Düsterstrand. Meike Messal
Junge, der spurlos verschwunden war. Nicht weggelaufen, bestimmt nicht. Das hätte er niemals getan. Er war doch gerade erst sieben Jahre gewesen, ein fröhliches, offenes Kind. Die Polizei hatte deshalb in alle Richtungen ermittelt. Ein Unfall? Oder hatte ihn jemand entführt? Aber sie hatten nie etwas gehört. Keine Lösegeldforderung. Kein Lebenszeichen. Es war, als hätte es Paul nie gegeben.
Nicht für Laura. Sie wusste, er lebte. So musste es sein. Er lebte und es ging ihm gut. Er hatte eine Familie, die sich um ihn kümmerte. Die immer so einen kleinen Jungen gewollt hatte wie ihn. Die ihn liebte. Irgendwo auf dieser Welt lebte und lachte er.
Ihm ging es gut. Ihr ging es gut. Und so würde es bleiben.
Mit einer energischen Handbewegung schob sie die Fotos zusammen, legte sie zurück in die Schachtel, schloss die Schatulle und schob sie in den Schrank. Sorgfältig breitete sie die Decke darauf aus, zog dann ihre alten T-Shirts herbei und stapelte sie darüber.
Ohne sich auszuziehen ließ Laura sich ins Bett fallen, wischte die Tränen von ihrem Gesicht und löschte das Licht.
8
Unschlüssig stand Laura auf dem Rathausplatz. Sie war mit ihrer Großmutter in der Sparkassenhauptzentrale gewesen, weil Charlotte der Ansicht war, dass Laura mit achtzehn über ihre Finanzen Bescheid wissen müsse. Erstaunt hatte sie von Herrn Meyer erfahren, dass ihre Eltern ein Sparbuch für sie angelegt hatten, das sie mit Beginn ihrer Volljährigkeit bekommen sollte. Obwohl seit Jahren nichts mehr eingezahlt worden war, hatten sich darauf doch mehr als 10.000 Euro angesammelt. Als sie geboren wurde, hatten ihre Eltern schon eine ordentliche Summe bereitgestellt und auch in den Jahren danach nicht geknausert.
Wow, was für ein Batzen! Damit würde ihr das Studium gleich viel leichter fallen, sie würde nicht von Anfang an arbeiten müssen. Obwohl sie sich in Hamburg sehr wohl fühlte, wollte sie auf eigenen Füßen stehen und hatte sich in Kiel für einen Platz der Medienwissenschaft beworben. Mit ihren Noten sah es gut aus, sie würde zum Wintersemester beginnen können.
Charlotte war nach dem Sparkassentermin gleich wieder nach Hause gefahren, aber Laura hatte noch ein wenig durch die Stadt bummeln wollen. Inzwischen brannte die Sonne auf sie herunter. Es war ungewöhnlich heiß für die Hansestadt. Viele Touristen hatten es den Asiaten gleichgetan und Regenschirme als Sonnenschutz aufgespannt. In dieser für Nordlichter doch recht lächerlichen Montur standen sie an der Alster und fütterten die Schwäne und Enten.
Gedankenverloren betrachtete sie die vielen Menschen. An der Treppe, die zur Alster hinunterführte, befand sich ein junges Paar, das sich angeregt unterhielt. Die Frau hielt dabei den Buggy ihres Sohnes fest in der Hand. Der kleine Junge stand derweil neben den beiden und schleckte friedlich an seinem Eis. Als er jedoch einen großen, weißen Schwan entdeckte, der majestätisch zu den Enten hinüberschwamm, kam Bewegung in ihn. Bevor Laura sich versah, war er die Stufen hinuntergestolpert und lief mit seinem kleinen, ausgestreckten Armen genau auf das Wasser zu. Niemand nahm davon Notiz, die Eltern waren nach wie vor in ihr Gespräch vertieft. Laura sprintete los, raste, immer drei Stufen auf einmal nehmend, die Treppe hinunter und warf sich vor ihn, gerade, als er einen Schritt über die Steinkante hinaus in das Wasser machen wollte. Der Junge fiel über sie und blieb auf ihr liegen. Schweratmend hielt Laura ihn fest.
In der Sekunde war die Mutter bei ihr. »Oh mein Gott«, rief sie, »Was machst du denn, Lian?« Sie hob das Kind hoch, dann drehte sie sich zu Laura um. »Vielen Dank«, sagte sie, lächelte kurz, drückte den Jungen an sich und eilte mit ihm zurück zu dem Vater, der mit offenem Mund dastand. Laura betastete vorsichtig ihr Knie. Sie hatte es sich bei dem Sturz aufgeschlagen. »Ja, hey, hab ich doch gern gemacht«, rief sie der Frau hinterher, die jedoch schon das Kind in den Buggy steckte und wild auf ihn einschimpfend mit dem Vater davondampfte.
Kopfschüttelnd sah Laura ihnen nach. Ihr Blick fiel auf das Café schräg gegenüber. Vorsichtig stand sie auf. Jetzt ein riesengroßer Eisbecher mit frischen Erdbeeren. Schon bei dem Gedanken lief ihr das Wasser im Mund zusammen.
Sie humpelte über die Brücke, die Stufen zum Café hinunter und setzte sich an einen der wenigen freien Tische über dem Wasser. Entspannt lehnte sie sich nach hinten und genoss die warmen Sonnenstrahlen. Wie sie den Sommer liebte! Das Lachen der Menschen, die warmen, braungebrannten Gesichter, auf denen das Lächeln viel häufiger erschien als im Winter. Die langen, hellen Tage, die die Dunkelheit fernhielten. Draußen und im Herzen. Überall. Im Sommer war der Schmerz leichter als im Winter, verlor ein wenig von seinen tiefschwarzen Schattierungen.
Noch während die freundliche Kellnerin den Eisbecher vor ihr abstellte und mitleidig auf ihr blutendes Knie schaute, fiel Lauras Blick auf das »Hamburger Abendblatt«. Es lag achtlos hingeworfen am Rand ihres Tisches. Sie schob es beiseite und wollte sich gerade einen Löffel in den Mund schieben, den sie mit Eis vollgeladen und einer Erdbeere gekrönt hatte, als ihr eine Überschrift ins Auge stach. Klein war sie und stand ganz links unten. Aber Lauras Herz setzte einen Schlag aus. Junge noch immer verschwunden, las sie. Ruckartig folgten ihre Augen den Zeilen. Vor lauter Schreck vergaß sie, zu schlucken, hustete.
Ein Junge war spurlos verschwunden, erst sieben Jahre alt. Und es war nicht in Hamburg passiert. Nein, er war auf Fehmarn verschollen. Seit knapp einer Woche schon, und es gab überhaupt keine Spur. Es war, als hätte es ihn nie gegeben.
9
Das konnte nicht sein. Er musste sich täuschen. Oder war er vielleicht schon im Himmel? Aber dort würde ihm nicht mehr alles so wehtun. Vorsichtig blinzelte er. Spürte den kalten Boden unter sich, sein Fußgelenk, das noch immer gegen den Eisenring scheuerte.
Doch es duftete wie im Paradies. Himmlisch. Nach gebratenem Fleisch. Nach Kartoffeln. Er schloss erneut die Augen und schnupperte. Roch es nicht sogar ein bisschen nach Vanillepudding?
»Schau zu mir!«
Er starrte den Mönch an, der groß und erhaben vor ihm stand. Oh nein, das war nicht das Paradies. Er war noch immer in der Hölle.
Der Mönch trug etwas in der Hand. War das etwa …? Ganz vorsichtig, als könnte sich durch eine seiner Bewegungen das Bild vor ihm in Luft auflösen, hob er den Kopf.
Ohne das Gesicht zu verziehen, starrte der Mönch ihn an. Dann stellte er ein Tablett vor ihn auf den Boden. Auf einem großen Teller lag ein Schnitzel, garniert mit einer Zitrone, dazu Kartoffelbrei. Und – er mochte seinen Augen kaum trauen – daneben thronte tatsächlich eine Schale Pudding. Sein Magen begann zu knurren, Wasser sammelte sich in seinem Mund.
Der Mönch hockte sich hin, sein Gesicht war nur wenige Zentimeter von seinem entfernt. Er roch seinen abgestandenen Atem. »Du wirst nichts von dem hier essen«, sagte er.
Er schluckte, begriff nicht. Was? Der Hunger tat ihm in seinem Bauch weh, er konnte nicht mehr richtig denken und …
»Nichts, hast du mich verstanden?«, klang es ganz dicht an seinem Ohr.
Nein! Nein, er verstand nicht! Was sollte das? Wieso stellte er das Essen dorthin, wenn er es nicht anrühren durfte? Gerade wollte er die Frage stellen, als ihm einfiel, was der Mönch gesagt hatte. Rede nur, wenn du dazu aufgefordert wirst. Und er durfte jetzt nicht wieder gehen. Jedenfalls nicht mit dem Essen.
Der Mönch erhob sich. Ja. Ja, er ließ das Tablett da. Es stand immer noch vor ihm. Blinzelnd sah er zu dem Mönch auf.
»Ich sage es dir nur noch einmal«, sagte der ganz ruhig. »Du wirst nichts essen.« Er machte eine Pause. »Wenn du es doch tust«, fügte er schließlich hinzu, »wirst du dir wünschen, nie geboren zu sein.« Damit drehte er sich um, und schob die schwere Eisentür hinter sich zu. Der Schlüssel quietschte im Schloss.
Dir wünschen, nie geboren zu sein? Was sollte das heißen? Er saß zusammengekauert auf dem Boden und starrte auf das Tablett mit dem Essen. Er hatte nur verstanden, dass er es nicht anrühren sollte. Dieses Essen, das so himmlisch roch. Das Essen, das er nicht essen durfte.
10
»Später, Oma. Ich habe keinen Hunger!« Laura lag auf ihrem Bett, das Handy in beiden Händen.
Charlotte stand