Im Land des Feindes. Marthe Cohn
den Ereignissen in der Kristallnacht beschloss unsere Familie, jüdischen Flüchtlingen aus Deutschland beizustehen. Auf Anregung unseres jungen Rabbi Elie Bloch erklärten sich viele Mitglieder der jüdischen Gemeinde bereit, ihren Beitrag zu leisten. Meine Mutter gehörte zu den aktivsten Helferinnen.
Wir fanden die Untätigkeit der französischen Regierung empörend und diskutierten oft darüber, welche Maßnahmen man gegen Deutschland ergreifen könnte.
»Die Franzosen haben genauso viel Schuld an dieser Katastrophe wie die Engländer«, schimpfte meine Mutter. »Sie lassen es zu, dass Hitler einfach irgendwo einmarschiert und sich nimmt, was er will. Offensichtlich hat niemand den Mumm, ihm die Stirn zu bieten.«
Wir nahmen mindestens zehn Familien, die aus Deutschland geflohen waren, vorübergehend bei uns auf. Was sie uns über ihr Leben unter nationalsozialistischer Herrschaft erzählten, war weit schlimmer als alles, was wir durch die Presse wussten. Man hatte ihnen nach und nach ihre Bürgerrechte entzogen, ihre Renten einbehalten, ihnen Schmuck, Aktien und Kunstgegenstände geraubt, ihnen verboten, Auto zu fahren, Radio zu hören oder sich nach Einbruch der Dunkelheit auf der Straße aufzuhalten. An den meisten Läden und Betrieben hingen Schilder mit der Aufschrift: JUDEN UNERWÜNSCHT. Auf Schritt und Tritt wurden sie beschimpft oder gar misshandelt.
Meine Mutter brachte die Flüchtlinge für ein paar Tage bei uns unter und versorgte sie, bis sie weiterreisen konnten. Stéphanie, Cécile und ich versuchten, sie ein wenig aufzuheitern, während mein Vater ihnen finanziell unter die Arme griff. Da man ihre Bankkonten gesperrt hatte, waren viele ohne einen Pfennig in der Tasche aufgebrochen und hatten nur das Notwendigste mitgenommen. Sie waren unterwegs zu Verwandten in Frankreich, den Niederlanden, Skandinavien, Amerika oder Palästina.
Das Schicksal dieser Menschen erschütterte mich tief, aber offen gestanden glaubte ich keinen Moment lang, dass uns einmal das Gleiche passieren könnte. Nicht in Frankreich.
»Das werden die Franzosen niemals zulassen«, beruhigte ich meine Mutter, die sich allmählich ernste Sorgen machte. Ich war überzeugt davon, dass man Hitler durch geschicktes Taktieren aufhalten könne. Als ich von Chamberlains Besuch bei Hitler erfuhr, jubelte ich. Hitler mochte verrückt sein, aber mit der richtigen Strategie würde man ihn schon zur Vernunft bringen. Ich war jung und idealistisch. Ich glaubte an das Gute im Menschen und vertraute darauf, dass es sich am Ende auch durchsetzen würde. Die Ereignisse des Jahres 1939 sollten mich allerdings eines Besseren belehren.
Doch zunächst geschah etwas, das mein Leben schlagartig verdüsterte. Am Tag vor Pessach starb mein geliebter Großvater. Sein Herz hörte einfach auf zu schlagen. Vielleicht hatte er den Wahnsinn in Europa nicht mehr länger ertragen. Er wurde 76 Jahre alt. An einem warmen Frühlingstag bestatteten wir ihn unter Tränen auf dem jüdischen Friedhof, dessen Errichtung zum Teil sein Verdienst war. Hunderte von Menschen schlossen sich dem Trauerzug an, der mitten durch Metz führte. Kinder sprachen uns an und erzählten, dass Großpapa ihnen immer etwas Süßes zugesteckt hatte. Bedürftige Familien berichteten, dass er ihnen regelmäßig zum Sabbat Kohle und Lebensmittel gebracht habe. Er hatte die schweren Säcke eigenhändig ins dritte oder vierte Stockwerk hinaufgeschleppt. Es überraschte und rührte uns, dass er so beliebt gewesen war. Großpapas Tod war ein großer Verlust für uns. Doch einige Jahre später waren wir unendlich dankbar dafür, dass er nicht mehr hatte erleben müssen, was in Frankreich geschah. Unser Großvater hatte, wenn auch nicht bewusst, einen würdevollen Tod den entwürdigenden Schikanen vorgezogen, die uns erwarteten.
Als im September desselben Jahres Deutschland und die Sowjetunion in Polen einmarschierten und Frankreich und Großbritannien ihnen den Krieg erklärten, wurde mir endgültig klar, wie naiv meine Hoffnung auf eine friedliche Lösung gewesen war. Meine Eltern ängstigten sich weit mehr als wir Kinder. Schließlich hatten sie schon einen Weltkrieg miterlebt. Als Vater dreier Kinder war Papa zwar vom Militärdienst freigestellt worden, aber natürlich hatte die Familie unter den Härten des Kriegs gelitten. Wenn Cécile und Fred nachts von den Bombardements der Alliierten geweckt wurden, lief Maman ins Kinderzimmer und sprach mit ihnen das Schma Israel. »Höre Israel, der Herr ist unser Gott, der Herr ist einzig!«, betete sie inbrünstig. Meine Geschwister beruhigten sich sofort und schliefen trotz des Lärms wieder ein.
In Frankreich erfolgte die allgemeine Mobilmachung. Fred, der in Nancy eingezogen wurde, kam direkt an die Maginot-Linie, ein schwer befestigter Verteidigungsgürtel entlang der Grenze zu Deutschland. Arnold leistete seinen Militärdienst in Tunesien ab und blieb dort bei seinem Regiment. Die ganze Familie, besonders meine Mutter, hatte große Angst um meine Brüder.
Nicht lange danach veröffentlichte die Stadtverwaltung eine amtliche Bekanntmachung: Alle Familien, die es sich leisten konnten, sollten die Stadt verlassen.
»Weggehen?«, rief mein Vater empört. »Wohin denn? Alles, was wir haben, ist hier in Metz. Hier haben wir uns eine Existenz aufgebaut.« Er hatte seinen Fotoladen und Cécile ihren Hutsalon; unsere jüngeren Schwestern besuchten noch die Schule. Und was sollte mit unserer Großmutter geschehen? Und mit Großpapas kostbarer Bibliothek?
»Für Ihre Familie ist Poitiers vorgesehen«, sagte uns der gestresste Beamte der Stadtverwaltung. »Es ist ja nur eine vorübergehende Vorsichtsmaßnahme, bis sich alles wieder beruhigt hat. Betrachten Sie es als einen Kurzurlaub. Versuchen Sie, bei Verwandten oder Freunden unterzukommen. Nehmen Sie nur mit, was Sie unbedingt benötigen. Aber verlieren Sie keine Zeit.«
Benoît, der jüngste Bruder meines Vaters, wohnte in Poitiers, etwa siebenhundert Kilometer von der deutschen Grenze entfernt. Das schien am anderen Ende der Welt zu sein. Deshalb gingen alle davon aus, dass die Stadt vom Krieg verschont bliebe. Da die Argumente der Behörden nicht von der Hand zu weisen waren, beschlossen wir nach einer kurzen Beratung mit Freunden und Verwandten, so bald wie möglich aufzubrechen.
»Seht es als verspäteten Sommerurlaub an«, versuchte meine Mutter uns aufzumuntern, als es am nächsten Morgen ans Packen ging. »Ehe ihr euch verseht, sind wir wieder zu Hause.«
Ich war mittlerweile 19 Jahre alt und sah unserer Abreise mit gemischten Gefühlen entgegen. Während ich meine persönlichen Sachen in einem kleinen Koffer verstaute, gingen mir tausend Gedanken durch den Kopf. Metz war mein Zuhause. Hier hatte ich meine Freundinnen und meine Arbeit. Andererseits könnte ein neues Leben in einer fremden Stadt ein großes Abenteuer sein, auch wenn mich die ungewisse Zukunft ein wenig ängstigte. Aber was würde Cécile machen, die sich mit ihrem Hutsalon einen treuen Kundenstamm aufgebaut hatte? Und Stéphanie, die unbedingt Ärztin werden wollte? Und würden Hélène und Rosy, die hervorragende Schülerinnen waren, die Schule abschließen können?
Als ich aufblickte, sah ich Jacquie mit schreckgeweiteten Augen im Türrahmen stehen.
»Kommen jetzt die Deutschen?«, fragte er und steckte schnell wieder den tröstenden Daumen in den Mund. Dieser unschuldige kleine Junge, der miterlebt hatte, wie verrohte Gestapo-Beamte in sein Zuhause eingedrungen waren und alles kurz und klein geschlagen hatten, und der brutal dem Schoß seiner Familie entrissen worden war, musste furchtbare Angst haben.
Ich tadelte mich innerlich für meinen Egoismus, lief zu ihm und drückte ihn fest an mich. »Nein, Jacquie«, sagte ich und strich ihm über sein flaumiges braunes Haar. »Die Deutschen werden nicht in Frankreich einmarschieren. Niemals. Das versprech ich dir.«
Eine fremde Welt
Poitiers war für uns eine fremde Welt. Oberhalb des Zusammenflusses zweier Flüsse auf einem Hügel gelegen, umgeben von den Dörfern im Tal, war Poitiers, verglichen mit dem geschäftigen, kosmopolitischen Metz, eher ländlich und verschlafen. Anders als noch vor ein paar Jahren, als Scharen von Juden aus dem Osten hierherkamen, lebten jetzt nur noch drei oder vier jüdische Familien in dieser überwiegend katholischen Gegend. Ich hatte den Eindruck, dass die Leute nicht mal wussten, wie ein Jude aussah, und überrascht feststellten, dass wir weder Hörner noch Schwänze hatten. Sie waren warmherzig und freundlich und gaben uns das Gefühl, willkommen zu sein. Schließlich waren wir Landsleute und fürchteten wie sie den gemeinsamen Feind.
Mit unseren wenigen Habseligkeiten kamen wir zunächst bei Onkel Benoît und seiner schwangeren Frau Fannie in ihrer kleinen Wohnung am Place de la Liberté im Zentrum