Im Land des Feindes. Marthe Cohn
und Holland und Belgien kurz darauf in einem Blitzkrieg eroberte, nahm die Bedrohung für uns konkretere Gestalt an. Wir dachten an Jacquies kleine Schwester Mindele, die irgendwo in den Niederlanden lebte, und bangten um ihre Sicherheit.
Zum Glück war Jacquie zu jung, um die Folgen der deutschen Überfälle zu begreifen, und so beruhigten wir ihn jedes Mal, wenn er nach seiner Familie fragte, mit irgendwelchen Ausflüchten. Trotzdem war er verbittert darüber, dass seine Mutter ihn und seine Geschwister »im Stich gelassen« hatte. Oft klammerte er sich an meine Mutter und fragte: »Tante, das hättest du nie gemacht, oder?« Sie erklärte ihm dann, dass seine Mutter keine andere Wahl gehabt hatte, aber das schien er nicht zu verstehen.
Jeden Abend drängten wir uns ängstlich um das Radio in banger Erwartung der Nachrichten von Radio France. Wir erfuhren von Chamberlains Rücktritt in London und seinem Nachfolger Winston Churchill, vom Vormarsch der deutschen Truppen nach Nordfrankreich und den Massenevakuierungen französischer und britischer Einheiten aus Dünkirchen. Calais und Boulogne fielen an die Deutschen, die anschließend den ganzen Nordosten, einschließlich Metz, besetzten. Wir dachten oft an unser Haus in der Rue du Maréchal-Pétain, an unsere Freunde, die zurückgeblieben waren, und an Großpapas kostbare Bibliothek. Unser Premierminister Paul Reynaud trat zurück und Pétain, ein Held aus dem Ersten Weltkrieg, nach dem auch unsere Straße benannt war, kam an die Macht.
»Wir leben in aufregenden Zeiten«, sagte ich eines Abends atemlos zu meiner Mutter, nachdem wir das Radio ausgeschaltet hatten und in völliger Stille dasaßen.
»Etwas weniger aufregende Zeiten wären mir lieber«, erwiderte sie knapp und wandte sich wieder den Socken zu, die sie gerade stopfte. Mein Vater lehnte sich in seinem Sessel zurück und schloss die Augen.
In meinem damaligen Optimismus war ich davon überzeugt, dass unserer Familie nichts passieren konnte, solange wir als Nation den Deutschen Paroli boten. Wir waren weit genug südlich, um vor dem Feind sicher zu sein. Wir lebten ein Leben, das wir uns vor etwa einem Jahr nicht hätten vorstellen können. Wir arbeiteten hart und vergnügten uns am Wochenende. Mein Pazifismus war ungebrochen. Aber im Mai 1940 änderte sich die Situation schlagartig.
Jeden Morgen gingen Cécile und ich den Hügel hinunter zum Bahnhof und dann auf der anderen Seite wieder hinauf zu unserem Laden, wo wir den ganzen Vormittag unsere Kunden bedienten. Unsere Mittagspause verbrachten wir zu Hause bei unseren Eltern, aber nachmittags kehrten wir wieder zum Laden zurück. Die Tage waren lang und die Arbeit anstrengend, aber wir verdienten genug, um unseren Lebensunterhalt bestreiten zu können. Außerdem war ich mir sicher, dass unsere Situation nicht von Dauer war, sondern dass wir bald nach Metz zurückkehren und unser normales Leben wiederaufnehmen würden.
Eines Nachmittags verließen Cécile und ich wie üblich das Haus, als meine Schwester die Ladenschlüssel aus ihrer Tasche fischte und sagte: »Marthe, geh schon mal vor und schließ den Laden auf. Ich will nur schnell bei Madame Guillaume vorbeischauen und die Miete bezahlen. Das dauert keine zehn Minuten.«
Ich nahm die Schlüssel, winkte ihr zum Abschied und machte mich auf den Weg. Es war ein sonniger, klarer Tag. Ich beobachtete, wie die Wolken über den tiefblauen Himmel zogen, und lauschte den Vögeln, die ihre Frühlingsserenaden sangen. Als ich die Stufen zur Fußgängerbrücke hochstieg, die über die Gleise führte, warf ich einen Blick nach unten. Das Bahnhofsgelände war voller Menschen. Ein Versorgungszug war eingetroffen und überall wimmelte es von Soldaten. Tausende Flüchtlinge standen auf den Bahnsteigen und warteten auf Züge, die sie weiter nach Süden bringen sollten. Heute waren es besonders viele, da auch unzählige Holländer und Belgier vor den deutschen Invasoren geflohen waren.
Ich schaute auf meine Armbanduhr und sah, dass es schon Viertel vor zwei war. Wenn ich nicht zu spät kommen wollte, musste ich mich beeilen. In der Rue Boncennes, einer Straße unweit unseres Geschäfts, hörte ich plötzlich das Dröhnen von Flugzeugen. Daran war nichts Ungewöhnliches. Aber aus irgendeinem Grund blieb ich stehen und sah zum Himmel hinauf. Wegen der grellen Nachmittagssonne musste ich die Augen zusammenkneifen. Es waren zwei Flugzeuge, die ungewöhnlich tief flogen und direkt auf die Bahngleise zuhielten. Als sie näher kamen, konnte ich sogar die Piloten erkennen. Unter jedem Cockpit hob sich die italienische Flagge deutlich ab.
Ein feindlicher Luftangriff.
Mein Magen krampfte sich zusammen, aber ich sagte mir, dass meine Angst völlig unbegründet sei. Bestimmt hatten sie es auf eine andere Stadt abgesehen. Hier in Poitiers gab es keine lohnenswerten Ziele. Ich suchte nicht einmal irgendwo Schutz. Aber als die erste Bombe abgeworfen wurde und kurz darauf von einem der Häuser an den Gleisen eine Rauchwolke aufstieg, gefror mir das Blut in den Adern. Der Zug. Der Versorgungszug. Der Bahnhof. Die Flüchtlinge. O Gott, Cécile!
Dann war alles voller Lärm und Rauch und Explosionen. Bomben fielen vom Himmel. Der Bahnhof verschwand unter einer Wolke aus beißendem schwarzen Rauch; der Versorgungszug verwandelte sich in einen Feuerball. Menschen schrien und rannten wild durcheinander, um sich irgendwo in Sicherheit zu bringen. Ich sah, wie sich ein Paar mittleren Alters in den Eingang eines nahe gelegenen Hauses flüchtete, und rannte hinterher. Zu zwölft drängten wir uns in den kleinen Hausflur. Zu ängstlich, um das Geschehen mit anzusehen, drückten wir uns an die Wände, die Hände über den Ohren. Ich presste die Ellbogen an die Knie und kauerte mich zusammen. Jede neue Explosion erschütterte den Boden unter uns und jedes Mal erschreckte ich mich zu Tode.
»Sie haben es auf die Eisenbahn abgesehen!«, rief uns ein junger Mann von der Haustür aus zu, während wir schweigend, im Sitzen oder Stehen, abwarteten. Nach einer scheinbaren Ewigkeit wurden die Abstände zwischen den einzelnen Detonationen größer und das Dröhnen der Flugzeuge schwächer. Ein letzter, ohrenbetäubender Knall, dann herrschte Stille. Offenbar hatten die italienischen Soldaten ihren Auftrag erfüllt und flogen mit leeren Bombenkammern wieder in Richtung Osten davon.
Wir traten zögernd und blinzelnd ins Freie, voller Angst vor dem, was uns erwarten würde. Überall war Rauch und Staub und wir hatten Mühe, etwas zu sehen. Als ich zitternd dastand, galt mein erster und einziger Gedanke meiner Mutter. Ich dachte weder an die verletzten Flüchtlinge und Soldaten noch an Cécile, sondern wollte nur so schnell wie möglich nach Hause, um Maman zu sagen, dass mir nichts passiert war. Ich ging ein paar Schritte und fing dann an zu laufen. Ich steuerte auf die kleine Fußgängerbrücke zu, über die ich erst Minuten zuvor gekommen war. Rauch und Flammen hüllten den Zug darunter ein. Die Luft war so dick, dass ich kaum die andere Seite erkennen konnte.
Die Menschen um mich herum standen unter Schock. Ich war die Einzige, die nicht wie gelähmt war. Mit der Hand vor dem Mund und tränenden Augen entschloss ich mich, rasch die Brücke zu überqueren. Aber kaum hatte ich einen Schritt getan, sah ich, wie ein Eisenbahnarbeiter auf der anderen Seite wild mit den Armen fuchtelte und mir zurief, dass ich stehen bleiben solle.
»Arrêtez! Arrêtez! Bleiben Sie, wo Sie sind!« Aber ich musste unbedingt nach Hause. Ich konnte an nichts anderes denken. Hustend rannte ich durch die Flammen und den dicken schwarzen Rauch und verlor beinah das Gleichgewicht, als unter mir ein weiterer Teil des Zugs explodierte. Ich hielt mich kurz am Geländer fest und rannte dann weiter. Am anderen Ende angekommen, packte mich der Eisenbahner und riss mich zur Seite.
»Sind Sie denn vollkommen verrückt geworden?«, schrie er und starrte mich wütend an. »Haben Sie denn nicht die Gefahr erkannt? Das war ein Munitionszug. Der ist hoch explosiv. Das ganze Ding hätte direkt unter Ihren Füßen in die Luft gehen können!«
Ich befreite mich aus seinem Griff und erklärte, dass ich dringend nach Hause müsse.
Ich drängte mich an ihm vorbei und setzte meinen Weg fort. Ich brauchte zwanzig Minuten, um mich durch die Scharen von Menschen zu kämpfen, die mir entgegenkamen und sehen wollten, was passiert war und wie sie helfen konnten. Als ich endlich unser Haus erreichte, kam mir Maman mit ausgestreckten Armen durch den kleinen Vorgarten entgegengelaufen. Sie war in Tränen aufgelöst. Sie hatte schon zu viele Bombardierungen miterlebt.
»Marthe! Marthe!«, schluchzte sie. Mein Gesicht war rußgeschwärzt, meine Haare zerzaust, aber sie war froh, dass ich zu Hause und in Sicherheit war.
»Mir geht’s gut, Maman, mach dir keine Sorgen«, sagte ich und strich