Im Land des Feindes. Marthe Cohn

Im Land des Feindes - Marthe Cohn


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Papa, ich habe kaum ein Wort mit ihm gewechselt«, protestierte ich. »Ich habe mich kein einziges Mal mit ihm getroffen.« Glücklicherweise glaubte er mir. Aber der hartnäckige Grandidier sollte mir noch eine ganze Weile nicht von der Pelle gehen.

      Ich interessierte mich nach wie vor mehr für Bücher als für Jungen. Von Kindheit an war Lesen in unserer lebhaften Familie meine Zuflucht gewesen. Mein Großvater hatte die Liebe zu Büchern in mir geweckt. Meine Mutter, die sehr belesen war, hatte er ebenso stark inspiriert wie mich. Auch Fred war ein Büchernarr. Ich genoss es, bäuchlings auf der Bank im großen Erkerfenster unseres Wohnzimmers zu liegen und mich in ein Buch zu vertiefen. Hinter dicken Vorhängen verborgen, ignorierte ich die Ermahnungen meiner Eltern, die mich zu irgendwelchen Hausarbeiten riefen, und verschlang stattdessen Ivanhoe, Robinson Crusoe, Robin Hood oder Der Schweizerische Robinson. Mich faszinierten Walter Scotts historische Romane, die Theaterstücke von Molière, Racine und Corneille und die Gedichte Mussets, Vignys und Baudelaires.

      Da ich mehr Zeit mit Lesen als mit Lernen verbrachte, war ich eine schlechte Schülerin, was mir immer wieder Tadel von meinen Lehrerinnen einbrachte: »Deine Schwestern sind Musterschülerinnen, vor allem Stéphanie. Warum nimmst du dir kein Beispiel an ihr?«

      Was Bildung angeht, übte mein Großvater den größten Einfluss auf mich aus. Ab meinem 14. oder 15. Lebensjahr übernachteten Cécile und ich regelmäßig bei meinen Großeltern, um ihnen Gesellschaft zu leisten. Wir gingen dann nach dem Abendessen zu ihrer Wohnung, die nur ein paar Straßen entfernt lag.

      So sehr wir uns auf Großpapa freuten, so wenig erpicht waren wir auf Großmamas Gesellschaft. Sie war eine schwierige Frau mit blitzenden blauen Augen, einem scharfen Verstand und einer spitzen Zunge. Sie hatte ihre sieben Söhne stets meiner Mutter, ihrer einzigen Tochter, vorgezogen. Und als wir auf der Welt waren, mussten wir hinter den Kindern unserer Onkel zurückstehen. Während sie beispielsweise meinen Cousins und Cousinen großzügige Geschenke machte, gingen wir leer aus. Sie behandelte meine Mutter wie ihr Dienstmädchen und trieb meinen Großvater mit ihren ständigen Nörgeleien zur Verzweiflung. Trotzdem trug er sie auf Händen. Wenn sie ihm allerdings zu sehr zusetzte, sagte er seufzend: »Das kommt davon, wenn man eine schöne Frau heiratet.« Als ich diesen Satz zum ersten Mal hörte, war das eine Offenbarung für mich. Ich hätte nie gedacht, dass mein frommer Großvater für weibliche Reize empfänglich war. Da begriff ich, dass nicht nur junge Leute ihren Leidenschaften erliegen können.

      Jeden Morgen um vier stand mein Großvater auf, um zu beten und die hebräischen Schriften zu studieren, von denen er eine äußerst kostbare Sammlung besaß. Er führte eine rege Korrespondenz mit Gelehrten aus aller Welt und verbrachte den Großteil seiner Zeit mit der Auslegung hebräischer Texte und dem Verfassen von Gedichten und Briefen. Großpapa nahm eine führende Stellung innerhalb der jüdischen Gemeinde von Metz ein. Er hatte nicht nur die orthodoxe Synagoge gegründet, sondern auch alle anderen traditionellen jüdischen Einrichtungen wie die Mikwe, das Ritualbad, und den Cheder, die hebräische Schule. Darüber hinaus hatte er an der Errichtung des jüdischen Friedhofs mitgewirkt und veranlasst, dass die Gebeine jüdischer Bürger von einem katholischen Friedhof in einer lothringischen Nachbargemeinde dorthin umgebettet wurden.

      Gegen sieben Uhr verließ er sein Arbeitszimmer, um die frisch gebackenen Bagels zu holen, die direkt vor die Haustür geliefert wurden. Dann bereitete er für mich und Cécile das Frühstück. Jedes Mal erlebten wir aufs Neue, wie sich der große Gelehrte in einen fürsorglichen Großvater verwandelte. Cécile und ich setzten uns fröhlich an den Küchentisch, auf den er eine weiße Leinentischdecke gebreitet und feine Porzellantassen gestellt hatte. Während des Frühstücks bombardierten wir ihn mit Fragen, meist über Politik oder über griechisch-römische Geschichte, die sein Steckenpferd war.

      Es ist dem Beispiel meines Großvaters, meiner Mutter und meines Bruders Fred zu verdanken, dass ich mich schon früh für das aktuelle politische Geschehen interessierte. Von meinem sechsten Lebensjahr an las ich täglich die Morgenzeitung. Aber auch Großpapas fesselnde Erzählungen über die griechisch-römische Kultur, in die er Geschichten über unsere israelitischen Vorfahren einflocht, weckten einen großen Wissensdurst in mir. Ich verschlang Bücher über Könige, Kaiser, Prinzen und wunderschöne Königinnen und ihre schicksalhaften Beziehungen zu Göttern und Halbgöttern, die – im Gegensatz zu dem Gott, den wir verehrten – ebenso niederträchtig handelten wie Menschen. Als junges Mädchen las ich immer wieder die Werke Homers und Bücher über römische Geschichte, natürlich in französischer Übersetzung. Ich tauchte in eine Welt ein, in der sich historische Fakten mit Mythen und Legenden vermischten, und erlebte hautnah die fantastischen Abenteuer göttlicher, halbgöttlicher und sterblicher Helden mit.

      Großpapa machte uns Kinder auch mit jüdischen Geboten vertraut, die ihm am Herzen lagen, darunter Wohltätigkeit, oder Zedaka, und Toleranz.

      »Die Menschen sind intolerant, weil sie sich vor allem fürchten, was sie nicht verstehen oder was ihnen fremd erscheint«, sagte er zu mir. »Du darfst nie einen Menschen nach seiner Religion, Hautfarbe oder seinen Überzeugungen beurteilen. Wenn jemand deine Hilfe braucht, frag nicht nach seiner Rasse oder seinem Glauben, sondern hilf einfach. Und brüste dich nicht mit deinen guten Taten, denn das würde die Person, der du geholfen hast, herabsetzen.«

      Dann zitierte er zur Verdeutlichung eine Stelle aus der Bibel oder einer anderen Quelle. Sein überragender Intellekt beflügelte mich. Er und Fred waren meine großen Vorbilder.

      Nach und nach schlich sich in unseren Alltag ein Gefühl der Bedrohung ein. Einmal fuhr mein Vater in ein Dorf außerhalb von Metz, um bei einem Kunden ein paar gerahmte Fotos abzuliefern. Als er dessen Haus betreten wollte, kamen zwei Gendarmen auf ihn zu und fragten nach seinem Ausweis.

      »Einen kleinen Moment bitte, Herr Wachtmeister«, sagte mein Vater respektvoll zu dem älteren der beiden. »Ich muss nur schnell die Rahmen hier abstellen.«

      Als er die Bilder vorsichtig an die Hauswand lehnte, erklärte der Beamte kurzerhand, er sei verhaftet. Die beiden Polizisten behaupteten später, mein Vater wäre ihrer Aufforderung nicht unverzüglich nachgekommen und hätte sich deshalb der Insubordination schuldig gemacht. Papa blieb vierundzwanzig Stunden lang verschwunden und wir hatten keine Ahnung, was mit ihm passiert war. Meine besorgte Mutter ging sogar aufs Polizeirevier, um eine Vermisstenanzeige aufzugeben.

      Als mein Vater am nächsten Tag heimkehrte, von Schrammen und blauen Flecken übersät, war er ein gebrochener Mann. Ein Gendarm hatte ihn auf der Wache eine Treppe hinuntergestoßen und bewusstlos geschlagen. Der Verhandlungstermin war für den folgenden Monat festgesetzt worden.

      Mein Vater, der ein sehr stolzer Mann war, kam über die demütigenden Erlebnisse jenes Tages nicht hinweg. Er, der immer eine große Hochachtung vor Militär und Polizei gehabt hatte, verstand nicht, weshalb man ihn ohne jeden Grund so drangsaliert hatte. Wahrscheinlich bestand sein einziges »Verbrechen« darin, Jude zu sein. Diese Begegnung mit staatlicher Willkür brachte sein ganzes Weltbild ins Wanken. Vermutlich rief der Vorfall auch schlimme Kindheitserinnerungen in ihm wach.

      Kurz darauf erkrankte Papa schwer an Hepatitis. Er wurde ganz gelb im Gesicht und musste das Bett hüten. Nachdem ihn der Arzt untersucht hatte, meinte dieser, dass die Lage sehr ernst sei. Maman war außer sich. Es dauerte Wochen, bis Vater sich wieder erholte. Da er so lange krank gewesen war, hatte man seinen Prozess immer wieder aufschieben müssen. Als es schließlich zur Verhandlung kam, sorgte sein Fall für Schlagzeilen. Die Zeitungen berichteten, dass man einen Vater von sieben Kindern grundlos zusammengeschlagen habe, woraufhin der Richter ein Einsehen hatte und ihn freisprach.

      Damals begann ich vieles, was ich bisher als gegeben hingenommen hatte, infrage zu stellen. So beschloss ich eines Tages, Vegetarierin zu werden. Obwohl meine Mutter meine neuen Ernährungsgrundsätze für eine vorübergehende Laune hielt, versuchte sie nicht, mir meinem Entschluss auszureden, sondern bereitete eigens für mich fleischlose Gerichte zu.

      Als ich allerdings erklärte, dass ich Hebräisch lernen wolle, war sie bestürzt. »Nur Jungen studieren die heiligen Schriften. Mädchen doch nicht«, sagte sie kopfschüttelnd.

      »Ich bin’s leid, Gebete herunterzuleiern, die ich nicht verstehe«, hielt ich ihr entgegen. »Ich weigere


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