Düsterstrand. Meike Messal

Düsterstrand - Meike Messal


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Schnell riss Laura sich von den Fotos los und folgte Charlotte in die große, geräumige Küche. »Wow«, sagte sie, und blickte auf den Tisch, der über und über mit bunt gepackten Geschenken beladen war. In der Mitte prangte eine riesige Schokoladentorte mit einer 18 darauf. Überall brannten Kerzen – ebenfalls achtzehn Stück, wie Laura vermutete, und auf einem Teller türmten sich die Crêpes.

      »Oh Mann, Oma … du bist einfach die Beste!« Mit einem Satz war Laura am Tisch, rollte einen der dünnen Pfannkuchen zusammen und schob ihn sich in den Mund.

      Charlotte rollte theatralisch mit den Augen. »Nun setz dich doch erst!«, rief sie. »Aber halt, herzlichen Glückwunsch, du Große!« Liebevoll drückte Charlotte ihre Enkelin an sich. Dann schob sie Laura ein Stück nach vorne, hielt sie aber an der Schulter fest und blickte sie ernst an. »Ich bin so stolz auf dich«, sagte sie. »Du bist eine Kämpferin und hast das Herz einer Löwin.«

      Laura atmete tief ein und schloss für einen Moment die Augen. Sie kam sich gerade überhaupt nicht wie eine Löwin vor. Jetzt nur nicht an das Foto denken. Nicht an ihre Eltern, nicht an Paul. Sie schluckte erneut, spülte den Schmerz hinunter.

      »Ich habe einen Bärenhunger!«, rief sie, löste sich aus der Umarmung und setzte sich an den Tisch.

      »Das ist immer noch mein Mädchen!« Zufrieden schob Charlotte ihr gleich mehrere Crêpes auf den Teller. »Aber erst musst du die Kerzen auspusten und dir etwas wünschen!«

      »Natürlich!« Laura lehnte sich nach vorne und holte tief Luft. Den Wunsch brauchte sie nicht mehr formulieren. Er war sofort da, in ihrem Kopf, nicht nur an ihrem Geburtstag, sondern an jedem verdammten Tag. Seit zehn Jahren.

      »Ich will Paul wiederhaben«, dröhnte es in ihr. »Ich will ihn zurück. Bitte lass ihn nach Hause kommen.«

      3

      Die Stille in ihrem Zimmer klingelte in den Ohren. Schnell drückte Laura ein paar Tasten auf dem Handy, stellte die Lautstärke hoch und genoss den Gesang von Lena, der sich wohltuend über ihre aufgewühlten Gedanken legte. Zum Takt der Musik wippend ging sie zu ihrem Kleiderschrank hinüber und fuhr mit den Fingern über die Kleiderbügel. Was sollte sie bloß anziehen? Es war ja nicht so, dass man jeden Tag achtzehn wurde. Heute Nacht würden sie feiern. Auf der Reeperbahn. Endlich, so lange sie wollte und in jedem Club. Sie war die Letzte ihrer Freundinnen, die den großen Schritt in die Volljährigkeit machte. Jetzt durfte sie gemeinsam mit Emily, Klara und Jule tun, was sie wollte, feiern bis in den Morgen, trinken, wonach ihnen der Sinn stand. Seit Monaten hatte sie sich auf diesen Tag gefreut.

      Doch warum hatte sie dann dieses komische Kratzen in der Kehle? Lauras Blick wanderte an den Kleiderbügeln hinunter, ganz nach unten in den Schrank. Dort auf dem Boden lag eine zusammengeknüllte Decke achtlos zwischen mehreren alten T-Shirts und einem Schlafsack.

      Langsam hockte sich Laura hin und schob die Decke beiseite. Darunter kam eine Holzschatulle zum Vorschein, die in der hintersten Ecke des Schrankes verborgen war. Laura zog sie hervor und ließ dann ihre Finger sachte auf dem Deckel ruhen. Mit einem Seufzer sank sie zu Boden und klappte die Kiste auf, langsam, als hätte sie Angst, sie würde die Büchse der Pandora öffnen und alles Unheil über sich und die Welt bringen.

      Da lag es, das kleine Stofftier. Ein Igel, mit schwarzen, kullerrunden Knopfaugen, einem grünen Halstuch und weichen, braunen Stacheln. Laura nahm ihn heraus, drückte ihn erst an ihre Wange, dann an die Nase. Ein bisschen roch er immer noch nach Paul. Das glaubte sie zumindest. Paul hatte so oft nach »draußen« gerochen, nach frischem Wind, gemähtem Gras, über das er so gerne rannte, und nach feuchter Erde. Wenn er abends im Bett lag, war sie zu ihm gekrochen und dann hatte ihre Mutter ihnen vorgelesen. Anschließend hatte sie die Geschwister mit den gar nicht stacheligen Stacheln des Igels so lange durchgekitzelt, bis einer von ihnen es nicht mehr aushielt und mit vom Lachen nassen Wangen Stopp gerufen hatte.

      Laura lächelte bei der Erinnerung. Sie legte den Igel auf ihr Knie und griff nach einem Stapel Fotos, der sich ebenfalls in der Kiste befand. Sie alle auf Fehmarn, gerötete Wangen, blitzende Zähne. Jedes Jahr hatten sie den Sommer dort verbracht. Ihre Mutter hatte erzählt, dass sie schon mit ihr auf die Insel gefahren waren, als sie erst zwei Monate alt war. Auch davon gab es ein Bild in der Schachtel. Laura auf dem Arm ihres Vaters, ein winziges Bündel, vor dem Ferienhaus in der Nähe von Burg. Hinter dem Haus glänzte das Meer hellblau.

      Das Kratzen in Lauras Kehle wurde stärker. Schnell legte sie die Fotos neben sich auf den Boden und nahm den erstbesten Gegenstand in die Hand. Eine Kette ihrer Mutter. Ihre Lieblingskette, ein silbernes Band mit einem runden Anhänger, in den Blumen eingraviert waren. Jede Blüte war ein kleiner Diamant. Laura wog die Kette in ihrer Hand und es war, als würde das federleichte Gewicht ihren Arm tonnenschwer nach unten drücken. Sie ließ die Kette auf die Fotos gleiten, zögerte, schloss kurz die Augen, musste schlucken, als ihre Finger den Zettel in der Schatulle berührten. Sie nahm ihn heraus, wollte ihn auseinanderfalten, aber ihre Hände zitterten so stark, dass er ihnen entglitt.

      Hastig hob sie ihn auf, steckte ihn in die Kiste zurück, stopfte die Kette und den Igel hinein und griff dann nach den Fotos. In der Eile fielen die jedoch ebenfalls herunter, verteilten sich auf dem Boden. Lauras Puls raste. Überall ihre Eltern und Paul. Sie lachten sie an, ihre Gesichter, auf dem Teppich, von überall lachten sie. Doch es war ein trauriges Lachen, ein böses Lachen.

      Wo bist du, Laura?, riefen sie. Warum bist du noch da und wir nicht? Warum hast du uns nicht geholfen, Laura?

      4

      »Oh mein Gott!« Jule hatte sich links bei Laura untergehakt, rechts zog Emily an ihr und Klara lief vor ihnen über den Bürgersteig. Sogar ihr Rücken strahlte Glück aus.

      »Es ist so krass, ist euch das klar? Wir sind alle volljährig«, fuhr Jule fort. Beim letzten Wort war ihre Stimme in die Höhe geschossen. Sie waren an der U-Bahn St. Pauli ausgestiegen und standen nun mitten auf der Reeperbahn. Es war Samstagabend, auf der Straße bewegten sich die Menschenmassen vorwärts. Touristen, die einmal die berühmte Hamburger Meile sehen wollten, junge Menschen, die in Feierstimmung waren, aufgetakelte Frauen, bei denen sich Laura immer wieder fragte, wie sie in den hochhackigen Schuhen auch nur einen Meter laufen konnten, und größere Gruppen alkoholisierter Männer, die alberne Hütchen oder rosa T-Shirts trugen und unentwegt aus Bauchläden Schnaps tranken.

      Die vier Mädchen drängelten sich durch die Menschenmenge vorwärts. Neben ihnen grölten ein paar junge Männer so laut, dass Klara fast schreien musste: »Sag mal, kommt Jan eigentlich auch?«

      »Ich weiß nicht.« Laura versuchte, cool zu klingen, aber es gelang ihr nicht recht.

      Klara schüttelte den Kopf. »Mensch, Laura, du wolltest ihm doch Bescheid sagen. Einen besseren Grund als deinen achtzehnten Geburtstag gibt es wohl nicht.«

      Laura fuhr sich durch die Haare. Sie hatte versucht, sie zu glätten, allerdings wandten einige Locken sich bereits wieder unkontrolliert von ihrem Kopf ab. »Ich weiß, ich weiß. Ich wollte ja auch, aber dann war plötzlich schon der Abiball, alle lagen sich in den Armen, und diese blöde Kuh hat sich die ganze Zeit an ihn rangeschmissen … ich bin gar nicht mehr dazwischengekommen …«

      »Du redest nicht schon wieder von Katharina, oder?« Mit Schwung drehte sich Klara zu ihrer Freundin um. »Wie oft soll ich es dir noch sagen, von der will er nichts.«

      »Ach, als ob du das so genau wüsstest. Wahrscheinlich hat er es dir in einer ruhigen Minute gesagt, oder was?«, fragte Laura sarkastisch.

      »Nein, das nicht gerade.« Klara blieb stehen und grinste ihre Freundin an. »Aber er hat sofort zugesagt, als ich ihn für heute Abend eingeladen habe. Und er hat dabei ziemlich glücklich ausgesehen.«

      »Du hast was?« Plötzlich floss das Blut heißer durch Lauras Körper. Ihr war, als würde ihr Herz sich selbstständig machen und davongaloppieren.

      »Schon gut, habe ich gern gemacht.« Klaras Grinsen wurde breiter. »Er wartet schon im Molotow auf uns. War ja klar, dass wir da zuerst hingehen.«

      Laura schüttelte den Kopf und blickte kritisch an sich hinunter. Sie hatte ewig


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