raimund, was machst du hier?«, fragte die Frau, die wie Inger aussah; sie blickte durch das Seitenfenster zu ihm herein, sie war keine Armlänge entfernt.
Merz starrte auf das weiße Band in ihrem Haar. Es war mit Blumen bestickt, kleinen bunten Blütenblättern.
Sleipner … der Name, er passte gar nicht zu einem so jungen Hund, so einer spiddeligen Töle … Mit diesem Gedanken gab er Gas – oder Strom –, und der Phoebus, der sonst nur so dahinsurrte, sprang aus der Parklücke. Er war der Fahrer eines Hybridfluchtwagens. Er raste davon, kachelte die Straße runter, weiter, immer weiter durch die Siedlung, aufgewühlt, aufgebracht, fluchend erst, dann stumm, und als er nicht länger floh, glitt er durch ein anderes, ihm genauso unbekanntes Viertel am nordöstlichen Stadtrand, Sasel oder schon Berne, er versuchte nicht zurückzudenken, sondern auch diese Begegnung zu vergessen, die zweite mit Inger innerhalb von vier Tagen, und hielt sie, als er dann irgendwann auf dem Weg nach Hause war, wirklich für nie geschehen.
Er hörte Musik im Auto, hingebungsvoll lauschte er jedem Lied eines alten Cure-Albums und dachte dabei nach über alles Mögliche, nur nicht über Frauen, Töchter, Vergangenheit, Jugend, sondern ganz andere Dinge. Was treibt die Wespen an, dachte Raimund Merz, ist es denn nicht Sehnsucht? Ein Verlangen nach Besänftigung, das unbedingt gestillt werden will?
Später hatte er mit Floriane und Priska auf der Terrasse gegessen, und am violetten Himmel waren Wärmegewitter aufgezogen, die bei Einbruch der Dunkelheit kühlen Wind vor sich hertrieben und mit weithin sichtbaren Blitzen und lautem Donnern von Westen den so lange ersehnten Regen brachten. Im Garten wogten die Baumwipfel. Geisterhaft peitschte es die Schlehen und Johannisbeerbüsche im Wechsel mit ihren Schatten hin und her. Windwellen liefen durch die Hecken, ehe sie übersprangen auf das Gras. Quiekend vor Freude an der eigenen Bangigkeit hüpfte Priska in Bikini und T-Shirt über den schwarzen Rasen und tat alles, um ihre Mutter zu einem Regentanz zu animieren, der aber Floriane bloß peinlich war und den sie lieber fotografierte: Priska Marie, wie sie die Hüften kreisen ließ, die nackten Arme flehend gen Nachthimmel reckte und schließlich laut jubelnd auf die Knie sank, um dem Regengott zu danken.
Unmittelbar überm Haus war dann das Gedonnere losgebrochen. Und mit einer einzigen machtvollen Bö hatte ein Wasserwind angehoben, der einen dichten Guss aus dicken warmen Tropfen über den Vierteln am Fluss, den Elbinseln und bestimmt dem ganzen Hafen ausschüttete.
Müde und ausgelaugt hatte er sich zurückgezogen und war zu Bett gegangen, in Unruhe versetzt von fiebrigen Erinnerungen an den Tag und irgendwie erregt und gleichzeitig angewidert von einem großen blasslila Strauß Blumen auf dem Wohnzimmerglastisch, wo er einen Duft verströmte, als hätte alles Übrige seinen Geruch eingebüßt.
Stundenlang lag er in seinem Schlafzimmer unter dem gekippten Fenster. Nur mit einem Laken zugedeckt, lauschte er dem besänftigenden Prasseln des Regens, der auf die knarrenden Baumkronen und die längst unter Wasser stehende Terrasse fiel. Auch lange nach Mitternacht war es im Zimmer nicht vollständig finster; immer wieder tauchte ein Blitz über Osdorf den Himmel schockartig in grelles Licht, dann malte sich Merz die Philippinos auf einem elbabwärtsfahrenden Frachter aus, und jedes Mal kam es ihm vor, als erhelle das Gleißen auch seine Gedanken. Was ihm seit Tagen, wenn nicht Jahren unklar gewesen war, sah er mit einem Mal deutlich vor sich. So wie er fraglos wusste, dass Nacht war und er in seinem Bett unter der tapezierten Dachschräge lag, meinte er plötzlich zu begreifen, weshalb er nie wieder von Moritz gehört hatte und von dem früheren Freund nicht das Geringste in Erfahrung zu bringen war.
Natürlich war es nur eine Vermutung, aber sprach nicht vieles dafür, dass Moritz gar nicht mehr am Leben war?
Kein Mensch hätte Merz verständigt, wenn Moritz tatsächlich etwas zugestoßen war, keiner außer vielleicht Inger.
Lange dachte er darüber nach, und die Bilder, die ihm durch den Kopf gingen, lösten immer neue aus, Bilder, die er viel zu lange verscheucht hatte, sobald sie aufgetaucht waren.
Die Eltern von Moritz waren Ende der neunziger Jahre tödlich verunglückt, als sie mit ihrem Jaguar auf einer Landstraße der Ostseeinsel Fehmarn unter einen Sattelschlepper gerieten. Merz war ihnen stets ein Dorn im Auge gewesen. Denn in nichts schien dieser Raimund auch nur entfernt etwas darzustellen, was ihren Sohn hätte voranbringen können. Was sollte so einer anderes sein als ein Bürschchen, und was aus so jemandem werden, wenn nicht ein Halbstarker und später irgendein Mensch?
Raimund Merz lebte mit seiner Mutter in einem Reihenendhaus im unteren Teil des Dorfs. Die Mutter war zuvorkommend, wenn man anrief, um nach dem Verbleib des eigenen Kindes zu fragen, aber sie war, Gott, eine Verkäuferin. Ab und an ließ es sich nicht vermeiden, in dem Laden, in dem Frau Merz hinterm Tresen stand, ein paar Kleinigkeiten einzuholen; betretenes Schweigen. Der Vater wer weiß wo, die Mutter alleinerziehend und der Sohn eine Plage, widerborstig, mal maulfaul, mal rotzfrech.
Hätten der Tanke-Rauch und seine Frau es noch erlebt, der Bruch ihres Sohnes mit dessen vermeintlichem Freund aus dem Unterdorf hätte sie nicht betrübt, eher erleichtert und bestätigt. Ja, erlöst! Man hatte diese sogenannte Freundschaft jahre-, jahrzehntelang hingenommen, mehr aber, nein, nicht. Wer war man denn?
Als junger Mann hatte Arno Rauch, wie er gern herumposaunte, die Gelegenheit beim Schopf gepackt, eh sie kahlköpfig war. Von allen außer dem Gemeindevorsteher belächelt, hatte er die Tankstellenruine am Ortsrand erstanden und Dach, Werkstatt und Zapfsäulen eigenhändig in Schuss gebracht. Über Wochen stand er in der hallenden Dunkelheit der zwei verrosteten unterirdischen Benzin- und Dieseltanks und schweißte dort, als wäre er persönlich der Schwelbrand in einem Kohleflöz.
Als an der Tankstelle im Dorf schließlich wieder Autos hielten, bekam der junge Rauch von Gemeindevorsteher Alberich die Erlaubnis, um die Hand der Tochter anzuhalten und von Noras Mitgift zwei Tankstellen in Nachbardörfern zu erwerben. So wurde aus Arno Rauch der Tanke-Rauch.
Jedes Jahr kauften Rauchs mindestens eine alte Tankstelle, ließen sie grundsanieren und rüsteten sie mit einer Waschanlage aus. Im Jahr, als Moritz zur Welt kam, gehörten seinen Eltern neunzehn Tankstellen zwischen Bad Oldesloe und Hamburg-Billstedt, »ein kleines Imperium«, hatte Merz gedankenlos einmal zu äußern gewagt und war dafür von seinem Freund so lange wie Luft behandelt worden, wie dessen Vater in der Erde unter seiner ersten Tankstelle mit dem Schweißbrenner geschuftet hatte.
Achtundzwanzig, zweiunddreißig, vierunddreißig Tankstellen gehörten Rauchs zur Blütezeit der allgemeinen Kohlenmonoxid-Verpestung. Moritz machte seinen Führerschein und holte morgens mit dem alten Saab seiner Mutter den Freund ab, um über die neugebaute Autobahn zur Schule zu heizen. Es waren die gedankenlosen Jahre, satt und sorglos, die Jahre der Eigenliebe in den Zeiten der Kohl-Ära.
Um auch diesmal alle Spuren von Selbstverschulden zu verwischen, wurde für den so unerwarteten wie unaufhaltsamen Niedergang des Tankstellenimperiums ebenso eine Freundschaft verantwortlich gemacht, allerdings dürfte die zu keiner Zeit eine echte gewesen sein. Es gab in der Gegend einen Mann, der für ähnliche Furore sorgte wie der Tanke-Rauch, und mit diesem Gebrauchtwagen-Hai ging Arno Rauch eines Tages, der wohl nicht zu seinen besten gehörte, eine fatale Verbindung ein, indem er Hajo Kossleck, den Auto-Kossleck, zu seinem Kompagnon machte.
Merz sah die beiden siegesgewissen Männer wieder vor sich, während er im Dunkeln in seinem Zimmer lag und vor dem Fenster der Regen in die Sträucher brauste. Sie lehnten am Kotflügel eines riesigen BMW und grinsten, als würde ihnen beiden zu gleichen Teilen die Sonne gehören. Moritz’ Vater und der Auto-Kossleck waren überzeugt gewesen, mithilfe des anderen dem eigenen Glück Glanz und Dauer verleihen zu können. Aber daraus war nichts geworden, sogar weniger als nichts. Er war vielleicht zwanzig gewesen und hatte mit mäßigem Interesse, aber