Düsterstrand. Meike Messal

Düsterstrand - Meike Messal


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Ja, natürlich.« Wiebke griff nach Lauras Hand. Dabei schwankte sie so, dass Laura Angst hatte, sie würde umkippen. »Ich hätte dich nicht erkannt. Du … du bist ja erwachsen, natürlich. Wie lange haben wir uns nicht gesehen?« Ihre Stimme klang fahrig.

      »Neun Jahre.« Mit einem Mal fühlte Laura sich fürchterlich zittrig.

      »Neun Jahre«, wiederholte Wiebke. »Seit der Beerdigung.« Dann seufzte sie tief. »Und genau jetzt tauchst du hier auf.«

      »Ich versteh nicht ganz …« Lauras Blick wanderte hilflos zwischen Wiebke und der Sekretärin hin und her. Beide Frauen starrten sie an.

      »Er ist weg.« Wiebke flüsterte. Sie krallte sich in Lauras Arm. »Du musst doch davon gehört haben. Er ist verschwunden.«

      »Meinst du … meinst du den Jungen? Tom?« Auch Laura sprach leise, heiser.

      »Natürlich Tom.« Die Sekretärin fixierte Laura kalt. »Es geht doch ständig durch die Presse.«

      Laura biss sich auf die Lippe. Ja, das wusste sie doch, aber nicht …

      Wiebkes Stimme war immer noch leise. Doch sie bohrte sich in Lauras Gehirn: »Tom. Der Junge, der spurlos verschwunden ist. Er ist mein Enkel.«

      15

      Ihm war schlecht. Oh Gott, wie sein Bauch wehtat. Stöhnend schob er das Tablett mit einem Fuß von sich. Den Teller hatte er abgeleckt, ebenso die Schale mit dem Pudding, nachdem er alles in sich hineingeschlungen hatte. Jetzt hatte er fürchterliche Bauchschmerzen. Erneut beugte er sich nach vorne, die Arme fest an seinen Bauch geschoben, als ein weiterer Krampf seinen Körper beben ließ. »Lieber Gott, bitte«, stöhnte er. Schweißtropfen rannen über sein bleiches Gesicht.

      Diesmal war es ihm egal, als er den Schlüssel in dem rostigen Schloss hörte. Er hatte nicht die Kraft, den Mönch anzusehen, der kerzengerade im Türrahmen stand.

      »Du hast gegessen!« Scharf wie eine Sichel durch hohes Gras schnitt die Stimme durch den Raum. »Ich habe dir gesagt, dass du nicht essen darfst.«

      »Bitte!« Es fiel ihm schwer, zu sprechen, keuchend pfiff er das Wort heraus. »Bitte, ich will zu Mama.«

      Er sah den Schlag nicht kommen. Sein Kopf stieß hart gegen die kalte Mauer und für einen Moment war er wie benommen. Dann kam der Schmerz und er heulte auf.

      »Was habe ich dir gesagt? Du redest nur, wenn du dazu aufgefordert wirst!« Mit einer schnellen Bewegung hatte sich der Mönch gebückt und die Fessel um seinen Fuß geöffnet.

      Er keuchte. Lauf! Lauf weg! Mühsam rappelte er sich auf, stützte sich auf seine Hände, knickte weg. Ein erneuter Krampf schüttelte seinen Körper.

      Ausdruckslos starrte der Mönch auf ihn hinab. Dann packte er ihn plötzlich am Arm, zog ihn nach oben und hielt ihn angewidert von sich weg, als sei er ein lästiges Insekt. Er seufzte schwer. »Ich glaube, wir haben uns immer noch nicht verstanden. Du musst genau das tun, was ich dir sage. Dafür wirst du belohnt. Wenn du aber nicht gehorchst …« Sein Griff verstärkte sich, die Finger krallten sich in seine Haut. »Ich habe dich gewarnt. Du bist selber schuld.«

      Grob packte er ihn und zog ihn hinter sich her. Schleifte ihn über den Boden, durch die Tür in einen langen Gang. Neonröhren an der Decke erleuchteten diesen hell und tauchten ihn in ein grünliches Licht. Rechts und links führten viele Türen in weitere Räume, große, schwere Eisentüren, so wie seine.

      Oh Gott, wo war er hier gelandet, ein riesiges Gefängnis war das, überall nur Türen, Kacheln und kaltes Licht. Er hatte gedacht, dass er froh sein würde, wenn er endlich aus seinem finsteren Raum kommen würde. Doch jetzt hatte er nur noch Angst. »Wohin bringst du mich?«, flüsterte er.

      Der Mönch gab ihm keine Antwort. Mit großen Schritten eilte er den Gang hinunter, schleifte ihn mühelos hinter sich her. Schließlich hielt er vor einer Tür und stieß sie auf.

      Der Junge schloss die Augen. Denn mit einem Mal überkam ihn die fürchterliche Gewissheit, dass er die Hölle noch gar nicht gesehen hatte. Die Hölle fing jetzt erst an.

      16

      Wiebke reichte Laura die Teetasse mit zitternden Händen. Schnell griff sie nach dem Becher. Wiebke ließ sich neben ihr in den Strandkorb fallen. Jeder andere hätte beim Anblick des wunderschönen Gartens wohl zumindest anerkennend genickt. Der Strandkorb stand inmitten einer Oase von blühenden Pflanzen. Überall waren kleine Blumeninsel zu finden, die dem sorgfältig geschnittenen Rasen leuchtende Farbtupfer verliehen.

      Doch Lauras Blick schweifte in die Ferne. Geistesabwesend nippte sie an dem heißen Getränk. Es war inzwischen Nachmittag und die Sonne stach nach wie vor von einem strahlend blauen Himmel herunter. Fehmarn machte seinem Namen als Sonneninsel alle Ehre. Eigentlich völlig verrückt, jetzt Tee zu trinken. Laura traten kleine Schweißperlen auf die Stirn.

      Wiebkes Atem raste, so, als sei sie einen anstrengenden Marathon gelaufen. »Du musst mir das noch mal erklären«, bat sie. »Warum bist du nach zehn Jahren zurückgekommen? Seit der Beerdigung deiner Eltern habe ich nichts mehr von dir gehört …« Sie stockte. »Ich meine, du warst ja noch ein Kind. Ich hätte mich melden sollen. Aber ich wusste nicht, was ich dir sagen sollte. Es gab keine tröstenden Worte. Es war so schrecklich, alles! Ich habe einfach versucht, zu vergessen.«

      »Ich weiß.« Laura sah sie an. »Das haben wir alle versucht.« Sie seufzte tief, suchte nach Worten. »Ich … ich habe mir immer vorgestellt, dass es Paul gutgeht. Dass er vielleicht spielen war, hinfiel, ohnmächtig wurde, aufwachte und nicht mehr wusste, wer er war. Ich meine, so was hört man doch immer wieder. So wusste keiner, wer dieser kleine Junge ist, und er kam zu einer anderen Familie. Die ihn liebte.«

      Wiebke fixierte eine Blume, studierte sie eingehend. »Das ist … das ist …«, murmelte sie und brach ab.

      »Ja, ich weiß. Ganz schön unrealistisch, oder? Vielleicht wurde er auch entführt. Aber dann von jemandem Netten, weißt du?« Sie flüsterte plötzlich. »Von einer Frau, die keine Kinder bekommen konnte und Paul jetzt wie ihren eigenen Sohn liebt.«

      »Von jemandem Netten«, wiederholte Wiebke und mit einem Mal waren die Tränen da, liefen über ihre Wangen, tropften auf die weichen Polster.

      Laura verbarg ihr Gesicht in beiden Händen. »Ich habe gar nicht mitbekommen«, sagte sie dumpf, »dass noch ein Junge verschwunden ist, ungefähr zu dem Zeitpunkt, als …«

      »Das stimmt!« Wiebke zog ein Taschentuch aus der Seitentasche des Strandkorbs hervor. »Wie hieß der Kleine noch mal? Fabian, oder?«

      »Finn.«

      »Ja, richtig.« Sie schluckte schwer, schnäuzte sich. »Und jetzt Tom! Aber … ich verstehe nicht. Zehn beziehungsweise neun Jahre später.« Sie schaute Laura mit großen Augen an. »Meinst du etwa, dass diese drei Fälle zusammenhängen?«

      Laura legte ihre Hände in den Schoss, zupfte an ihrer kurzen Jeans. »Ich weiß es nicht«, sagte sie. »Aber denk doch mal nach. Drei Jungen, die hier auf Fehmarn verschwinden. So was kann doch kein Zufall sein!«

      Wiebke setzte sich gerade hin, wischte die Tränen mit einer schnellen Handbewegung ab. »Vielleicht war er im Gefängnis«, sagte sie laut. Laura runzelte ihre Stirn. »Der Entführer«, fuhr Wiebke fort. »Er kidnappt die zwei Jungen, wird dann lange Zeit wegen einer anderen Straftat eingesperrt, kommt heraus und dann ... dann entführt er unseren Tom!«

      »Nein!« Lauras Stimme war scharf. »So war es ganz sicher nicht!«

      Erstaunt blickte Wiebke sie an.

      »So war es nicht«, wiederholte Laura stur.

      »Okay, okay!« Beruhigend legte Wiebke eine Hand auf Lauras Bein. »Ich weiß es doch auch nicht, ich überlege nur laut.«

      Laura nickte. »Aber so war es nicht«, sagte sie abermals. »Bitte!« So durfte es nicht gewesen sein, auf keinen Fall. Denn wenn der Mann – oder, wie sie lieber denken wollte, die nette Frau, die keine Kinder bekommen konnte – Paul und Finn entführt hatte und dann mehrere


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