Etwas Seltenes überhaupt. Gabriele Tergit
worden. Wells schrie dagegen. »Wo leben sie noch?« rief Madariaga, »in Mittel- und Südamerika. Nicht in den Vereinigten Staaten.«
Bild 8: Brief vom Londoner PEN-Zentrum an Gabriele Tergit, 1940
Was sind große Männer? Mitten in einem uns alle bedrohenden Krieg lauschten wir gespannt auf diesen Disput des protestantischen Engländers mit einem katholischen Spanier. Zu diesem PEN-Kongreß, auf dem sich alle freiheitsliebenden Menschen Europas vereinigt zu haben schienen, kamen auch Dos Passos und Thornton Wilder. Dos Passos stand, wo Madariaga gestanden, unter dem Podium, merkwürdig bescheiden: »Wir flogen«, begann er. »›Werden wir abgeschossen werden‹, fragten wir einander. Aber wir wußten, wir müssen auf die kleine Insel fliegen, wir müssen ihnen zeigen, wir gehören zu euch. Ihr seid nicht allein in eurem Freiheitskampf.«
Ich sehe Dos Passos dastehen, genau wo Madariaga gestanden hatte, genau, was man sich wünscht, der Teilnehmende, der Mitfühlende. Zwei große Amerikaner, die ihr Leben riskierten, um uns allen zu zeigen, hier findet der Kampf gegen das Böse statt. Friedenthal, gewiß kein Pathetiker, sagte zu mir: »Wunderbar gewesen, nicht?«
Wo sind sie heute, die Wells, die Madariagas, die Dos Passos?
Alle im Fernsehen untergegangen?
Ich habe so vor mich hin erzählt von der Nazivorbereitung, sogar eines Fluchtwegs München, Innsbruck, Österreich oder Italien, vom Mangel eines solchen bei den Juden, diesen ewigen Optimisten.
»Und Gott sah hin auf seine Werke und siehe, alles war sehr gut«, den [Fluchtweg] schufen dann Eleanor Roosevelt und Varian Fry, wobei der Deutsche Dieterle sehr half und Franklin Roosevelt sich draußen hielt und der sehr viel mehr gefährdete Franco mitmachte. Ich will nun sieben Jahre zurückgehen und vom letzten Nazi-Prozeß, über den ich berichtet habe, erzählen.
Wanda Schmottek, klein, dick und blond, die Hauptzeugin gegen neun Arbeiter, die wegen Totschlags angeklagt sind. Sie verlangte Ausschluß der Öffentlichkeit, weil sie sich bedroht fühlte.
»Von wem?«
»Eine Frau hat gesagt: ›Warte, du Sau, du wirst auch noch kaltgemacht.‹«
»Welche Frau? Was für eine Frau?«
»Also nicht nur eine Frau, sondern auch ein Mann.«
»Also ein Ehepaar.«
»Ja, beide haben gesagt: ›Warte, du Sau, du wirst auch noch kaltgemacht!‹ Übrigens sind mir auch die Fensterscheiben eingeworfen worden.«
»Wann sind Ihnen Fensterscheiben eingeworfen worden?«
»Wenn mich der Herr Rechtsanwalt so viel fragt, kann ich überhaupt nicht antworten.« Und sie weint.
Wanda Schmottek ist aus barer Neugierde mit den Kommunisten mitgegangen und hat alles genau gesehen: »Ein Mädchen zog eine Pistole aus ihrer Bluse und reichte sie einem Mann. Ich ahnte schon, daß da einer totgeschossen wird.« So erzählt sie. Es waren zwei Trupps, einer, in den geschossen wurde, und ein Nachtrupp.
Im Schützentrupp schossen zwei Leute, die sie in der Anklagebank bezeichnet, und zwei weitere waren mit im Trupp. Glatt und rund, unter Eid, sind das zwei Todesurteile und zwanzig Jahre Zuchthaus. Der Verteidiger versucht ihr den Ernst und die Folgenschwere ihrer Aussage klarzumachen. »Leider«, sagt er, »kam nämlich dabei ein Nationalsozialist ums Leben.«
»Warum leider«, sagt sie, »ich weiß doch, wie sehr Sie sich freuen.«
Ja, sie kann die Kommunisten nicht leiden. Sie hat einen Laden, und da nennen sie sie Nazikaufmann und boykottieren sie, und es gibt Flugblätter: »Rote Macht, habt acht«. Alles gegen sie. Es ist kein angenehmes Leben. Und sie bleibt dabei, zwei haben geschossen, und zwei andre waren dabei. Sie erkennt sie nach Gesicht, nach Gestalt, nach grauer Hose und blauem Hemd und aufgekrempelten Ärmeln. Zweifel ausgeschlossen. Und als der Verteidiger sie immer eindringlicher fragte, sagte sie: »Muß ich mir diesen süßen Schmus weiter anhören?« Sie sitzt auf dem hohen Ross, sie weiß alles. »Ich hätte noch welche festnehmen lassen. Der Polizist hat bloß keine Zeit gehabt, als ich ihm noch Leute melden wollte.«
Aber der Rechtsanwalt fragte weiter ohne Gnade und Barmherzigkeit. »So«, sagte sie und sprang auf, blond und dick und voller Wut, »jetzt werde ich Ihnen auch die Wahrheit sagen, jetzt gerade. Da hinten stehen noch zwei, die dabei waren und die habe ich sogar verhaften lassen.« Und sie zeigte auf zwei weitere in der Anklagebank. »Diese beiden haben am anderen Tag an der Litfaßsäule gestanden und auf die verdammten Nazis geschimpft, die ihre eigenen Leute totschießen. Wie können die so reden, habe ich gedacht und habe den Schutzmann geholt und habe gesagt, die beiden waren auch dabei, und das sind die, die da hinten stehen.«
Glatt und rund unter Eid sind das zwanzig Jahre für Tobehn und Krüger, die Männer, die da hinten stehen. Niemand bringt sie davon ab. Es sind die beiden, die da hinten stehen. Aber die beiden, die da hinten stehen, wurden erst acht Tage später verhaftet, und die beiden, die sie acht Tage früher verhaften ließ, waren ein Radrennfahrer und ein Mitglied eines katholischen Gesellenvereins, die keinesfalls an diesem Abend bei der Schießerei dabei waren.
»Das sieht ja nun sehr düster aus«, sagte der Richter, »und es wird zu erwägen sein, ob wir Sie nicht selber verhaften müssen. Jetzt können Sie jedenfalls nach Hause gehen.« Und wen wird sie nach der nächsten Schießerei an der Litfaßsäule verhaften lassen? fragten sich alle Zuhörer. »Das ist ja die Wiedereinführung des lettre de cachet. Wenn das so weitergeht«, sagte der Richter, »wird jeder, der den anderen nicht leiden kann, sagen: dich werd ich an der Litfaßsäule verhaften lassen.«
Er sagte es am 26.9.1932. Ein halbes Jahr später war es soweit.
Der Anfang des Endes
1918 ging ich durch einen unvorstellbar wunderbaren Wald.
Plötzlich sah ich ein Gasthaus. Ich öffnete die Tür. Es war völlig überfüllt, aber ich fand noch einen freien Stuhl. Es roch nach Kaffee. Ich kam aus Berlin. Das gab es also noch. Eine Kellnerin trug eine Schokoladentorte mit ziemlich großen Tortenstücken. Ich traute mich nicht, mir eins geben zu lassen. Ich war an das alles nicht gewöhnt. In der Eisenbahn zurück nach Dresden sprachen eine Dame und ein Herr von Tennis.
Da wußte ich, es war etwas geschehen in der Welt. Vor dem Bahnhof sagte ein Arbeiter zu mir: »Wir sind irregeführt worden.«
Als ich in das kleine Hotel auf dem Weißen Hirsch bei Dresden kam, hörte ich laute Stimmen. Die Gäste sprachen aufgeregt miteinander. Ein Herr von den Leunawerken sagte: »Es ist ja unmöglich, daß wir Longwy und Briey aufgeben.« Ein Offizier sagte: »Das würde ja unser ganzes Schützengrabensystem auflösen.«
Alle riefen durcheinander: »Wir können Nordfrankreich nicht aufgeben.« »Räumen!« rief einer. »Deutschland hatte immer zu viel Kohle und zu wenig Eisenerz.« »Na selbstverständlich behalten wir die französischen Erzgruben.« Die Tochter des Direktors des berühmten französischen Gymnasiums, einst für die Hugenotten in Berlin errichtet, Hauchecorne, rief: »Die Armee muß nach Tirol zurückgezogen werden und von dort weiterkämpfen.« Schließlich erfuhr ich, was geschehen war, Waffenstillstand! Ich fuhr sofort nach Berlin zurück. Dort erfuhr ich, daß Walther Rathenau einen Aufruf erlassen hatte: »Bürger zu den Waffen!« Nach berühmtem Vorbild: »Aux armes, citoyens!« Noch Brüning schreibt in seinen Memoiren von einem Durchbruchsversuch – Versuch des Feindes. Der Bruder seiner Mutter, der jahrelang mit seinem bayerischen Regiment in den Vogesen gelegen hatte, sagte ein paar Monate später: »Nicht an Schuß hams abzufeuern sich getraut, die Franzosen, und dann verraten uns die Berliner.« Noch 1948 sagte der vorzügliche Walther von Hollander, der in keiner Beziehung ein Nazi war, zu mir, daß Ludendorff infolge eines Autounfalls 24 Stunden eine Art Nervenzusammenbruch gehabt habe und darum überflüssigerweise einen Waffenstillstand verlangt hätte. Der Skandal wäre, daß ihn keiner gehindert hätte, also nicht eine Vertretung oder Ersatz für ihn vorgesehen war.
Der allgemeine Glaube an das unbesiegte deutsche Heer ist von den allerverschiedensten