Lichter als der Tag. Mirko Bonné
von tiefstehender Oktobersonne golden angestrahlten Waldrand so scharf umrissen vor sich, als wären keine dreieinhalb Jahrzehnte vergangen. Er war kein niedergeschlagener Redaktionsangestellter und lag nicht in einem Dachzimmer einer Doppelhaushälfte tief in der Nacht hellwach im Bett, sondern er lag an einem unvergesslich schönen Nachmittag im warmen ausgeblichenen Gras, kaute auf einem Halm und blickte mit zusammengekniffenen Augen über das abgemähte Feld zu den Bäumen auf dem Rücken der Moräne hinüber; seit Stunden tat er das, denn er wartete und wartete und konnte nicht aufhören mit dem Warten.
An dem Nachmittag, als er so im Feldmarkgras lag, wie alt war er da? Das fragte er sich in dieser schlaflosen Gewitternacht. Du warst noch halb ein Kind … und es war einer der letzten Nachmittage, bevor im Grunde alles losging. Bevor das ganze Unglück losging. Inger … alles war noch gut an dem Nachmittag. Und wie gut es war.
Er merkte, wie ihm der Kummer in der Kehle aufstieg, aber auch, wie wütend er nach all der Zeit noch immer war. Es gibt Dinge, über die man nicht reden kann, mit niemandem, nur kann man sie auch nicht totschweigen, und ich, dachte er, werde nicht länger tun, als wäre das anders.
Aus dem Dauergeprassel war mittlerweile Nieseln geworden, ein ergiebiger Sprühregen. Sachtes Rauschen wie von einem feinen Vorhang hüllte das Dach ein, unter dem er lauschend im Bett lag. Er hörte das Wasser unten im Garten durch die steinernen Abflussrinnen gluckern, und er hörte es durch die Dachtraufen fließen, ehe es durch die Fallrohre abwärtsströmte auf die Eisengitter über den Gullys. Den Donner, sein Grollen, vernahm man nun nur noch selten und in weiter Ferne. Ein paar Vögel sangen schon. Sie mussten in den wieder reglosen Schwarzpappeln unterhalb des Bahndamms sitzen, weil aus den Bäumen ein aufgeregtes Gezwitscher herüberdrang. Irgendwo ganz in der Nähe, so früh hatte er das lange nicht gehört, klopfte ein Buntspecht.
Stille.
Da!
Und Stille.
Schon wieder …
Oder das Klopfen kam gar nicht aus dem Garten.
Nebraska. Nebraska.
Die Tür ging auf.
Obwohl im Flur kein Licht brannte, erkannte er an ihrem Umriss, dass dort im Türrahmen seine Frau stand und ihn in dem halbdunklen Raum auszumachen versuchte. Floriane betrat sein Schlafzimmer nur, wenn sie mit Staubsaugen an der Reihe war oder dem Waschen des Bettzeugs, das sie ihm dann zusammengefaltet hinlegte, denn wie so vieles andere im Haushalt, das es zu erledigen galt, bezog Merz sein Bett selbst. Und umgekehrt hielt er es genauso in Florianes Schlafzimmer und den Zimmern ihrer Neandertalerkinder an den Tagen, an denen er an der Reihe war mit Putzen, Saugen und Waschen.
»Ich kann nicht schlafen. Seit Stunden liege ich wach, da hör ich auf einmal, wie du durchs Haus rufst: ›Ohlsdorf! Ohlsdorf!‹«, sagte Flori sehr ruhig, aber mit dunkler Stimme, die von Gereiztheit und Kampfeslust kündete und praktisch ihr akustisches Streitross war.
Heiho! Und schon ging es los!
»Könntest du mir bitte sagen, was du hast? Du verduftest am Mittag aus dem Büro, Bruno ruft am Abend hier an, um sich nach dir zu erkundigen, weil du ausgesehen hättest wie ein Schwindsüchtiger, und ich muss ihn anlügen, dass du nicht telefonieren kannst, weil du völlig erschöpft wärst. Wo also warst du neun Stunden lang, hm? In der Staatsbibliothek, bei den Insektenbüchern? Du kommst nach Haus, tust, als hätte es dich zufällig in dieses Haus gespült oder als wäre ich eine Wildfremde, eine Geflüchtete, die zusammen mit ihrer pubertierenden Tochter hier in deinem Haus einquartiert wurde. Entschuldigen Sie vielmals, Herr Merz. Du stehst stumm da und murmelst vor dich hin, wenn ich dir erzähle, wie mein Tag mit fünfundzwanzig Patienten war. Dass es Linda gut geht, sage ich zu dir, nein, sie hat noch keinem was geklaut, sage ich zu dir, zumindest wird noch nichts vermisst, sage ich zu dir, und du machst dir seelenruhig eine Flasche Wein auf, sitzt mit Prissy und mir für drei Alibiminuten auf der Terrasse und guckst auf dein Handy oder in die Johannisbeeren. Und dann verziehst du dich, verziehst dich mit deiner Alkoholration in dein Trauergemach, ohne ein einziges Wort mit uns zu reden. ›Was ist denn mit Papa los?‹, will deine Tochter von mir wissen. ›Frag ihn selber!‹, hab ich ihr gesagt. ›Wieso ich denn?‹, sagt deine Tochter. ›Ihr seid doch verheiratet!‹ ›Ach ja? Bist du dir da sicher?‹, hab ich sie gefragt. Und kaum ist Ruhe in diesem Irrenhaus, brüllst du mitten in der Nacht so mir nichts, dir nichts: ›Ohlsdorf! Ohlsdorf!‹ Raimund, so nicht! Ich bin keine Asylantin. Ich bin auch nicht auf der Flucht. Und erst recht nicht auf den Kopf gefallen! Raimund, rede mit mir! Behandle mich nicht wie deine Zahnärztin. Ich bin auch nicht deine Mutter. Hast du eigentlich eine Vorstellung davon, wie es ist, mit einem Abwesenden verheiratet zu sein, einem, der abwesend ist, wenn er weg ist und wenn er da ist? Als du rein zufällig deine dänische Freundin wiedergetroffen hast, habe ich am nächsten Tag einen Strauß Lupinen ins Wohnzimmer gestellt, große blasslila Kerzenlupinen, die stehen da seit fünf Tagen, jeden Abend haben sie frisches Wasser gekriegt, aber verwelkt sind sie bei dieser Affenhitze trotzdem. Hast du den Strauß überhaupt bemerkt? Hallo, hörst du mich? Sind die Blumen ein einziges Mal in dein Nachrichtenredakteurbewusstsein gedrungen? Weißt du, was Lupinen für uns mal waren? Ich will jetzt auf der Stelle von dir wissen, warum du hier, während es draußen blitzt und donnert, im Dunkeln im Bett liegst und schreist ›Ohlsdorf‹, ›Ohlsdorf‹!«
»Ach, willst du das?«, fragte er.
»Ja, sag es mir, verflucht!«
»Geh raus und mach die Tür zu«, sagte Merz zu seiner Frau. »Ich lasse so nicht mit mir reden. ›Ohlsdorf‹! Das ist aberwitzig. Als würde ich im Bett liegen und hier wie ein Lebensmüder Stadtteilnamen brüllen. ›Harvestehude!‹, ›Eimsbüttel!‹, ›Sasel!‹« Er lachte, oder tat, als würde er lachen. »Ich habe tief und fest geschlafen, Mensch!«
Lupinen? Er hatte keine Lupinen gesehen. Lupinen waren für ihn überhaupt keine Blumen, sondern Futterpflanzen. Sie wurden angebaut, um untergepflügt zu werden, wenn sie noch grün waren. Sie dienten der Nährstoffanreicherung des Ackerbodens, so wie Esparsetten und Luzernen. Blühende Lupinen waren reich an Nektar. Dutzende Bienen-, Wespen- und Hummelarten liebten den Lupinennektar … wenn bei Hautflüglern von Liebe zu sprechen nicht zu viel des Guten war.
Der große blassviolette Strauß Blumen, der unten gestanden und dessen Geruch ihn so kirre gemacht hatte, fiel ihm wieder ein. Meinte Floriane den?
Konnte man denn bei einer Kieferchirurgin von Liebe sprechen?
Wespen lebten im Durchschnitt zweiundzwanzig Tage lang. Merz war überzeugt, dass jede einzelne Wespe auf ihre ihm unbekannte Weise diese so absurd kurze, ihr auf der Welt gegönnte Frist liebte.
Jawohl, liebte!
Die Wespe liebte jeden Lupinenkelch, der sie mit dem versorgte, wonach ihr der Sinn stand und was sie deshalb ersehnte. Nicht nur den Nektar. Wespen waren nicht gefräßig. Auch den Duft, die Farbe, das Licht der Welt im Sommer liebte die Wespe.
Wie schon unzählige Male, so war er auch jetzt drauf und dran, seiner Frau vorzuschlagen, sie solle sich statt um Kiefer lieber um Kiefern kümmern.
»Kiefernchirurgin, wäre das nichts für dich?«, hatte er sie des Öfteren beinahe gefragt.
Im Dunkeln lächelte er, sie konnte es nicht sehen.
Floriane drehte sich aber auch so mit einer Bewegung um, die ihren ganzen Zorn auf ihn verriet, und marschierte durch den Flur davon.
»Tür zu, Frau Doktor!«, rief er ihr nach.
Er lachte. Diesmal war es ein wirkliches Lachen, auch wenn es Flori nicht gerecht wurde. In ihrer Angst, vergessen zu werden, schrieb sie vor einem Treffen mit einer Freundin oder Kollegin eine Erinnerungs-SMS: »Heute sind wir verabredet. Ich freue mich darauf, Dich um 19.45 Uhr in unserem Stammlokal in Eppendorf zu treffen. LG Floriane.«
Etwas rührend Kindliches hatte sie in ihrer Scheu an sich, und er hatte das lange an ihr geliebt. Doch wie fast alles in ihrer Ehe waren sie ein Automatismus geworden, ihre Schüchternheit und seine Rührung.
»Eppendorf!«, rief Raimund Merz.
Flori – die reizend sein konnte und