Etwas Seltenes überhaupt. Gabriele Tergit

Etwas Seltenes überhaupt - Gabriele Tergit


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aus war es damit, als wir genau zwölf Jahre später im verdunkelten Winter 1939 in London den Shakespearschen Julius Caesar sahen, einen nervösen Diktator, einen Epileptiker, der mit Schaum vor dem Munde hinfällt, der nicht schlafen kann, der Leute nicht leiden kann, die denken und lesen, der sich aufbläht: »Ich fürchte nicht … Doch wenn ich überhaupt fähig wäre, was zu fürchten …« Und als ihm die Frauen zujubeln, sagt Caska, der Börsianer von ihnen: »Wenn er ihre Mütter getötet hätte, würden sie ihm genau so zujubeln.« Alles von Shakespeare, nicht bearbeitet, nichts geändert. Und über die Worte, an denen wir uns in der Schule berauscht haben: »Mir haben stets Gefahren im Rücken nur gedroht; wenn sie die Stirn des Cäsars sehen werden, sind sie verschwunden«, lachten die Londoner. Aus dem Munde eines aufgeregten Herrn in Pumphosen und Militärstiefeln klang es ja wirklich nur großmäulig und dumm: »Die Gefahr«, rief er, »weiß ganz genau, daß Cäsar gefährlicher ist als sie! Wir sind zwei Zwillingslöwen, nur daß ich der ältere und schrecklichere bin!«

      Hand aufs Herz, wer von uns hat gelacht, wenn Julius Cäsar erklärte, er sei das Zwillingskind der Gefahr und ein schrecklicher Löwe?

      Wir hörten auch eine schauerliche Szene. Der von Antonius aufgehetzte Mob trifft Cinna den Poeten und verhört ihn und fragt ihn nach seinem Namen, und als er »Cinna« sagt, rufen sie: »Schlagt ihn tot!«

      »Ich bin der Dichter Cinna, ich bin nicht der Verschwörer Cinna.«

      »Ganz gleich. Er heißt Cinna.« Und dann wird er auf offener Bühne totgeschlagen.

      Diese Begebenheit wurde nicht von Shakespeare erfunden. Sie ist wahr und von Plutarch überliefert. Uns aber im Londoner Theater überlief es kalt, niemand anderes ist der Dichter Cinna als der Musiker Willy Schmidt, der aus Namensverwechslung ermordet wurde am 30. Juni 1934 in München, wie der Dichter Cinna aus Namensverwechslung ermordet wurde am 16. März 44 v. Ch. in Rom. Das eine Mal ein Dichter, das andre Mal ein Musiker. Der Mob vergreift sich am liebsten an den Zarten.

      1980 wurde am BBC gesagt, daß die Cinna-Szene der Angelpunkt des Stückes sei. Sie wurde in deutschen Aufführungen meist weggelassen. Es ist auch welthistorisch interessant, daß der Julius Cäsar im verdunkelten London des Winters 1939/40 in moderner Faschistenuniform gespielt wurde. Mussolini, das war der Feind, seine afrikanischen Abenteuer, der Seeweg nach Indien gefährdet, der Suezkanal, das Mittelmeer. Was ging einen Engländer die Tschechoslowakei an?

      Am selben Tag in Brindisi nahm mich die englische Gesellschaft in ein dem Schiff gegenüberliegendes Hotel mit. Wir saßen bequem in der Halle, als der Kellner sich dem Regierenden näherte und mit der Serviette wedelte. Der winkte ab: »We are only sitting down, there is our boat.«

      Ich wurde rot. Ich dachte an meinen Vater, der zu sagen pflegte, wenn wir in ein Wirtshaus gingen: »Man muß dem Wirt was zu verdienen geben.«

      Am späten Abend lag ich noch im Liegestuhl. Der junge italienische Offizier, der mir seit dem Beginn der Reise folgte, saß auf einem Feldstuhl. Wir schwiegen. An diesem Abend wurde ich ihm freundlicher gesinnt. Irr dich nicht, sagte ich in Gedanken, ich gehöre nicht zu den Mächtigen, auch wenn ich den ganzen Tag mit ihnen zusammen bin. Wenn du und ich in ein Hotel gehen, dann müssen wir vorher in unserem Portemonnaie nachsehen, ob wir genug Geld haben, und wenn ein Mensch müde Füße hat und er geht in so ein Hotel und setzt sich in einen weichen Sessel, dann schmeißen sie ihn raus. Aber ein englischer Regierer, der darf. Warum? Weil er Macht hinter sich hat. Wenn man zum britischen Empire gehört, dann setzt man sich in die weichen Sessel umsonst. Aber wir beide haben keine Macht.

      Als wir in Venedig das Schiff verließen, gab mir der Engländer seine Visitenkarte, die ich verlor. Ich kam nicht auf die Idee, sie könnte für mich wichtig sein. Ich brauchte keine Adressen. Das Berliner Telefonbuch genügte.

      In München fand ich Heinzens sorgfältig vorbereiteten Plan mit allen Zügen und Anschlüssen, genau wie es mein Vater gemacht hätte, indem er das dicke gelbe Kursbuch wälzte. Er würde mich in Weimar vom Bahnhof abholen. Falls wir uns verfehlten: Zimmer im Erbprinzen. Im Coupé München/Weimar saß nur eine nette junge Norddeutsche, die aus Wien kam, wo sie studiert hatte.

      Sie half mir mit dem Gepäck, und wir unterhielten uns ausgezeichnet. Später in London hatte Heinz zweimal dasselbe ulkige Erlebnis, es sprachen ihn großgewachsene Intellektuelle an und fragten: »Cambridge?« »Oxford?«, weil sie offenbar annahmen, so ein Geschöpf wie sie selber könne nur zu einer der alten Universitäten gehören, also ein Kollege sein. Heinz konnte nur den Kopf schütteln und lächeln: »Sorry no«, »leider nicht«.

      Nun stand er also auf dem fast leeren Bahnsteig in Weimar. Ich sah ihn vom Korridorfenster bei der Einfahrt. Das Mädchen, das sich neben mich gestellt hatte, sagte entsetzt: »Aber das ist doch wohl ein Jude« und floh ins Abteil zurück und sagte kein Wort mehr. Der Gepäckträger, den Heinz schickte, nahm die Koffer aus dem Netz, und ich verließ wortlos das Coupé. Das Mädchen sah von ihrem Fensterplatz hinaus. Ich erzähle diese läppische Geschichte, weil sich nur aus tausend Einzelheiten die Atmosphäre erklären läßt, aus der es zu dem kam, was Walter Jens die »Jahrtausend-Katastrophe« nennt.

      Heinz war zum ersten Mal in Weimar. Ich war schon einmal mit den Eltern als Backfisch dort gewesen. Nun sahen wir alles zusammen an. Ich sehe ihn noch heute im bescheidenen Schillerschen Arbeitszimmer stehen mit der mit Arsenik getränkten giftgrünen Tapete, die wahrscheinlich zu Schillers frühem Tod beigetragen hat. Das Wittumspalais, jener Höhepunkt des Geschmacks, der Schönheit, der Verfeinerung kurz vor der Französischen Revolution. Heinz war hingerissen von der Bibliothek. Als wir das Goethehaus betraten, legte Heinz seine offene Hand auf den Mund und sagte: »Das ist ja ne Schloßtreppe, na verrückt, das verdirbt ja den ganzen Maßstab.« »Das hatte Goethe schon bedauert«, sagte ich. Wir sahen uns das Junozimmer und die Sammlungen, Goethes Gartenhaus und Tiefurt und das römische Haus an, die bescheidene Villa des Herzogs Karl August.

      Theodor Wolff gab zweimal eine volle Seite für meine griechische Reise. Das bekamen sonst nur die besonderen Auslandskorrespondenten. Höllriegel zum Beispiel.

      Und ich begann wieder, nach dieser griechischen Reise. Ich schrieb: »Man kommt zurück nach Europa nach vielen Wochen gelösten Inseldaseins, traumfern vom Gerauf, und kommt nach Moabit. Auf der Anklagebank zwei rote Frontkämpfer, ein alter SPD-Mann, ein Nationalsozialist, welches der Berliner in ›Nazialist‹ zusammenzog.« Noch konnte ich es nicht ernst nehmen. Ich nannte den Bericht: »Montag und Donnerstag Überfall. Heimkehr zu den deutschen Belangen.«

      Auf dem Korridor des Gerichts saßen auf zwei getrennten Bänken die gleichen jugendlichen Arbeiter. Rotfront die einen, Nazis die anderen. Dazwischen hielt einer die Leute auf dem Korridor am Jackenrevers fest: »Wie kommt denn die Polizei dazu, einen harmlosen Passanten festzunehmen? Im ›Feuchten Dreieck‹ war Preissingen. Wer die schönste Stimme hatte, bekam eine Gans. Ich kümmere mich nicht um die Politik, ich bin Waldpfeifer, ich gehöre einem Chor an. Ich bin nur für Frau Musika. Können ja nachfragen im ›Feuchten Dreieck‹.« Wenige Wochen früher war der abendliche Strom der Arbeiter des Osramwerkes über die Brücke gegangen, die das weite Eisenbahngelände überspannte. Eine typische Berliner Arbeitergegend, die Häuser fünf Stock hoch, und manchmal wohnten Hunderte von Menschen darin, im Vorderhaus, im Seitenflügel, im Hinterhaus. Die Toilette ist auf den Treppenabsätzen und die Wasserstelle auf dem Korridor, was beides von zehn Parteien benützt wurde. Auf der Straße stehen kümmerliche Bäume, aber sonst ist weit und breit kein grüner Fleck.

      Max Feldtke und Paul Spinner saßen auf einer Bank unter einem der Bäume.

      »Du weißt wohl, was ich von dir will?«

      »Kanns mir denken.«

      »Willste?«

      »Na klar.«

      »Ich fühle mich verpflichtet, dir aufzuklären, daß hohe Strafe auf Plakatekleben steht, wenn dich die rote Polizei zu fassen kriegt.«

      »Weiß.«

      »Also morgen abend, wir sind viere.«

      »Du kommst besser nich mit, Spinner.«

      »Wat


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