Im Land des Feindes. Marthe Cohn

Im Land des Feindes - Marthe Cohn


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labil und alles andere als umgänglich. Sie und die kleine Ruth hatten einige Monate vor seiner Verhaftung bei Onkel Léon in Toulouse Unterschlupf gesucht. Max war vorerst in Paris geblieben, wo er seine Praxis, die zur gemeinsamen Wohnung gehörte, weiterführte. Doch die Concierge, mit der Fannie nicht gut ausgekommen war, rächte sich an ihr, indem sie Max bei der Polizei anzeigte. Sie behauptete, er sei Kommunist und halte in seiner Wohnung geheime Treffen ab.

      Max wurde in dem berüchtigten Lager Drancy außerhalb von Paris interniert, wo er bald darauf schwer erkrankte. Er war noch keine vierzig Jahre alt. Ein gutartiger Tumor in der Hirnanhangdrüse hatte einen akuten Glaukom-Anfall ausgelöst und darüber hinaus zu einer Akromegalie, einer Überproduktion von Wachstumshormonen, geführt. Er litt unter heftigen Kopfschmerzen und schweren Sehstörungen. Als er hohes Fieber bekam und sich kaum noch auf den Beinen halten konnte, verlegte man ihn ins Hôtel-Dieu, das älteste Krankenhaus von Paris, nicht weit von der Kathedrale Notre-Dame.

      Ich erinnere mich nicht mehr, wann Maman von Onkel Max’ Inhaftierung und seinem Krankenhausaufenthalt erfuhr. Auch weiß ich nicht mehr, ob wir im Familienkreis beratschlagten, was wir unternehmen könnten. Jedenfalls beschloss Maman Ende Januar 1942, mit dem Zug nach Paris zu fahren, um ihren Bruder zu besuchen. Ich weiß noch, dass ich mir schreckliche Sorgen um sie machte. Sie war ganz auf sich gestellt und sprach kaum ein Wort Französisch. Außerdem begab sie sich in große Gefahr. Die Gestapo würde Onkel Max’ persönlichen Kontakte sicher genau überwachen.

      Es vergingen einige Tage, ohne dass wir etwas von ihr hörten. Jacques, der fürchtete, ich könnte etwas Unüberlegtes tun, nahm mir das Versprechen ab, auf keinen Fall allein nach Paris zu fahren, um sie zu suchen.

      »Es ist niemandem geholfen, wenn du auch noch verhaftet wirst«, sagte er. »Hab doch einfach Geduld, Marthe.«

      Unser Warten hatte ein Ende, als wir eines Abends, kurz vor Beginn der neu eingeführten Sperrstunde, um den Esstisch saßen und plötzlich Maman zur Tür hereinspazierte, den Arm um Onkel Max gelegt. Wir sprangen auf, begrüßten sie überschwänglich und bestürmten sie mit Fragen.

      »Wir sind furchtbar erschöpft. Es war eine lange Fahrt«, sagte Maman. »Lasst uns erst mal etwas essen, dann erzähle ich euch alles.«

      Kaum saßen wir wieder am Tisch, berichtete sie von ihren Erlebnissen in Paris. »Ich bin direkt zum Hospital gegangen. Cécile hat mich bis zum Eingang gebracht. Sie lässt euch übrigens alle herzlich grüßen. Ich habe Max’ Zimmer gleich gefunden. Er lag im Bett und sah ganz elend aus. Als er auf die Toilette musste, habe ich ihm in seinen Bademantel geholfen und ihn auf den Flur hinausgeführt. Während ich auf ihn wartete, fiel mir auf, dass nirgendwo Wachen standen. Immerhin war Max ein politischer Gefangener. Aber anscheinend hielten sie ihn für zu schwach, um wegzulaufen. Als er aus der Toilette kam, habe ich ihn an der Hand genommen und gesagt: ›Komm mit, Max. Wir gehen.‹ Ich bin mit ihm durch einen langen Flur gegangen, eine Treppe hinunter und dann standen wir schon auf der Straße. Es war ihm peinlich, dass er nur einen Bademantel anhatte, aber ich habe ihm gesagt, er solle sich keine Gedanken machen.«

      Ehe wir ihr ins Wort fallen konnten, wedelte sie ungeduldig mit der Hand und fuhr fort: »Draußen auf der Straße habe ich gleich zwei von diesen neumodischen Fahrradtaxis mit Seitenwagen angehalten. Ich habe Max in das eine gesetzt und bin dann ins andere gestiegen. Wir sind direkt zu seiner Wohnung gefahren, wo er sich umzog und ich einen Koffer für ihn packte. Dann haben wir den nächsten Zug in Richtung Süden genommen.«

      Wir waren sprachlos. Wer hätte gedacht, dass unsere Mutter so tollkühn sein konnte? Wenn sie erwischt worden wäre, hätte man sie sofort verhaftet. An jenem Abend erkannte ich, dass in dieser sanftmütigen, zierlichen Person eine wahre Kämpferin steckte.

      Mir stiegen Tränen in die Augen, so stolz war ich auf sie. »Aber sag mal, Maman, wie hast du dich denn in Paris verständigt? Doch wohl nicht auf Deutsch.«

      »Nein, mein Schatz, auf Französisch«, erwiderte sie schmunzelnd.

      Als sie unsere verwirrten Mienen sah, sagte sie: »Tja, meine lieben Kinder, ich muss euch leider gestehen, dass ich durchaus Französisch spreche. Aber wenn ihr das gewusst hättet, hättet ihr bestimmt nicht eure kleinen Geheimnisse vor mir ausgeplaudert.«

      Wir starrten sie mit offenem Mund an.

      Einige Tage später räumte Cécile Max’ Pariser Wohnung aus, ohne dass die Concierge oder die Gestapo es mitbekamen. Sie nahm all seine persönlichen Sachen mit, denn sie wollte nicht, dass den Deutschen auch nur irgendetwas davon in die Hände fiel.

      Nachdem Max und meine Mutter sich ein paar Tage erholt hatten, begleitete Arnold sie zur Demarkationslinie. Dank der Familie Degout, die auch Fred, Oskar und Rosette bei ihrer Flucht geholfen hatte, überquerten sie sicher die Grenze. Arnold und Maman brachten Onkel Max zu Onkel Léon nach Toulouse, dann fuhren sie weiter nach Arles, wo sie Fred und Rosette in ihrem neuen Heim besuchten. Dort lernte Maman ihr erstes Enkelkind kennen: Maurice Jacques, der am 3. Februar 1942 zur Welt gekommen war.

      Drei Wochen später kehrten sie und Arnold mithilfe der Degouts auf demselben Weg zurück. Nachdem unsere tapfere Mutter ihre abenteuerliche Mission erfüllt hatte, sprach sie kaum noch darüber. Umso mehr schwärmte sie von ihrem kleinen Enkel. Sie tat nie wieder etwas so Wagemutiges.

      Das Weltgeschehen hielt uns weiter in Atem. Hitlers Panzerdivisionen standen vor den Toren Moskaus, Rommels Afrikakorps drang in Nordafrika immer weiter vor, und Malta wurde fast ununterbrochen bombardiert. Trotz der vereinten Kriegsanstrengungen der Alliierten und anfänglicher vernichtender Schläge gegen die italienische Flotte schien der Siegeszug des Faschismus unaufhaltsam zu sein. Meine Mutter, die Abend für Abend mit uns zusammen Radio hörte, war verzweifelt.

      »Wo soll das alles noch hinführen?«, jammerte sie. »Kann denn niemand diesem Hitler das Handwerk legen?«

      Auf Druck der Deutschen wurde Pétains Stellvertreter, Pierre Laval, zum Premierminister ernannt, der ganz offen mit dem Feind kollaborierte. Im Juni 1942 sagte er in einer Rundfunkansprache, dass er auf einen Sieg Deutschlands hoffe, da sich sonst der Bolschewismus in ganz Europa ausbreiten werde. Darüber hinaus erbot er sich, die Deutschen beim Aufspüren von Résistance-Kämpfern zu unterstützen.

      Während Jacques schreckliche Ängste um seine Eltern im fernen Saigon ausstand, begann sich auch bei uns in Poitiers die Lage dramatisch zuzuspitzen.

      Jeden Abend zwischen halb sieben und halb acht kam die SS zu uns nach Hause, um zu überprüfen, ob wir die Sperrstunde einhielten und die unzähligen anderen Vorschriften befolgten, mit denen sie uns gängelten – ein Vorgeschmack auf das Leben hinter Stacheldraht. Die Regeln änderten sich fast täglich und jede einzelne musste strikt befolgt werden. Zuwiderhandlungen führten zu sofortiger Festnahme und Inhaftierung. Wir hatten schon von ausländischen Juden gehört, die mitten in der Nacht abgeholt worden waren. Rabbi Bloch erzählte, er hätte einige von ihnen im Lager für ausländische Juden am Stadtrand entdeckt, aber die meisten wurden vermisst.

      An sieben Tagen in der Woche kamen immer dieselben SS-Männer in unser Haus, um uns auf ihrer Liste abzuhaken: Adjutant Wilhelm Hipp, zuständig für jüdische Angelegenheiten, sowie drei oder vier seiner bewaffneten Schergen. Unser Haus war nur eins von vielen, das sie aufsuchten. Hipp war ein kleiner, hässlicher Mann, der wie ein Troll aussah. Gegenüber seinen Kollegen bezeichnete er sich gern als »König der Juden«. Er war ein typischer Vertreter jenes Schlägertyps, der in den dreißiger Jahren die Ränge der NSDAP füllte. Es überraschte mich immer wieder, dass er überhaupt intelligent genug war, um einen vollständigen deutschen Satz von sich zu geben, geschweige denn einen französischen. Ich hatte nichts als Verachtung für ihn übrig, wenn er wie ein Pfau mit seinen doppelten SS-Streifen am Revers herumstolzierte.

      Zu diesem Zeitpunkt war unsere Familie schon ziemlich geschrumpft. Zuerst hatte uns Cécile verlassen, dann Fred und schließlich Arnold. Hipp hatte wohl schon lange den Verdacht, dass sich Bauern als Fluchthelfer betätigten, aber er konnte es nicht beweisen. Als Arnold auf Drängen meiner Mutter im Juni 1942 über die Grenze in den Süden entkam, ärgerte sich Hipp maßlos, durchsuchte mit hochrotem Gesicht unsere Wohnung und durchwühlte


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