Im Land des Feindes. Marthe Cohn
damit ich wieder Farbe ins Gesicht bekam. »Das war das letzte Mal, dass du Marthe so getriezt hast«, ermahnte sie ihn. Er tat es nie wieder.
Papa war ein schwieriger, grüblerischer Mann, der ein Leben lang unter seiner unglücklichen Kindheit litt. Kein Wunder, dass er sich mit seiner Vaterrolle schwertat. Seine Mutter starb, als er drei Jahre alt war. Nachdem sein Vater wieder geheiratet hatte, wurden er und sein kleiner Bruder Benoît – das jüngste der fünf Kinder und noch ein Säugling – ins Waisenhaus gesteckt, wo er nur eine rudimentäre Schulbildung erhielt. Der Kontakt zu seinem gewalttätigen Vater beschränkte sich auf wenige unschöne Begegnungen. Seine Stiefmutter brachte zwei Söhne mit in die Ehe, die mit seinen älteren Geschwistern im gemeinsamen Haushalt leben durften. Dass man ihn und Benoît einfach abgeschoben hatte, war eine Kränkung, über die er nie hinwegkam.
Meine Eltern lernten sich durch ihre Geschwister kennen. Ein Bruder meiner Mutter heiratete eine von Vaters Schwestern. Papa verliebte sich sofort in die hübsche, zierliche Blondine. Aber auch meine Mutter war von dem gut aussehenden, schüchternen jungen Mann sehr angetan. Als einziges Mädchen unter sieben Brüdern war sie es gewohnt, verhätschelt zu werden, doch die zarten Gefühle meines Vaters waren etwas gänzlich anderes. Ihr Vater war strikt gegen diese Verbindung. Er hielt Mutters Freund für viel zu ungebildet.
»Ich kann meine einzige Tochter unmöglich einem derart unkultivierten Menschen anvertrauen. Da kann ich sie auch gleich einem Affen in die Arme werfen«, sagte er. Mein Vater, dem diese Bemerkung zu Ohren kam, verzieh ihm sein Leben lang nicht.
Großpapa hatte recht mit seinen Vorbehalten. Meine Eltern passten überhaupt nicht zusammen. Nach Freds Geburt brachte meine Mutter noch einen Jungen zur Welt. Er hieß Eugène. Dann folgte das erste Mädchen, Cécile. Als Eugène mit zwei Jahren an Scharlach starb, wäre ihre Ehe an dem schmerzhaften Verlust fast zerbrochen. Maman verlangte die Scheidung und zog mit den beiden Kindern zu ihren Eltern. Aber Papa beschwor sie, wieder zurückzukommen, und versprach ihr, in Zukunft ein besserer Ehemann zu sein. »Außerdem hast du kein Recht, mir meine Kinder wegzunehmen«, erklärte er ihr. Dem konnte sie nichts entgegensetzen. Mehr um Freds und Céciles als um ihrer selbst willen kehrte sie zu meinem Vater zurück und gebar ihm fünf weitere Kinder.
Aber wir verlebten auch heitere, unbeschwerte Stunden mit Papa. Er dachte sich spannende Geschichten aus und spielte mit uns. Wir schwammen zusammen in der Mosel oder unternahmen lange Spaziergänge. Doch obwohl er uns sehr liebte, konnte er keine wirkliche Nähe zu uns herstellen. Er war schrecklich eifersüchtig auf Maman, zu der wir eine innige Beziehung hatten. Allerdings erinnere ich mich noch, wie ich als kleines Mädchen wegen einer Blinddarmentzündung ins Krankenhaus musste und mein Vater in Tränen ausbrach, als man mich in den Operationssaal schob. Ich war so gerührt von diesem Gefühlsausbruch, dass ich meine eigenen Ängste ganz vergaß. Doch meist erlebten wir unseren Vater als mürrischen, launischen Mann, der grundlos losbrüllte und uns wie ein preußischer General herumkommandierte.
Sobald er das Haus verließ, änderte sich schlagartig die Atmosphäre. Wir Kinder plapperten munter drauflos und alberten herum. Meine Mutter entspannte sich spürbar und war sehr nachsichtig mit uns. Selbst wenn wir durch die Wohnung tobten oder uns manchmal lautstark zankten – »wie die Zigeuner«, pflegte sie dann zu sagen –, ließ sie uns meist gewähren.
Beim gemeinsamen Abendessen mit unserem Vater hatten wir uns allerdings zu benehmen. Dann wagten wir es nur, den Mund aufzumachen, wenn er guter Laune war. Wir alle fürchteten die Momente, in denen er uns oder Maman grundlos anherrschte. Denn sobald er sich in Rage geredet hatte, war er nicht mehr zu bremsen. Da er nicht sehr wortgewandt war, warf er mit immer derberen Ausdrücken um sich. Wir durften nicht eher den Tisch verlassen, bis er seine Tirade beendet hatte. Manchmal sprang er auf und stieß zwischen den Zähnen hervor: »Am liebsten würde ich euch windelweich prügeln. Aber dann wäre ich kein bisschen besser als mein Vater.« Und im nächsten Moment rauschte er aus dem Zimmer.
Als Kind hatte ich keinerlei Verständnis für die Launenhaftigkeit meines Vaters. Es machte mich wütend, dass er mit seinen Ausbrüchen unser Familienleben vergiftete. Als ich mich einmal bei meiner Mutter über ihn beklagte, seufzte sie und sagte: »Es könnte schlimmer sein. Immerhin spielt er nicht, trinkt nicht und bändelt nicht mit anderen Frauen an.«
»Schade«, erwiderte ich, worauf sie mich entsetzt ansah. »Wenn er sich eine Geliebte nehmen würde, hätten wir wenigstens unsere Ruhe.«
Trotz meines Grolls gegen ihn tat er mir auch leid. Es schien, als hätte er keinerlei Kontrolle über sein Verhalten, als handele er unter einem inneren Zwang. Nur selten kam hinter der schroffen Fassade seine empfindsame Seite zum Vorschein. Er stand immer etwas im Abseits, während wir mit unserer Mutter zu einer festen Einheit verschmolzen waren.
Beruflich war er recht erfolgreich. Er besaß einen kleinen Fotoladen, der auf Vergrößerungen und Einrahmungen spezialisiert war: Agrandissements Photographiques Encadrements. So konnten wir uns eine großzügige Sechs-Zimmer-Wohnung im zweiten Stock eines Hauses in der Rue du Maréchal-Pétain leisten, ein gutes Stück vom ehemaligen jüdischen Getto entfernt. Als meine jüngeren Schwestern alt genug für die Schule waren, ging meine Mutter ihm im Laden zur Hand. Aber im Grunde half sie ihm, die täglichen Anforderungen des Lebens zu meistern. Mit unendlicher Geduld und eisernem Willen gelang es ihr, unser Zuhause in einen heiteren Ort zu verwandeln.
Wir hatten ein Dienstmädchen namens Sophie, das bei uns wohnte und mit uns Kindern in der Küche zu Mittag aß. Für uns war sie weniger eine Angestellte als eine große Schwester. Als sie nach zehn Jahren unsere Familie verließ, um zu heiraten, brachte mich das so aus dem Gleichgewicht, dass ich krank wurde. Einmal die Woche polierte Sophie sämtliche Holzböden, sodass die ganze Wohnung nach Bohnerwachs roch. Dieser Geruch ruft bis heute noch lebendige Erinnerungen an meine Kindheit in mir wach.
Wir waren eine sehr religiöse Familie und befolgten alle rituellen Vorschriften, auch wenn mein Vater bestimmt nicht so gläubig war wie meine Mutter. Freitagabends entzündete sie die Kerzen, mein Vater und meine Brüder setzten ihre Kippas auf und sprachen die Gebete. Maman führte einen streng koscheren Haushalt. Wir hatten getrenntes Geschirr für Fleisch- und Milchprodukte und bei keiner Mahlzeit kam beides zugleich auf den Tisch. Meine Mutter war eine hervorragende Köchin und verstand es, jüdische Spezialitäten mit französischen und deutschen Speisen zu kombinieren. So gab es Karpfen oder gehackte Leber, Suppe, Huhn, Kalbs- oder Rinderbraten, Salat, frisches Gemüse und zum Nachtisch Obst. Freitags und an Feiertagen war die Wohnung vom Duft der frisch gebackenen Challa, der Kuchen und Aufläufe erfüllt. Vor dem Essen wurden über die Challa und den Wein hebräische Segenssprüche gesagt. Und nach dem Essen folgte ein Dankesgebet. Wir beteten auch abends vor dem Einschlafen und morgens nach dem Aufwachen. Meine Mutter und Cécile, die wunderbare Stimmen hatten, sangen nach dem Abendessen alte jiddische Lieder. Wir jüngeren Kinder sangen mit, ohne den Text zu verstehen. Wenn unser Vater lauthals mit einstimmte, verzogen wir das Gesicht, denn er sang noch falscher als wir.
Meine Eltern legten größten Wert darauf, dass wir eine möglichst umfassende, liberale Schulbildung genossen. Deshalb schickten sie uns auf staatliche Schulen, wo wir mit katholischen und protestantischen Kindern in Kontakt kamen. Meine Schwestern und ich besuchten ein Mädchengymnasium. Nachdem wir anfangs zu Hause bei einem Privatlehrer und später im Cheder Hebräisch lesen gelernt hatten, erteilte uns am Gymnasium Oberrabbiner Nathan Netter Religionsunterricht. Obwohl im übrigen Frankreich eine strikte Trennung zwischen Staat und Kirche herrschte, waren die strenggläubigen Elsässer und Lothringer seit 1918 von dieser Regelung ausgenommen. Jedes Schulkind hatte Anspruch auf Religionsunterricht bei einem Vertreter seiner Glaubensgemeinschaft.
Jeden Samstag gingen wir fein herausgeputzt in die Synagoge, die sich im ärmsten Viertel von Metz befand. Als ich ungefähr fünf Jahre alt war, lauerte uns nach dem Gottesdienst eine Horde zerlumpter Jungen vor der Synagoge auf.
»Dreckige Juden«, rief einer von ihnen und spuckte uns vor die Füße. Die anderen warfen mit Steinen nach uns. Einer traf mich am Schienbein, was höllisch wehtat. Als mein Vater die Jungen böse anfunkelte, traten sie den Rückzug an, blieben aber in sicherer Entfernung stehen und beschimpften uns weiter.
Bestürzt sah ich meinen Vater an, der meinen Blick stumm erwiderte. Ich konnte