Lichter als der Tag. Mirko Bonné
wäre es nicht oder kaum der Rede wert gewesen, weshalb sie auch nichts davon zu wissen bräuchte. Mit Inger war es damals, als sie und er endlich zueinandergefunden hatten, etwas völlig anderes gewesen, mit Betrügen oder Hintergehen hatte es rein gar nichts zu tun. Ein einziges Mal war er aus allem herausgetreten und hatte etwas zuwege gebracht, das man einem wie ihm nie zutrauen würde. Aber, und das war es, was er sich fast jeden Tag mit gutem Gewissen sagte, er hatte es nicht für sich getan, sondern aus Freundschaft, zumindest anfangs. Außerdem wusste Flori so gut wie alles. Und es war so lange her! Verletze sie nicht. Tu der Mutter deiner Kinder nicht unrecht, dann bringst du deine Ehe und Familie nicht in Gefahr und dein Leben nicht aus dem Gleichgewicht, sagte er sich seither.
»Ich war in Ohlsdorf«, sagte er nach etwa neun Sekunden.
»›Ich war in Ohlsdorf‹!«, machte sie ihn nach. »Als ob das nicht schon die ganze Straße wüsste! Liegt hier und ruft ›Ohlsdorf!‹ durch die Nacht. Wieso, will ich wissen, wo genau, will ich wissen, mit wem und bei wem, will ich wissen, warst du in Ohlsdorf!«
Allmählich wurde es ihm zu bunt. »Was hast du gegen Ohlsdorf?«, fragte er ehrlich erstaunt. »Hast du eine Ohlsdorf-Phobie?«
Er lachte, aber nur in sich hinein.
»Sag es.«
»Was?«
»Sag es!«
»Was denn?«
»Warst du bei ihr?«
»Ihr? Bei wem denn?«
»Bei ihr und ihrer Tochter! Du weißt genau, von wem ich rede – von wem zu reden du mich zwingst!«
Gleich, endlich, würde sie in Tränen ausbrechen.
Aber sie weinte nicht.
»Entschuldige, aber ich kann dir nicht ganz folgen. Du meinst doch nicht … meinst du etwa …?«
Es regnete und regnete, aber Flori weinte nicht. Merz kam es so vor, als würde er im strömenden Regen draußen im Garten liegen. Der kalte Schweiß stand ihm auf der Stirn.
Die Enten auf der träge durch die Abendhitze dahinfließenden Alster fielen ihm ein. Wie zornig sie waren.
»Woher weißt du eigentlich, dass Inger und Pippa in Ohlsdorf wohnen?«, fragte er nicht länger lauernd und unterwürfig, sondern ganz ruhig, beinahe so kaltblütig, wie er sich am Nachmittag vor der Schule des Mädchens und in der fremden Siedlung gefühlt hatte.
Flori merkte selbst, dass sie in ihrer Wut zu weit gegangen war und sich deshalb verplappert hatte.
Und plötzlich knickte sie ein. Sie sagte nichts mehr. Und als hätte sie alle Kraft aufgebraucht, klappte sie auch körperlich zusammen, ging in die Hocke, sank auf die Knie und zur Seite und kauerte dann in ihrem weißen Pyjama reglos in der Zimmertür. Und Merz hörte sie schwer atmen; und er empfand dabei nicht das geringste Mitgefühl.
»Wir werden sie nie los«, sagte sie nach einer Weile und hatte dabei auf einmal ihre ganz junge Stimme von früher. »Sie sind wie unsere Schatten.«
Und dann erzählte sie, schon vor Monaten sei ein Brief von Inger gekommen, adressiert nur an ihn, weshalb sie ihn an sich genommen und nach ein paar Wochen, in denen er ihr nicht aus dem Sinn gegangen sei, geöffnet habe.
»Bitte? Und was stand in dem Brief?«, wollte Merz fragen, tat es aber nicht. Es war nicht nötig.
»Sie schreibt, dass Moritz schwer krank ist und dass er sich wünscht, dass Pippa die Wahrheit erfährt über Inger und ihn, über dich und mich, ehe vielleicht das Schlimmste eintritt«, sagte Flori. »An mich nicht mal Grüße«, fügte sie an, »weder von ihm noch ihr. Na, habt euch ja gefunden.«
Sie schluchzte.
Merz wusste, dass er nichts weiter zu befürchten hatte. Er schwieg lange, war bestürzt, aber kam sich auch sicher vor. Er lauschte dem Regen und Florianes allmählich ruhiger werdendem Atem. Indem er durch das Fenster über seinem Bett auf die am Himmel vorüberflutenden Wolkenfetzen blickte, sagte er irgendwann tonlos, dass sie sich irre.
»Ich bin einfach schrecklich ausgelaugt. Mir war heute Mittag alles egal. Ich wollte nur noch meine Ruhe haben, irgendwo im Schatten spazieren gehen, da bin ich einfach rumgefahren, im Auto war es schön kühl, bin raus an die Elbe und dann am Grab meiner Großeltern in Ohlsdorf gewesen, da war ich schon Jahre nicht. Überall in den Rhododendren waren Wespen, sogar Hornissen, daumengroße und ganz verschiedene Arten, die habe ich lange beobachtet und darüber … die Zeit vergessen.«
Minuten, eine Stunde, zwei Stunden vergingen. Es dämmerte, es wurde hell; der Regen hörte auf, begann von Neuem, hörte wieder auf und war dann vorbei. Irgendwann wurde Merz bewusst, dass er längst allein war. Sie, Floriane, musste wortlos schlafen gegangen sein, jedenfalls war sie nicht mehr da, und im ganzen Haus herrschte wohltuende Stille.
Müde schloss er die Augen und sank in die Bilder, die hinter seinen Lidern auftauchten und verschwanden, nur um sogleich von anderen abgelöst zu werden … Die Sommer ihrer Jugend, die Hitzefrei-Tage vor dreißig, fünfunddreißig Jahren waren nicht vorbei; denn nichts war vergangen, nein es gab überhaupt keine Vergangenheit.
Natürlich hatte er nicht vergessen, was Lupinen Floriane und ihm früher einmal bedeuteten. Auf der sich bis zum Horizont erstreckenden Feldmark und so auch zwischen dem Wald auf der Moräne und dem wilden Garten, den er mit Moritz und Flori entdeckt und den sie Inger gezeigt und der seither ihnen gehört hatte und ihr gemeinsames Geheimnis war, auf diesen in der flirrenden Nachmittagssonne endlosen Feldern wuchsen Lupinen, unzählige. Es waren so viele violette, hellblaue und dazwischen immer wieder auch gelbe Kerzen, dass Moritz, die beiden Mädchen und er an manchen besonders heißen Sommertagen berauscht vom Duft der Blüten am Waldrand entlangtorkelten und sich kaputtlachten.
Und wie sonderbar waren ihre Blüten! Sie wirkten zuerst wie Trauben, wenn man sie sich aber von Nahem ansah, fächerten die Beeren sich auf und waren kleine Quirle, und die Blätter hatten lange Stiele, von denen sie sich abspreizten, wie Finger. Insekten schwirrten durch den Moränenwald hinaus auf die Felder, um sich dort aus den Blütenkelchen ihren Nektar zu holen. Und der ganzen großen und kleinen, schwarzen und grünen, lauten und lautlosen Fliegen wegen waren immer hunderte Vögel in der Luft, Schwalben und Meisen und Finken, aber auch Stare, Glanzstare, die sich im Herbst zu Wolken zusammenrotteten, und Drosseln, Wacholderdrosseln, und Amseln. Von morgens bis abends waren sie am Jagen und sangen und zwitscherten.
Ein paar Mal waren sie auch in der Nacht auf den hellen Sandwegen über die Moräne zu ihrem Garten gegangen, und Merz erinnerte sich so deutlich an das Licht, in das der Mond die Feldmark tauchte, und an die blasse Haut von Ingers schmaler Hand, die er festhielt, während sie am Waldrand entlangliefen, als wären seither nur Stunden vergangen und nicht Jahre, Jahre und Jahre.
Flori hatte manchmal den Hund ihrer Schwester dabei, einen Riesenschnauzer, auf den sie aufpasste, wenn Jette bei ihrem Freund schlief.
Dünn und mit langen Beinen, gackernd und sich gegenseitig erschreckend, waren Inger und Floriane mit dem Hund, an dessen Namen Merz sich nicht erinnerte, vor Moritz und ihm hergerannt. Der Weg durch die Brennnesselsäume war schmal, die Waden und Schienbeine der Mädchen färbten sich feuerrot, wenn sie keine Jeans, sondern Röcke oder Shorts anhatten, und der sich durch die Büsche und das Unterholz schlängelnde Pfad war so niedrig, dass sie sich immer wieder ducken mussten, weil ein dichtes grünes Dach aus Laub und Zweigen den Hohlweg überwölbte.
Der Hohlpfad, so nannten sie den Weg, der vom Waldrand durch die Brennnesselbänke zum Eingang in den wilden Garten führte.
Umgeben von manchmal bis in die Baumkronen hinaufwuchernden Hecken öffnete sich dort ein kleines Feld mit hohem Gras, und kaum dass die geheime Wiese in Sichtweite kam, rannte Jettes Hund los und folgten ihm die Mädchen, wie Fledermäuse huschten ihre Schatten über die Heckenwand. Sie kicherten und sangen, und manchmal knipste Moritz dann die Taschenlampe aus.
Sofort war alles stockfinster. Dann bellte der Riesenschnauzer mit dunkler Stimme, und Flori kreischte, und Inger, die noch gar nicht richtig Deutsch konnte, bettelte in ihrer fremden Sprache