Etwas Seltenes überhaupt. Gabriele Tergit
in der unbewegten Glut eines griechischen Julitages. Die kleine schwarze Kreatur machte Ordnung, fraß die Brotkrumen, leckte das Öl aus der Büchse und legte sich auf die andere Seite zum Schlaf hin. Ich sah durch die Olivenbäume in den blauen Himmel, sah zur Seite den Tempel, weithin das Meer mit felsigen Inseln. Ich konnte nicht schlafen vor Glück, wach bleiben, verweilen, sich wiegen im Zauber der guten Stunde. Nie war man so glücklich, nie so dankbar, nie so ganz auf reinen Ton gestimmt. Es wird zu viel von einem verlangt im Westen, zu viel an Klugheit. Dir Wärme zu schaffen und Licht und einen gepolsterten Sitz, das kostet so viel, und fettes Fleisch und wollene oder gar pelzene Kleidung. Das verschlingt des Menschen Denken und Tun mit Haut und Haar. Hier in diesem Licht lebte ich wunschlos dem heiteren Augenblick, der klaren Freude.
Das Haus, in dem wir übernachteten, war bewundernswert sauber, mein Kopfkissen war mit Sand gefüllt, der Boden gestampfter Lehm, das Licht eine Kerze in einem Flaschenhals. An der Wand hing eine amerikanische Flagge mit einer griechischen gekreuzt. Der Sohn war nach Amerika ausgewandert.
Denn es gab nicht nur Klima und Schönheit. Ein uneheliches Kind wurde krank. Niemand ging zu seiner verzweifelten Mutter, außer meiner Freundin, die ihm helfen konnte. Die griechische Dame, bei der wir öfter Kaffee tranken, warnte uns, wir dürften uns nicht so gegen die Sitte stellen. Oder da waren die ganz jungen Mädchen, die eine Nonne zwang, zwölf Stunden am Tag mit einem Hämmerchen Mandeln aufzuklopfen und die Kerne in einen Korb zu werfen. Und in dem kleinen Hotel war ein Mädchen, das immer da war, immer Wasser trug, denn jeder Tropfen mußte vom Brunnen gebracht werden. Eines Tages warf sie sich auf den Boden und schrie. Man brachte sie in ihr Zimmer, das fensterlos war, Licht und Luft nur von der Tür erhielt, genau wie das Pellerhaus in Nürnberg, wie die Schlafzimmer in Pompeji, wie 361.000 fensterlose Zimmer in New York für die armen Einwanderer am Ende des 19. Jahrhunderts. Sie schrie stundenlang. Am nächsten Tag erschien sie, als ob nichts geschehen sei, holte Wasser, kehrte den Boden, brachte Kaffee, ich weiß nicht, wie viele Stunden am Tag. Auch persönlich war es nicht ganz unbewölkt. Ich war ärgerlich, weil ich noch keine Zeile von Heinz bekommen hatte, und wollte schon einen meiner hemmungslosen Wutbriefe schreiben, über die sich jeder in meiner Familie ärgerte. Meine Freundin, zwanzig Jahre älter als ich, eine Frau, die viele Liebhaber gehabt hatte, riet mir dringend ab. Ich könnte ja gar nicht wissen, was passiert sei. Tatsächlich, als ich nach Athen kam, lagen zwölf Briefe im Hotel, die sie nicht weitergeschickt hatten. Das war etwas, womit ich überhaupt nicht gerechnet hatte. Ich telegraphierte sofort, da Heinz mich treffen wollte: »Briefe erst jetzt vorgefunden, bitte um genaue Anweisungen, München hauptpostlagernd.« Und was, wenn er mich in Italien oder Tirol treffen wollte, dann war es ganz dämlich?
Athen war eine traurige Stadt. Wie konnte das Land eine und eine halbe Million Flüchtlinge absorbieren? Schon wurde das Geld abgewertet. Es handelte sich um Griechen, die aus der Türkei ausgewiesen worden waren nach dem Massaker von Smyrna, wo die Schiffe der Großmächte, der Franzosen und Engländer nämlich, die ins Meer springenden Griechen nicht gerettet hatten. Die Stadt hatte keine Wasserleitung, und so sah auch alles aus, staubig und kahl und blumenlos. Und überall waren die Zelte und sonstigen provisorischen Behausungen der Flüchtlinge. Schon sechs Jahre später war es verändert. Athen hatte Wasser und überall sproß und blühte es. Die kleinasiatischen Flüchtlinge hatten mit ihrer Intelligenz und ihrer Zahl das Land nur bereichert.
Das Schiff, mit dem ich nach Italien zurückfuhr, war sehr voll. Die Engländerin von der Hinfahrt war wieder auf dem Schiff und sorgte dafür, daß ich an den Tisch des Kapitäns kam. Warum? Weil ich einfache Baumwollkittel trug, meine Haare, wie sie gewachsen waren, weder Puder noch Lippenstift benutzte. Auch in Preußen hatte man einfach zu sein, wenn man dazugehören wollte. Der Snobismus der Schlichtheit.
Das Schiff wackelte, die Brötchen fielen vom Tisch. »Was der Philipp essen wollt, unten auf der Erde rollt«, sagte ein Engländer, der im – wie man das damals nannte – Vorderen Orient regierte. »Und die Mutter blickte stumm auf dem ganzen Tisch herum«, setzte ich auf deutsch fort. Der Struwwelpeter als gemeinsame europäische Kultur. An unserem Tisch saß die Frau eines hohen französischen Beamten aus Syrien. Sie trug ein schwarzes Kleid mit Stehkragen und kehrte mit den Rüschen ihres Rockes das Schiff auf, zu einer Zeit, als wir kniefrei gingen. Sie mißbilligte, daß die Engländer mich, eine Deutsche, dazurechneten. Es gab auch ein ganz junges griechisches Mädchen mit einem klassischen Gesicht. Sie fuhr nach Paris und träumte von Kleidern von Chanel und von Wiener Operetten.
In der zweiten Klasse war ein nervöser kleiner Deutscher, der versuchte, die Umsitzenden mit seiner Begeisterung zu erfüllen. Er hatte ein Leben lang gespart für diese Reise. Er war Oberlehrer in Hamburg. »Das ist Ithaka«, sagte er aufgeregt, »dort wohnte Eumaios, der Schweinehirt, und dort sehen Sie den Weg, dort genau war es, wo Telemach seinem Vater Odysseus entgegenging«. Kein Mensch hörte ihm zu. Einer hatte ihm den Liegestuhl weggenommen. Er sagte zu dem Mann: »It is not noble of you.« Ein rührender hilfloser Mensch. Würde er später zu den Vernichtern oder den Vernichteten gehören?
Ein Herr borgte mir eine illustrierte Zeitschrift. Koffer bildeten die Staffage für eine Dame in Tweed. Filmschauspielerinnen trugen crèpe de chine-Nachthemden. Das Meer war ein Mittel, um Strandanzüge, Schwimmhosen und Büstenhalter zu zeigen. Dazwischen gab es eine Geschichte von einem Mord im Palacehotel. Ich drehte die Zeitschrift um, und was stand darauf? Nichts geringeres als Das Leben.
Das sahen sich Millionen Menschen im Kino an und das war ihre Lektüre. Das alles, dachte ich, ist zum Untergang reif. Ich hatte eine Offenbarung empfangen. Ich wußte, was das Leben ist von Uranfang an. Fische fangen im Meer, mit seinem Mann schlafen, Kinder zur Welt bringen, Kinder sterben sehen, krank werden, zurückgebracht werden zum Staube, aus dem man genommen ward. So war das wahre Leben, das himmlische unbewußte Leben.
Diese meine Sehnsucht und diese meine Offenbarung waren keine private Offenbarung und keine private Sehnsucht. Hunderttausende hatten die gleiche Sehnsucht. Es war das Mißbehagen an der Kultur. Es war eine von den Ingredienzen, aus denen der Nazipudding gekocht wurde.
Der regierende Engländer war das, was wir in Preußen albern genannt hätten. Aber schon am ersten Tag der Reise wurde mir klar, daß ich es mit einer überragenden Intelligenz zu tun hatte. Jeden Morgen rief er mir entgegen: »Hallo, what about the love story of the fat Englishman?« »Sorry, no material«, sagte ich. So fing der Tag an und so setzte sich das fort bis zum Abend. Ich nannte ihn von Zeit zu Zeit zu mir selber »Geheimrat« oder »Excellenz«, um mir den Unterschied klarzumachen. In Deutschland hatte man Probleme, in Deutschland hielt man immer eine Fahne hoch, in Deutschland war es unfein, es sich so wohl wie möglich sein zu lassen. Man hatte zu leiden: unter der Schande des Versailler Vertrags, unter dem Mangel an Sozialisierung oder unter sonst was.
Am tollsten war es, als wir von Brindisi abfuhren. Der dortige Konsul sprach mit zwei winzigen Kinderfähnchen Flaggensprache, noch dazu auf zwei Kisten stehend. Unserer erwiderte im Stil eines englischen Clowns. Ich hatte nicht gewußt, daß hohe Beamte, Männer von vierzig Jahren sich so wie lustige Schuljungen benehmen konnten, und obwohl mir klar war, daß der Lustige Schuljungen-Ton genau so ein Comment war wie das Hackenschlagen der preußischen Offiziere, war es eine beneidenswerte Haltung.
Am selben Tag hatte ich grundlegenden politischen Unterricht von ihm empfangen.
Mir waren zwar immer die zu weiten Breeches und zu hohen Kragen der italienischen Offiziere auf die Nerven gegangen, aber Mussolini erschien mir doch als Nachfolger Cäsars. Und Cäsar liebte ich nach der Darstellung Mommsens, und weil man uns in der Schule gelehrt hatte, Cäsar zu bewundern. Als ich mit dem Engländer durch Brindisi ging, kamen wir an einem Denkmal vorbei, an dem mit goldenen Buchstaben stand: »Hier ruht der heldenhafte Roberto Giuseppe Schniprikapazzo, der im heroischen Kampf gegen die roten Verbrecher sein junges wertvolles Leben um des Vaterlandes willen aushauchte. Evviva Italia, evviva il Duce.«
Der Engländer las das durch, dann blies er sich auf, hob die gekrümmten Arme bis zur Brust. Es machte den heldenhaften Schniprikapazzo endgültig lächerlich. »So sehen Sie das?« sagte ich.
»Wie denn sonst?«
»Sie glauben also nicht, daß Mussolini den Wohlstand Italiens hebt, für Ruhe und Ordnung sorgt?«
Der Engländer quakte mit cäsarischen