Im Land des Feindes. Marthe Cohn

Im Land des Feindes - Marthe Cohn


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erzählte uns, dass Heinrich sofort seine Sachen gepackt habe und geflüchtet sei, als er gehört hatte, dass sich die Deutschen Poitiers näherten.

      »Er hat gesagt, dass die Nazis ihn erschießen würden, wenn sie ihn in die Hände bekämen«, erklärte Nonain. »Armer Kerl, ich hoffe, es geht ihm gut.« Ich war traurig, dass ich keine Gelegenheit gehabt hatte, mich von dem gut aussehenden Deutschen zu verabschieden. Ich fragte mich, ob wir ihn je wiedersehen würden.

      In derselben Woche sah ich zum ersten Mal einen Nationalsozialisten. Cécile und ich waren gerade auf dem Weg nach Hause zum Mittagessen, als er auf einer khakifarbenen BMW mit aufheulendem Motor um die Ecke geschossen kam. Wir blieben stehen und starrten ihn an.

      Ich kniff Cécile in den Arm und flüsterte ihr zu: »Hoffentlich bricht er sich das Genick.« Zu meinem Erstaunen kam in diesem Moment das Motorrad auf dem heißen Asphalt ins Schleudern und er landete mit einem dumpfen Schlag auf dem Boden. Cécile war sichtlich beeindruckt, aber dummerweise hatte er sich kaum etwas getan.

      Zunächst änderte sich wirklich nicht viel in Poitiers, außer dass wir überall auf deutsche Soldaten stießen und aufpassen mussten, was wir sagten. Im direkten Umgang mit uns überschlugen sie sich vor Höflichkeit, als hätten sie den strikten Befehl erhalten, uns auf keinen Fall zu beleidigen. Sie wollten, dass die Franzosen sie mochten und ihnen vertrauten, und benahmen sich in Frankreich besser als anderswo. Natürlich vertrauten wir ihnen kein bisschen und warteten nur darauf, dass sie ihr wahres Gesicht zeigten. Tatsächlich änderte sich die Stimmung peu à peu. Pétain schlug sich auf die Seite der Deutschen, die London bombardierten und die Kanalinseln besetzten. Er warf seinen Gegnern, darunter der ehemalige Premierminister Léon Blum, vor, für die Niederlage Frankreichs verantwortlich zu sein. General de Gaulle, der von London aus die »Freien Franzosen« in aller Welt zum Widerstand aufgerufen hatte und zum Symbol für die Befreiung geworden war, wurde in Abwesenheit zum Tode verurteilt.

      Fast unmerklich schlichen sich die Veränderungen in unseren Alltag ein. Als Erstes wurde im September 1940 eine Meldepflicht für Juden eingeführt. Die Vorstände aller jüdischen Haushalte mussten im Rathaus erscheinen und die Namen und Geburtstage sämtlicher Familienmitglieder angeben. Wer dieser Aufforderung nicht nachkam, wurde zu einer Gefängnisstrafe oder gar zum Tode verurteilt. Mein gesetzestreuer Vater ging brav am 3. Oktober 1940, dem für den Buchstaben H vorgegebenen Datum, aufs Amt. Ohne zu zögern, ließ er – wie die meisten jüdischen Väter in Frankreich – jedes Mitglied unseres Haushalts registrieren, ohne zu ahnen, welche fatalen Folgen dies haben würde. Unsere neuen Ausweise wurden mit einem roten JUIF- oder JUIVE-Stempel versehen. An alle Franzosen wurden Lebensmittelkarten, sogenannte Cartes de rationnement, ausgegeben.

      Das Klima zwischen den deutschen und den französischen Juden wurde immer angespannter. Meine Mutter wurde zunehmend bedrückter und ließ sich durch nichts aufheitern. Sie hatte jede Hoffnung aufgegeben. Leider lag sie richtig mit ihren düsteren Vorahnungen. Im selben Monat ordnete die Vichy-Regierung an, dass sich alle jüdischen Geschäfts- und Firmeninhaber registrieren lassen mussten. Jüdische Geschäfte und Büros trugen jetzt Schilder mit der Aufschrift MAISON JUIVE. Elby bildete keine Ausnahme. Als wir eines Morgens zu unserem Laden kamen, war die Tür mit Schildern bepflastert, die jeden wissen ließen, dass wir Juden waren. Unseren treuen Kunden war das allerdings egal.

      Im selben Monat tauchte völlig unerwartet unser Bruder Arnold auf. Nachdem man alle jüdischen Soldaten aus der französischen Armee entlassen hatte, war er mit dem Schiff nach Frankreich zurückgekehrt. Wir waren überglücklich, dass er wieder bei uns war, und dankbar für seine Unterstützung, denn schon bald übernahm er bei Elby Onkel Léons Aufgaben.

      Es dauert nicht lange, bis Juden von allen öffentlichen Ämtern und von Lehrtätigkeiten ausgeschlossen wurden. Jüdisches Eigentum wurde beschlagnahmt und ausländische Juden wurden verhaftet und interniert. Die Deutschen schränkten uns immer mehr ein und bauten darauf, dass wir uns klaglos in unser Schicksal fügten. Jeden Tag wurden neue Verordnungen erlassen; so wurden unter den »Arisierungsgesetzen« jüdische Geschäfte geschlossen. Verstöße gegen die neuen Bestimmungen konnten mit dem Tod bestraft werden. Zwar waren nichtjüdische Franzosen ebenfalls von Einschränkungen betroffen, aber nicht im selben Maß wie wir.

      Eines Tages kamen zwei deutsche Soldaten in unseren Laden. Cécile und ich bedienten gerade einen Kunden. Die Männer sahen sich interessiert um, befingerten die Waren und schienen ihren Wert abzuschätzen. Nicht ahnend, dass wir beide Deutsch sprachen, sagte der eine zum anderen: »Stehlen wir doch einfach das Zeug von diesen dreckigen Juden. Bringt uns bestimmt ein hübsches Sümmchen ein.«

      Aufgebracht ließ ich den Kunden stehen und rannte auf die Straße. Ich schaute mich um und entdeckte, wonach ich suchte – einen Offizier der Wehrmacht.

      »Entschuldigen Sie, Monsieur«, sagte ich zu dem Wehrmachtsoffizier, »zwei Ihrer Männer sind in unserem Laden. Dazu haben sie nach den neuen Vichy-Gesetzen kein Recht. Wir könnten Ärger bekommen. Bitte sorgen Sie dafür, dass sie gehen.« Er tat, worum ich ihn gebeten hatte, und erteilte in Gegenwart von Cécile und mir den beiden einen scharfen Verweis.

      Kurz danach bekamen wir Besuch von einem Franzosen, der uns darüber informierte, dass er von den Deutschen als Gérant commissaire eingesetzt worden war, ein Nichtjude, der unser Geschäft übernehmen sollte. Daraufhin räumten wir den Laden komplett aus, packten die kostbarsten Waren in Koffer und trugen sie nach oben in die Wohnung von Madame Le Touchais, mit der wir uns angefreundet hatten. Wenige Tage später brachten wir sie zu Madame Blondet, der früheren Putzfrau von einem unserer Cousins, der wir vertrauen konnten.

      »Wir lassen nichts für die Nazis zurück«, stieß Cécile hervor. »Nicht das Geringste.« Lächelnd tätschelte ich ihre Schulter.

      Als ich eines Nachmittags mit einem besonders schweren Koffer auf dem Weg zu Madame Blondet war, kamen mir an der Kirche Notre-Dame la Grande zwei deutsche Soldaten entgegen. Ich senkte den Blick und starrte auf ihre blanken Stiefel. Bevor ich einen Ton herausbrachte, ergriff einer der beiden den Koffer.

      »Lassen Sie mich Ihnen behilflich sein, Fräulein«, sagte er lächelnd. »Der ist doch viel zu schwer für ein so hübsches junges Mädchen.«

      Mühelos trug er den Koffer, während ich neben ihm herlief. In sicherer Entfernung von Madame Blondets Wohnung nahm ich ihn ihm wieder ab und bedankte mich mit meinem schönsten Lächeln.

      Ich malte mir aus, wie der Commissaire in ein paar Tagen kommen würde, um unser Geschäft zu übernehmen, und einen gähnend leeren Laden vorfände. Zu gern hätte ich Mäuschen gespielt.

      Cécile und ich waren jetzt arbeitslos; wie sollten wir unsere Familie ernähren? Ich wollte mir in Poitiers Arbeit suchen, während Cécile vorhatte, in Paris mit einem Teil unserer Waren einen neuen Laden zu eröffnen. Paris kam mir entsetzlich weit weg vor. Außerdem war es mit Sicherheit gefährlicher als unser verschlafenes Städtchen. Aber wir hatten Verwandte in der Hauptstadt, darunter Onkel Max, der jüngste Bruder meiner Mutter, der dort als Arzt praktizierte, und Cécile war fest entschlossen, in Paris ihr Glück zu versuchen und uns von dort Geld zu schicken.

      »Mach dir um mich keine Gedanken«, sagte sie und umarmte mich. »Pass gut auf die anderen auf, du bist jetzt die Älteste.« Und ehe wir uns versahen, hatte sie gepackt und war fortgegangen. Ich vermisste sie schrecklich.

      Aber wie heißt es so schön: Immer wenn sich eine Tür schließt, öffnet sich eine andere. Im Dezember 1940 kam Fred nach Hause. Wir waren überglücklich, ihn zu sehen, aber entsetzt über seine körperliche Verfassung. Wir gaben ihm etwas zu essen und lauschten mit offenem Mund seinen Schilderungen. Nachdem die Deutschen die Maginot-Linie durchbrochen hatten, war er gefangen genommen und in ein Lager in Straßburg gebracht worden. Danach hatten wir nichts mehr von ihm gehört. Als er zufällig ein Gespräch zwischen zwei deutschen Wachen belauschte, erfuhr er, dass alle Gefangenen am nächsten Tag nach Deutschland überführt werden sollten. Sofort setzte er seinen sorgfältig ausgetüftelten Fluchtplan in die Tat um, zog die zivilen Sachen an, die er an einem sicheren Ort versteckt hatte, und schaffte es, mitten im tiefsten Winter die Vogesen zu Fuß zu überqueren, indem er nur nachts unterwegs war. In Nancy kontaktierte er seine alten Kunden und verkaufte auf einen Schlag das gesamte Inventar seiner


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