Im Land des Feindes. Marthe Cohn
etwas zu unternehmen. Ohne den Blick von mir abzuwenden, zog er langsam seinen schweren Ledergürtel aus der Hose. Dann drehte er sich um und stürmte mit dem Gürtel in der erhobenen Hand auf die Jungen zu.
»Wer von euch hat uns dreckige Juden genannt?«, brüllte er und ließ den Gürtel durch die Luft sausen. Mit offenem Mund sah ich zu, wie er die Straße entlangrannte, während Fred und Arnold mich hinter sich herzogen. Ich glaube, ich habe meinen Vater nie mehr geliebt als in jenem Moment.
Zum ersten Mal hatte ich am eigenen Leib erfahren, was es hieß, im Vorkriegseuropa Jüdin zu sein; und es sollte nicht das letzte Mal sein. Ein paar Jahre später schickte mich meine Mutter mit einem Einkaufsnetz zum Laden um die Ecke, um ein Dutzend Eier zu besorgen. Auf dem Heimweg versperrte mir ein Nachbarsmädchen, das ich vom Sehen kannte, den Weg.
»Du dreckige Jüdin«, sagte sie und stemmte die Hände in die Hüften.
»Ich bin nicht dreckig!«, rief ich empört.
»Doch, bist du. Dreckig! Dreckig! Eine dreckige Jüdin!«, höhnte sie.
Ohne nachzudenken holte ich aus und schleuderte ihr das Netz mit den Eiern an den Kopf. Eiweiß und Dotter liefen ihr über die Stirn und tropften auf ihr Kleid. Ich rannte nach Hause zu meiner Mutter, die mit mehlbestäubten Händen in der Küche stand. Ich erzählte ihr haarklein, was geschehen war.
Meine Mutter bückte sich und drückte mich fest an sich. Lächelnd strich sie mir eine Strähne aus der Stirn. »Du hast dich völlig richtig verhalten, Marthe«, sagte sie. »Lass es dir nicht gefallen, wenn jemand solche schlimmen Dinge zu dir sagt.«
Trotz einiger ähnlich unangenehmer Erlebnisse und der angespannten Atmosphäre, die mein Vater häufig zu Hause verbreitete, habe ich meine Kindheit überwiegend in positiver Erinnerung. Meine fröhlichen, liebevollen Geschwister und meine rührige Mutter, die uns dazu ermunterte, unseren Horizont zu erweitern und über uns hinauszuwachsen, machten das alles wett. »Jeder von euch kann etwas bewirken«, sagte sie zu uns. »Bleibt euch selbst treu und lasst euch von niemandem unterkriegen.«
Die Idole meiner Kindheit waren Maurice Bellonte und Dieudonné Costes, die beiden französischen Flieger, die 1930 einen Transatlantikflug von Paris nach New York unternahmen. Als ich von ihren Großtaten las, wünschte ich mir nichts sehnlicher, als eines Tages Pilotin zu werden. Seit ich als kleines Mädchen zum ersten Mal ein Flugzeug über Metz gesehen hatte, träumte ich davon. Deshalb konnte ich mein Glück kaum fassen, als ich erfuhr, dass unsere beiden Nationalhelden bei ihrem Triumphzug durch Frankreich nicht nur durch Metz kommen, sondern direkt an unserem Haus vorbeifahren würden. Die Aussicht, die beiden lebenden Legenden von unserem Balkon aus bestaunen zu können, versetzte mich in einen wahren Freudentaumel. Und so drängten sich am großen Tag die Schaulustigen am Straßenrand und schwenkten französische Fähnchen, während wir Kinder mit Maman auf dem Balkon standen und den beiden Flugpionieren aus vollem Hals zujubelten. Das war das erste Mal, dass ich mich in der Öffentlichkeit so lautstark gebärden durfte. Danach brachte ich vor Heiserkeit kaum einen Ton heraus.
»Wenn ich groß bin, werde ich Pilotin«, krächzte ich, als mich Maman abends ins Bett brachte.
»Ja, mein Schatz«, erwiderte sie lächelnd und küsste mich auf die Stirn. »Ganz bestimmt.«
Etwa zur selben Zeit wurde die neu erbaute katholische Kapelle Sainte-Thérèse eingeweiht. Eine Klassenkameradin lud mich zu der feierlichen Zeremonie ein, und da meine Eltern nichts dagegen hatten, ging ich mit. Allerdings hielt ich mich im Hintergrund. Es behagte mir nicht, mich zu meiner Freundin und ihrer Familie in eine Kirchenbank zu setzen; ich wollte zuschauen, nicht teilnehmen. Ich war beeindruckt von dem Prunk, dem Weihrauch, der Musik, den Chorknaben und den prächtigen Gewändern des Bischofs und der Priester. Der präzise Ablauf des Hochamts, bei dem alle einer perfekt einstudierten Choreografie folgten, faszinierte mich.
Danach war ich noch einmal zur Glockenweihe dort – eine ebenfalls sehr feierliche Zeremonie – und zur Erstkommunion einiger Freundinnen. Schon von Kindesbeinen an interessierte ich mich für andere Religionen. Manchmal begleiteten wir unser Dienstmädchen Sophie in den evangelischen Gottesdienst. Meine Eltern hatten nicht die geringsten Befürchtungen, dass unser jüdischer Glauben darunter leiden könnte. Obwohl mich die katholischen Messen in Sainte-Thérèse sehr beeindruckten, änderte dies nichts an meiner religiösen Überzeugung.
Ich hatte einen großen Freundeskreis, hauptsächlich Schulkameradinnen, aber der Mittelpunkt meines Lebens war meine Familie, mit der ich am meisten Zeit verbrachte. Stéphanie und Cécile standen mir am nächsten. Wir waren praktisch unzertrennlich: Wir schliefen im selben Zimmer, gingen zusammen zur Schule, nahmen gemeinsam unsere Mahlzeiten ein und spielten miteinander. Wenn wir am Wochenende oder in den Ferien ins Kino oder Theater gehen wollten, war uns dies nur tagsüber und in Begleitung eines unserer Brüder erlaubt. Aber vorher mussten wir irgendwelche häuslichen Pflichten übernehmen, beispielsweise unser Zimmer aufräumen und unserer Mutter zur Hand gehen. Manchmal nahmen diese Arbeiten so viel Zeit in Anspruch, dass wir nicht rechtzeitig vor Einbruch der Dunkelheit fertig wurden – ein Umstand, den mein Vater natürlich bewusst einkalkuliert hatte.
Immer häufiger begann ich mich gegen Papas despotisches Gebaren aufzulehnen, was zu erbitterten Auseinandersetzungen führte.
»Wenn du so weitermachst, steck ich dich in eine Besserungsanstalt. Da werden sie dir schon Gehorsam beibringen!«, rief er manchmal entnervt.
Cécile begehrte nie auf und bekam deshalb meist ihren Willen. Stéphanie war viel zu friedfertig, um sich mit jemandem anzulegen. Sie nahm die häuslichen Verhältnisse widerspruchslos hin. Meine jüngeren Geschwister hielten es ebenso. Nur Rosy, die ziemlich naseweis war, schaffte es stets, ihren Kopf durchzusetzen.
Meine Mutter redete immer wieder beschwichtigend auf mich ein.
»Such doch nicht ständig Streit mit ihm«, sagte sie dann. »Nimm dir ein Beispiel an Cécile und halte dich etwas zurück.« Aber das konnte ich nicht. Je älter ich wurde, desto mehr wurmte es mich, dass Papa uns mit seiner schlechten Laune terrorisierte. Ich traute mich kaum, nach der Schule eine Freundin mit nach Hause zu bringen, denn man wusste nie, in welcher Stimmung man ihn antreffen würde. Maman nahm jeden Gast herzlich auf, aber Papa verschreckte meine Freundinnen mit seiner Schroffheit so sehr, dass sie nicht mehr wiederkamen.
Meine beste Freundin hieß Sophie Weyne und war die Tochter einer guten Bekannten meiner Mutter. Sie war blond und sehr hübsch. Obwohl wir weder in derselben Gegend wohnten, noch dieselbe Schule besuchten, trafen wir uns regelmäßig. Wir waren ein Herz und eine Seele. Wenn ich nicht wegdurfte, kam Sophie zu uns – trotz der Anwesenheit meines miesepetrigen Vaters. Manchmal brachte sie auch ihre ältere Schwester Regine mit. Dann saßen wir mit Cécile und Stéphanie um den Esstisch und unterhielten uns stundenlang über Filme, Bücher und manchmal auch Jungen.
Damals gab es nur einen Jungen, der sich für mich interessierte, und der wurde mir bald ziemlich lästig. Er hieß Grandidier, war groß und schlaksig und in meinen Augen ein ungehobelter Gassenjunge. Ich weiß nicht, was er an mir fand, aber er war anscheinend total vernarrt in mich. Zwei Jahre lang folgte er mir wie ein Hündchen. Er postierte sich vor unserem Haus und starrte stundenlang zu unseren Fenstern hinauf. Wenn ich allein oder mit Stéphanie herauskam, um zur Schule, zur Synagoge oder einkaufen zu gehen, heftete er sich an unsere Fersen. Wir rannten dann so schnell wir konnten, um ihn abzuhängen. Als Cécile und ich einmal einen Jahrmarkt besuchten und vor dem Karussell anstanden, tauchte er plötzlich neben uns auf und wollte uns zu einer Fahrt einladen. Zu allem Überfluss versuchte er, mich auch noch zu einer Verabredung zu überreden.
»Na, komm schon«, drängte er mich. »Wir könnten doch wenigstens mal nachmittags zusammen spaziergehen. Das ist doch nicht zu viel verlangt, oder?«
Ich schüttelte den Kopf und sagte, dass er mir auf die Nerven gehe und mich gefälligst in Ruhe lassen solle.
Dann schickte er mir aus heiterem Himmel eine Karte – die erste private Post, die ich je bekommen hatte. Ich war entsetzt. Mein Vater, der jeden Morgen den Briefkasten leerte, zitierte mich in sein Arbeitszimmer und stellte mich zur Rede.
»Du bist viel zu jung für einen Freund«,