Im Land des Feindes. Marthe Cohn

Im Land des Feindes - Marthe Cohn


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      »Tante, Tante«, rief Jacquie. »Ich hab dir doch gesagt, dass ihnen nichts passiert.«

      Meine Mutter schob mich ein Stück von sich und sah mich erschrocken an. »Aber wo ist Cécile?«

      Ich wurde blass, denn mir wurde bewusst, dass ich überhaupt nicht mehr an meine Schwester gedacht hatte. Schnell erwiderte ich: »Ihr geht’s gut. Sie wollte direkt zum Laden gehen, um nachzusehen, ob alles in Ordnung ist.«

      »Gott sei gedankt!« Meine Mutter stieß einen Seufzer aus und knetete ihre Schürze, die vom Backen ganz mehlig war. Da Hélène und Rosy in der Schule auf der anderen Seite der Stadt waren, musste sie sich um sie zum Glück keine Gedanken machen.

      Sie lief auf meinen Vater zu und rief: »Fischel, was ein Segen! Unsere Kinder sind in Sicherheit.«

      Sobald es ging, verdrückte ich mich und eilte mit einem dicken Kloß im Hals den Hügel hinunter. Im Tal wimmelte es inzwischen von Helfern, die auf die Gleise kletterten, um sich um die Verletzten zu kümmern. Es sah aus wie auf einem Schlachtfeld. Hunderte von Menschen waren ums Leben gekommen. Frauen und Kinder lagen auf dem Bahndamm, blutüberströmt, mit ihren Lieben im Arm. Der Zug war vollkommen zerstört, aber das Feuer war jetzt unter Kontrolle. Auf der Suche nach Cécile sah ich in jedes einzelne Gesicht und betete, dass sie überlebt hatte. Madame Guillaumes Häuschen war unbeschädigt. Ihre Nachbarn hatten weniger Glück gehabt.

      Nachdem ich meine Schwester im Tal nicht finden konnte, rannte ich den Hügel wieder hinauf zum Laden. Vielleicht war sie ja dort, überlegte ich, vielleicht hatte sie gehofft, mich wohlbehalten hinter der Theke anzutreffen. Aber dort war auch keine Spur von ihr. Ich stand etwas unschlüssig herum und fragte mich, wie ich meiner Mutter beibringen sollte, dass ich Cécile nicht gefunden hatte.

      Ich hörte sie, bevor ich sie sah – ein leises Keuchen ein paar Schritte hinter mir. Ich fuhr herum und stand einer bleichen, verweinten Cécile gegenüber. »Marthe«, flüsterte sie, als ich in ihre ausgebreiteten Arme stürzte. Sie war unverletzt, hatte die Bombardierung im Schutz der Bäume in Madame Guillaumes Garten überlebt. Aber sie hatte große Angst um mich gehabt, und war, nachdem die Flugzeuge verschwunden waren, über die Gleise gerannt und hatte überall nach mir gesucht. Da sie mich nicht unter den Verletzten fand, klapperte sie sämtliche Krankenhäuser der Stadt ab, die Verwundete aufgenommen hatten. Nachdem ihre Suche erfolglos geblieben war, beschloss sie, es ein letztes Mal beim Laden zu versuchen, bevor sie den Heimweg antrat, um unseren Eltern die schlimme Nachricht zu überbringen.

      Weinend vor Erleichterung gingen wir Arm in Arm nach Hause, fassungslos über unser Glück, noch einmal davongekommen zu sein. Obwohl unser Leben durch die Auswirkungen des Kriegs auf den Kopf gestellt worden war, hatten wir ihn bisher nie am eigenen Leib erlebt. Nie mehr würde ich mir die Radioberichte über Luftangriffe in Europa anhören, ohne daran zu denken, was ich heute durchlitten hatte. Mit gerade mal 20 Jahren begriff ich, dass sich unser Leben unwiderruflich verändert hatte. Es gab keine Gewissheiten mehr.

      Wir waren bestürzt, als Onkel Léon ankündigte, dass er mit seiner Frau und seiner Tochter nach Toulouse ziehen wolle. Großmutter entschloss sich, ihren Sohn und seine Familie zu begleiten. »Hier wird es zu gefährlich«, warnte Léon meine Mutter. »Ihr solltet auch weggehen, bevor es zu spät ist.«

      Maman schüttelte den Kopf. »Wir sind zu viele, um wieder ganz von vorn anzufangen. Einmal reicht. Ich werde meinen Kindern das nicht wieder zumuten. Es wird schon alles gutgehen.« Und so verabschiedeten wir uns unter Tränen und mit Küssen von unserer Großmutter und wünschten allen viel Glück.

      »Bis bald«, sagte Léon betont munter und küsste meine Mutter auf beide Wangen.

      »Vielleicht«, erwiderte sie leise.

      Sie fuhren noch am selben Abend in Onkel Léons Auto los und schlossen sich Tausenden von Flüchtlingen an, die vor der immer weiter vorrückenden deutschen Armee in Richtung Süden flohen. Aber meine Großmutter und ihre Schwiegertochter Claire verstanden sich nicht und nach kaum zwei Wochen musste Cécile unsere Großmutter wieder abholen. Cécile blieb eine Woche bei Onkel Léon und seiner Familie in Toulouse, lernte deren neue Freunde kennen und genoss den Tapetenwechsel. Als sie mit unserer Großmutter zurückkam, wirkte sie irgendwie beschwingt.

      Einen Monat später, im Juni 1940, besetzten die Deutschen Frankreich. Die Maginot-Linie fiel und wir erhielten die Nachricht, dass Fred gefangen genommen worden war. Von Arnold hörten wir nichts; wir wussten nur, dass er in Tunesien stationiert war. Am 14. Juni erfuhren wir, dass die Wehrmacht Paris eingenommen hatte und die Champs-Élysées entlang marschierte. Ganz Frankreich stand unter Schock. Ich kochte vor Wut. Wenn ich mir vorstellte, dass jetzt die deutsche Hakenkreuzfahne vom Eiffelturm wehte, hätte ich platzen können. Meine Brüder hatten recht gehabt: Mit Hitler konnte man nicht verhandeln. Und jetzt versuchte Marschall Pétain einen Waffenstillstand mit ihm auszuhandeln. Ich war angewidert und fühlte mich betrogen.

      »Ich weiß nicht, was mit der Welt los ist«, klagte meine Mutter und schüttelte bekümmert den Kopf. Zum ersten Mal sah man ihr jedes ihrer 48 Jahre an.

      Die Stimmung meines Vaters hatte sich auch nach unserem Umzug in den Süden nicht gebessert und er und ich kreuzten immer noch regelmäßig die Klingen. Nur selten ließ er sich seine Besorgnis um unsere Familie anmerken, aber seine Laune wurde von Tag zu Tag schlechter.

      »Warum musst du deinen Vater nur immer so provozieren?«, rügte mich meine Mutter. »Es macht die Sache nicht leichter, wenn ihr euch gegenseitig an die Kehle geht.«

      Aber im Gegensatz zu meinen Schwestern, die ein gutes Verhältnis zu ihm hatten, reagierte ich nur allergisch auf ihn. Alles, angefangen bei der Art, wie er manchmal mit unserer Mutter sprach, bis zu seiner Schroffheit gegenüber Jacquie, brachte mich auf. Vor allem Jacquies Erziehung war ein Thema, bei dem wir regelmäßig aneinandergerieten. Ich konnte den Gedanken nicht ertragen, dass dieser arme kleine Junge ständig zurechtgewiesen wurde.

      »Lass endlich Jacquie zufrieden! Meinst du nicht, dass er schon genug mitgemacht hat?«, wetterte ich immer wieder.

      »Ich rede mit ihm und mit jedem anderen in diesem Haushalt, wie es mir passt«, erwiderte Papa scharf. »Ich wäre dir dankbar, wenn du mir in Zukunft keine Vorschriften mehr machen würdest. Jetzt geh auf dein Zimmer.«

      Wochen und Monate vergingen, ohne dass wir ein freundliches Wort miteinander wechselten. Ich vermied es, mit ihm zu sprechen, und er redete nur über Maman mit mir, wie beispielsweise beim Essen: »Sag Marthe, dass sie die Kartoffeln rüberreichen soll.« Wir waren beide stur wie Esel.

      Als sich unser Haus mit Uhren und Lampen füllte, die von meinem Vater bei Versteigerungen zum Mindestpreis erworben, repariert und restauriert, aber selten verkauft wurden, nervte mich das unablässige Ticken zunehmend. Außerdem wurde ich jede Nacht stündlich von ihrem Schlagen geweckt. Ich schämte mich für sein gebrochenes Französisch, seine derbe Sprache und seine mangelnde Bildung, und seine Launenhaftigkeit brachte mich zur Verzweiflung. Erst viele Jahre später begriff ich, wie schwer es für ihn in einer fremden Stadt, noch dazu in ständiger Sorge um uns, gewesen sein muss. Während uns die außergewöhnlichen Umstände zusammengeschweißt hatten, blieb er ein Außenseiter.

      Als die Deutschen im Juli 1940 in Poitiers einmarschierten, waren wir ein besiegtes Volk. In dem fragwürdigen Abkommen, das der servile Pétain mit den Deutschen geschlossen hatte, war unser Land in eine besetzte und eine unbesetzte Zone, die sogenannte Zone libre, aufgeteilt und der Regierungssitz nach Vichy verlegt worden. Aufgrund einer Laune der Geografie lag Poitiers in der besetzten Zone. Die Grenze zwischen Freiheit und Besatzung verlief weniger als vierzig Kilometer südlich von uns, dennoch dachte keiner von uns daran, sie zu überqueren. Wozu auch? Wohin sollten wir gehen? Wir waren bereits einmal umgezogen und es hatte uns viel Mühe gekostet, wieder Fuß zu fassen. In dem Jahr seit unserer Ankunft in Poitiers hatten wir ein neues Geschäft eröffnet, ein neues Zuhause gefunden und Freundschaften geschlossen. Niemand wusste, ob die Grenze – oder Ligne de démarcation – nach unserem Umzug nicht weiter nach Süden verlegt würde, und dann wäre alles umsonst gewesen. Pétain versprach seinem Volk, dass sich das Leben unter deutscher Besatzung nicht wesentlich verändern würde, und die meisten Menschen vertrauten


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