Im Land des Feindes. Marthe Cohn
Marthe«, sagte sie. »Ich möchte, dass Sie sich um ihn kümmern. Sie sind die Einzige, die sich für diese Aufgabe eignet.«
»Selbstverständlich, Madame«, erwiderte ich ohne Zögern. »Was fehlt ihm denn?«
Sie seufzte, musterte mich einen Moment lang nachdenklich und antwortete: »Er ist ein deutscher Soldat.«
»Und? Was fehlt ihm?«, fragte ich noch einmal.
Mein Schützling war ein 1,90 Meter großer Wehrmachtssoldat namens Günther. Er hatte sich bei einem Militärtransport eine schlimme Kopfverletzung zugezogen. Als der Zug, der mit deutschen Panzern beladen war, durch eine niedrige Brücke hindurchgefahren war, hatte er versehentlich den Kopf aus der Dachluke seines Panzers gesteckt. Bei seiner Einlieferung war er halb bewusstlos. Ich sollte mich um ihn kümmern, bis er in die neurologische Abteilung eines deutschen Krankenhauses verlegt werden konnte. Da ich die Einzige war, die Deutsch sprach, hatte man mir diese Aufgabe übertragen.
Günther befand sich in einem bedauernswerten Zustand. Er hatte eine schwere Gehirnerschütterung erlitten und war zeitweise geistig verwirrt. Es kam vor, dass er mitten im Schlaf hochschreckte, aus dem Bett sprang und auf den Flur hinaustappte. Im Krankenhemd, das sein nacktes Hinterteil entblößte, marschierte er bis hinaus auf die Straße. Ich lief ihm dann jedes Mal hinterher, nahm ihn behutsam bei der Hand und führte ihn in sein Zimmer zurück. »Kommen Sie, Günther«, sagte ich dann sanft zu ihm. »Wir können Sie doch nicht so auf der Straße herumlaufen lassen.« Und jedes Mal sah er mich mit einem leicht dümmlichen Gesichtsausdruck an und ließ sich widerstandslos von mir zurückbringen. Es muss ein kurioser Anblick gewesen sein, wie ich in meiner weißen Schwesterntracht einen halb nackten Hünen mit verbundenem Kopf an der Hand führte.
Ich versuchte nicht darüber nachzudenken, wer er war und was er womöglich getan hatte. Es war nun einmal meine Aufgabe, mich um ihn zu kümmern. Ich hätte ihm nie irgendetwas zuleide getan. Stattdessen sorgte ich für ihn so gut ich konnte, bis er nach einigen Tagen in ein deutsches Krankenhaus verlegt wurde. Ich sah ihn nie wieder.
Im selben Jahr wurden die in Poitiers verbliebenen ausländischen Juden von den Deutschen zusammengetrieben und in ein nahe gelegenes Lager gebracht. Dabei kamen ihnen die gewissenhaft geführten Namenslisten, die wir ihnen ahnungslos geliefert hatten, sehr entgegen. Unser wunderbarer Rabbi Elie Bloch, der mit seiner Frau Georgette und seiner sechsjährigen Tochter Myriam von Metz nach Poitiers gezogen war, setzte sich unermüdlich für die Internierten ein. Er lag den deutschen Behörden so lange in den Ohren, bis sie schließlich erlaubten, dass die Kinder der Gefangenen bei einheimischen jüdischen Familien unterkamen und weiter die Schule besuchten, statt ihr junges Leben hinter Stacheldraht zu verbringen.
Da wir bei uns in der Rue Riffault ein freies Zimmer hatten, wurde uns ein vierzehnjähriger polnischer Junge namens Maurice Patawer zugewiesen. »Pavel« – wie er genannt wurde – war anfangs scheu und misstrauisch, aber wir taten unser Bestes, damit er sich bei uns wie zu Hause fühlte. Er und Jacquie standen sich besonders nah. Die Anwesenheit des schweigsamen Jungen mit den traurigen Augen erinnerte uns täglich an das unmenschliche Regime der Deutschen.
Überall in der Stadt versuchten die Menschen, den verhassten Besatzern das Leben so schwer wie möglich zu machen. Poitiers war eine Universitätsstadt. Viele Studenten lehnten den schändlichen Waffenstillstand ab und beteiligten sich an kleineren Widerstandsaktionen. Im Castille, dem örtlichen Kino, beispielsweise störten sie die Vorführung der deutschen Wochenschauen durch lautes Füßestampfen und Pfeifkonzerte. Oder sie vertieften sich demonstrativ in eine Zeitung. Das nahm jedoch ein jähes Ende, als ein Student verhaftet wurde. Deutsche Plakate wurden von den Wänden gerissen und auf Mauern, Türen und Bürgersteigen tauchte das mit Kreide oder Kohle gemalte Victory-Zeichen auf.
Auch unsere Familie leistete ihren Beitrag. Wie zuvor in Metz halfen wir jüdischen Familien, aus dem besetzten Teil Frankreichs zu fliehen. Wildfremde Menschen standen plötzlich auf der Türschwelle und baten um Hilfe. Wenn wir sie fragten, woher sie unsere Adresse hätten, gaben sie ausweichende Antworten. Allerdings konnten wir sie weder bei uns aufnehmen noch mit Lebensmitteln versorgen, da wir unter ständiger Beobachtung der Deutschen standen; es war einfach zu gefährlich. Sobald wir uns vergewissert hatten, dass unsere Besucher keine Spione oder deutschen Agenten waren, gaben wir ihnen die Adresse eines der an der Demarkationslinie gelegenen Bauernhöfe, von wo aus man sie sicher über die Grenze brachte. Auf diesem Weg war auch Fred und Oskar die Flucht gelungen.
Wir wussten nichts über diese durchreisenden Fremden. Nur selten erfuhren wir, wie sie sich bis nach Poitiers durchgeschlagen hatten. Manche schienen eine lange, beschwerliche Reise hinter sich zu haben. Die seelischen und körperlichen Strapazen waren ihnen deutlich anzusehen, besonders den Frauen. Aber der Krieg hatte uns gelehrt, dass es sicherer war, keine Fragen zu stellen. Viele unserer Besucher kamen aus dem Osten und waren äußerst wachsam und argwöhnisch. Sie wollten nichts weiter als eine Adresse, um so schnell wie möglich die Ligne de démarcation überqueren zu können und den Deutschen endgültig zu entkommen.
Die Bauern waren fabelhafte Menschen. Sie hatten über Monsieur Degout verbreiten lassen, dass sie bereit seien, den Flüchtlingen beim Grenzübertritt zu helfen. Trotz der großen Gefahr, der sie sich aussetzten, verlangten sie keinen Sou für ihre Dienste. Obwohl wir uns mit einigen von ihnen angefreundet hatten, kam uns damals nicht der Gedanke, diese Fluchtmöglichkeit auch für uns zu nutzen. Als meine Eltern zu Fred und Rosettes Hochzeit in den Süden fahren wollten, besorgte ich sogar bei der deutschen Kommandantur eine Reisegenehmigung für sie. Und da sie loyale französische Bürger waren, kehrten sie pflichtbewusst wieder nach Hause zurück.
Keiner von uns sah die verhängnisvolle Entwicklung voraus. Obwohl wir jeden Abend Radio hörten, waren wir völlig ahnungslos. Wir hatten Gerüchte über Arbeitslager gehört und über Dörfer in Polen und der Tschechoslowakei, deren gesamte Bevölkerung abgeschlachtet worden war, aber wir hielten das für Propaganda, weil wir uns einfach nicht vorstellen konnten, dass die Deutschen zu solchen Gräueltaten fähig waren. In Frankreich herrschte immer noch ein relativ entspanntes Klima, da die Deutschen so clever waren, uns in falscher Sicherheit zu wiegen. Sie ließen uns glauben, dass das Fehlverhalten einer Minderheit sie zwänge, zu immer drastischeren Maßnahmen zu greifen. Sie machten uns weis, dass wir alle im selben Boot säßen. Und eine Zeit lang funktionierte diese Strategie auch.
Die Nachrichten über den japanischen Angriff auf Pearl Harbor im Dezember 1941 gaben uns Auftrieb. So tragisch der Verlust von über dreitausend Menschenleben auch war, so bedeutete er das Ende des amerikanischen Isolationismus und den Kriegseintritt der Vereinigten Staaten. Für Jacques hatte dieses Ereignis allerdings eine völlig andere Bedeutung. Da die Japaner über Südostasien herfielen, Hongkong beanspruchten und Singapur und die malaiische Halbinsel bedrohten, machte er sich große Sorgen um seine in Saigon lebenden Eltern. In den folgenden Monaten schien der Vormarsch der Japaner unaufhaltsam zu sein. Sie nahmen die malaiische Halbinsel, Singapur und schließlich auch Saigon ein. Jacques, der keinerlei Möglichkeit hatte, Kontakt zu seinen Eltern aufzunehmen, lauschte voller Entsetzen den Berichten über die brutalen Eroberungszüge der Japaner.
Meine anfängliche Freude über den Angriff auf Pearl Harbor wurde deshalb bald getrübt durch die wachsende Angst um seine und schließlich auch um meine eigene Familie, denn die politischen Veränderungen in Frankreich nahmen bedrohliche Ausmaße an. Selbst meine Mutter, die Schlimmes befürchtete, ahnte nicht, welche Katastrophe sich anbahnte. Aber da sie sich noch gut an den letzten Krieg erinnerte, glaubte sie den wenigen Gerüchten, die uns zu Ohren kamen. Deshalb war sie es auch gewesen, die Fred dazu gedrängt hatte, zu fliehen. Sie war in ständiger Sorge um uns. Und ich versuchte immer wieder, sie zu beruhigen.
»Mach dir keine Gedanken, Maman. Wir sind hier sicher.« Aber die besorgniserregenden Ereignisse häuften sich. Schließlich wurde ihr jüngster Bruder Max in Paris verhaftet.
Max war Arzt und mit Fannie verheiratet, einer Cousine meines Vaters, die aus der Schweiz stammte. Sie hatten eine kleine Tochter namens Ruth. Max war viel jünger als meine Mutter. Als Kinder hatten Stéphanie und ich einmal die Sommerferien bei ihm in Lyon verbracht. Wir sahen in ihm eher einen älterer Bruder als einen Onkel und standen ihm wegen des geringen Altersunterschieds sehr nah. Max war sanftmütig, friedfertig und ein wenig