Tag X. V. S. Gerling
wohin ich wollte, hoffte ich, er würde ein klein wenig in seiner Aufmerksamkeit nachlassen. Immerhin hatte er mich schon ein paar Mal hierher begleitet. Also drehte ich mich abrupt um und kam ihm plötzlich entgegen.
Ich erkannte ihn sofort, da auch sein Foto auf meinem Esstisch lag.
Eine Sekunde lang starrte er mich entsetzt an, dann drehte er sich zur Seite und tat so, als hätte er etwas unfassbar Interessantes in einem Schaufenster entdeckt.
Dass da nur Nachthemden für ältere Damen gezeigt wurden, war einfach nur Pech.
Als ich auf seiner Höhe war, machte ich einen blitzartigen Schritt auf ihn zu und trat ihm von hinten in die rechte Kniekehle. Das tat, wie ich aus eigener Erfahrung wusste, höllisch weh.
Er stöhnte auf und knickte mit dem rechten Bein ein. Ich stellte mich seitlich neben ihn, drückte ihm meine Handfläche ins Gesicht und streckte mein rechtes Bein.
Er hatte keine Chance, stehen zu bleiben und sank wie ein nasser Sack zu Boden.
Ich hockte mich seitlich neben ihm. »Wer hat dich geschickt?«, schrie ich ihn an. »Verfassungsschutz? Oder das Innenministerium?«
Er glotzte mich verdutzt an und warf hektische Blicke hinter mich auf die andere Straßenseite.
Dort stand sein Kumpel und telefonierte panisch gestikulierend.
Ich wandte mich wieder dem am Boden Liegenden zu. »Nochmal: Wer. Hat. Dich. Geschickt?«
Er versuchte vergeblich, sich zu befreien.
Nur so zum Spaß verstärkte ich den Druck auf seinen Hals.
»Kann ich nicht sagen. Aber ich bin weder vom Verfassungsschutz noch von irgendeinem Ministerium«, presste er hervor.
»Ausweis?«
»Rechte Innentasche.«
»Vorsichtig rausholen.«
Er holte den Ausweis sehr behutsam aus der Innentasche und gab ihn mir.
»Rüdiger Ehrmann. Aha.« Ich machte mit meinem Handy ein Foto seines Ausweises.
»Steh auf«, sagte ich ihm. Er versuchte es, aber sein Bein tat wohl immer noch sehr weh. Ich hielt ihm die rechte Hand hin. Er griff zu und ich zog ihn auf die Beine. Sein Kumpel kam nun zu uns.
Er reichte mir sein Handy. »Da möchte Sie jemand sprechen.«
Ich sah ihn kurz an. Auch sein Bild lag bei mir zu Hause auf dem Tisch.
Ich nahm das Handy. »Eichborn.«
»Herr Eichborn, mein Name ist Dietrich, bitte entschuldigen Sie die Umstände der Kontaktaufnahme.«
»Ich entschuldige gar nichts, bis ich weiß, was hier los ist.«
»Das kann ich sehr gut verstehen. Ich schlage ein persönliches Treffen vor.«
»In einer Stunde. In meinem Büro. Ich bin sicher, Sie wissen, wo das ist.«
»Bitte sehen Sie es mir nach, wenn ich für unser erstes Treffen einen neutralen Ort bevorzugen würde. Aber der Zeitrahmen ist akzeptabel.«
»Okay, wo wollen wir uns treffen?«
20
»Offenbar haben wir Sie unterschätzt.«
Olaf Dietrich
Sobald ich in meinem Wagen saß, sendete ich Helen eine Kurznachricht über das Prepaid-Handy, sodass sie wusste, wo und wann ich Dietrich treffen würde. Anschließend machte ich mich auf den Weg in das Restaurant. Es war eines dieser Edel-Teile, von denen ich nichts hielt, da die Portionen klein, aber schweineteuer waren.
Ein paar Mal musste ich in solchen Sternerestaurants essen gehen und jedes Mal verließ ich es hungrig.
Ist doch nicht normal so was.
Sobald man eintrat, fiel schon ein Ober über einen her und verlangte zu wissen, ob man reserviert hatte. Der Laden war leer und er wollte wissen, ob ich einen Tisch vorbestellt hatte.
»Er gehört zu mir«, rief jemand aus einer Ecke, die ich nicht einsehen konnte.
Der Ober brachte mich zu der Stimme und verschwand wieder.
Das Spiel kannte ich schon. Es gab einen, der brachte den Gast zum Tisch. Ein anderer übergab die Getränkekarte und ein dritter war fürs Essen zuständig. Unfassbar.
Ein dünner, sehr unscheinbarer Mann mittleren Alters in grauem Anzug stand auf und streckte mir die rechte Hand entgegen. »Olaf Dietrich. Schön, Sie kennenzulernen, Herr Eichborn.«
Ich ergriff die Hand nur zögerlich. »Ob ich mich freue, weiß ich noch nicht …«
Dietrich machte eine einladende Geste. »Bitte, setzen Sie sich.«
Ich setzte mich.
Dietrich sah mich neugierig an. »Woran haben Sie gemerkt, dass Sie beschattet worden sind?«
»Das habe ich gar nicht bemerkt. Aber ich lasse mein Auto seit Monaten jeden Tag auf Peilsender überprüfen. Und als mein Bekannter einen fand, war klar, dass ich beobachtet werde. Also habe ich vier Männer damit beauftragt, mir ständig zu folgen und auf Typen zu achten, die mich observierten. Sie sollten Fotos von denen machen. So wusste ich recht schnell, wie viele Leute mir folgten und wie sie aussahen.«
Dietrich schmunzelte. »Offenbar haben wir Sie unterschätzt.«
»Wer ist wir und was wollen Sie von mir? Oder fangen wir doch am besten damit an, dass Sie mir verraten, warum Sie so einen Aufwand betreiben, herauszufinden, was ich den ganzen Tag so mache.«
»Mir ist klar, dass Sie eine Menge Fragen haben, Herr Eichborn. Und ich werde versuchen, jede einzelne zu beantworten. Aber bitte gestatten Sie mir zunächst, Ihnen zwei Fragen zu stellen.«
»Sie zahlen die Rechnung, also fragen Sie.«
»Gut. Erste Frage: Aus welchem Grund haben Sie meinen Mitarbeiter, ich meine den Mann, den Sie überwältigt haben, gefragt, ob er für den Verfassungsschutz arbeitet? Übrigens, meinen Respekt, Sie haben einen kampferprobten Kommandosoldaten auf die Bretter geschickt.«
Ich schüttelte den Kopf. »Das war eine hinterhältige Attacke von hinten. Für Respekt gibt’s da keinen Grund. Darüber hinaus haben Sie Ihren Leuten mit Sicherheit eingebläut, kein Aufsehen zu erregen. Hätte er es gewollt, hätte er mich fertig machen können. Und was Ihre Frage betrifft, seit ich den Staatsdienst verlassen habe, gab es mehrere Versuche seitens der Behörden, mich zu gewissen Kooperationen zu nötigen. Anfangs willigte ich ein, der alten Zeiten wegen und so. Aber recht schnell wurde deutlich, dass sie mich als Sündenbock benutzen wollten für den Fall, dass etwas schiefging. Ich werde nicht gerne verarscht und das habe ich gegenüber diesen Personen auch deutlich gemacht.«
Er hatte mir vollkommen hingerissen zugehört und dabei unentwegt die Hände gerieben. Entweder war ihm kalt, oder er war nicht ganz klar in der Birne. Auf jeden Fall fing ich allmählich an, den werten Herrn Dietrich gruselig zu finden.
»Vielen Dank für Ihre Offenheit, Herr Eichborn. Kommen wir zur letzten Frage: Würden Sie dem aktuellen Regierungssystem auch nur eine einzige Träne nachweinen?«
»Das ist eine sehr merkwürdige Frage«, stellte ich fest.
Er sagte nichts, sah mich nur erwartungsvoll an.
»Ich vermute, Sie haben die Talkshow von Kuhlmann gesehen?«
»Selbstverständlich habe ich die gesehen. Gab es eigentlich Resonanzen wegen dem, was Sie gesagt haben? Ich meine vor allem von ehemaligen Kollegen.«
»Jede Menge. Vor allem E-Mails, in denen ich als Verräter oder einfach nur als Arschloch betitelt worden bin. Und auch Fanpost von irgendwelchen glatzköpfigen Bomberjackenträgern.«
»Das war zu erwarten«, sagte er heiter.
Nun, ich hatte daran