Düsterstrand. Meike Messal
ratterte sie herunter: »Auf Fehmarn gibt es rund sechstausendfünfhundert Autos, ungefähr zweihundert davon waren dunkle Opel, hat die Polizei damals ermittelt. Sie hat versucht, alle Halter zu überprüfen, ich weiß nicht, ob sie das geschafft haben. Gesagt haben sie es uns. Aber gut zweihundert Stück, das ist ganz schön viel. Da kann einem was durch die Lappen gehen.«
Nele stieß hörbar die Luft aus. »Das bringt doch nichts. Ihr müsst der Polizei die Arbeit überlassen. Die wissen schon, was sie tun.« Sie wollte aufstehen, aber plötzlich erstarrte sie. Blieb wie angewurzelt sitzen, die Hände auf die Sessellehnen gestützt. Ihr Gesicht wurde kreidebleich. Wiebke sprang erschrocken auf. »Nele, ist dir nicht gut? Laura, lauf doch in die Küche, erste Tür links, und hol ein Glas Wasser!«
Wiebke hockte sich neben Nele und nahm ihre Hand. Laura wollte gerade das Wohnzimmer verlassen, als Neles Stimme sie zurückhielt. »Tom ist auf die Straße gelaufen«, sagte sie. Sie flüsterte, Laura musste sich anstrengen, sie zu verstehen. »Kurz vor dem Kleiderladen. Er hat natürlich weder nach rechts noch nach links gesehen, wie immer. Ich musste ihn zurückziehen, denn ein Auto ist an uns vorbeigefahren. Fast hätte es ihn erwischt.«
Laura drehte sich vollends herum, mit großen Augen schaute sie Nele an, die immer noch wie eine Porzellanpuppe in dem Sessel saß.
»Ich habe das völlig vergessen. Aber …« Sie war jetzt kaum zu verstehen.
Laura trat näher, schaute sie gebannt an.
»Es war ein dunkles Auto. Ein Opel.«
Laura schloss die Augen. Das war es. Das war der Beweis. So viele Zufälle konnte es einfach nicht geben. Nein, sie hatte Recht. Die drei Jungen waren entführt worden, in diesem Opel, in diesem verdammten schwarzen Wagen.
Nele schien das Gleiche zu denken, denn ihre Wangen wurden noch bleicher. »Oh mein Gott«, murmelte sie.
Wiebke fasste sich als Erste. »Das ist doch gut«, sagte sie und versuchte, zuversichtlich zu klingen. »Wir sind auf einer Insel. Hier gibt es nur eine begrenzte Anzahl von Autos und eine begrenzte Anzahl von Fahrzeughaltern. Die Polizei muss diese Spur einfach wieder aufnehmen, alle überprüfen und zack – wir haben Tom gefunden.« Sie sah zu Laura hinüber. »Und Paul natürlich auch«, fügte sie schnell hinzu.
Laura nickte. Doch so sehr sie es versuchte, sie konnte keine Freude spüren. Zweihundert, das waren so viele. Und nicht nur das. Fehmarn war keine wirkliche Insel mehr. Die Brücke verband sie mit dem Festland, schnell, sehr schnell konnte man von hier nach drüben fahren. Nur gut zwei Stunden entfernt lag Hamburg. Wie viele dunkle Opel gab es dort, wie viele in Heiligenhafen, wie viele in den kleinen Städten dazwischen? Und dann konnte man ja auch noch Richtung Dänemark verschwinden … nicht auszudenken, wenn der Entführer gar kein Deutscher wäre. Nein, sie brauchten mehr als das. Weitere Anhaltspunkte.
»Konntest du irgendetwas erkennen?«, fragte sie Nele hoffnungsvoll. »Wer hat das Auto gefahren?«
Nele ließ sich in den Sessel zurücksinken, nervös nestelte sie an ihrem Kragen. »Ich weiß es nicht«, sagte sie schließlich. »Ich habe nur auf Tom geschaut.« Sie schluchzte auf. »Ich habe mit ihm geschimpft. So geschimpft, weil er auf die Straße gelaufen ist. Hätte ich das bloß nicht gemacht!« Plötzlich wurde sie von Weinkrämpfen geschüttelt.
In dem Moment öffnete sich die Tür. Ein großer, schlanker Mann stand im Türrahmen, um die Vierzig, doch er wirkte wie ein Greis. Seine Gesichtszüge waren eingefallen, sein dunkles Haar hing wirr in die Stirn. Laura fand, dass er fast ein wenig verrückt aussah, wie er so dastand, sich nicht rührte und auf die drei Frauen starrte.
Nele bewegte sich als Erste. »Thorben, was ist los?«, fragte sie. Ihre Stimme klang dünn wie Eis, das kurz davor ist, zu zerbrechen.
Ihr Mann antwortete nicht. Stattdessen schob sich hinter ihm eine weitere Person in das Zimmer, die Laura gar nicht wahrgenommen hatte. Ein junger Polizist in Uniform, der Thorben sanft zur Seite drückte, verlegen in die Runde schaute und dann nervös lächelte.
Er studierte einen unsichtbaren Punkt auf dem Boden, während er sprach: »Frau Petersen, wir müssen Sie bitten, mitzukommen.«
Nele schwankte, obwohl sie noch immer im Sessel saß. Mit einem Satz war Wiebke neben ihr. Sie blickte flehentlich zu Thorben hinüber, der unbeweglich im Türrahmen stand, angewurzelt, ohne Regung.
»Wo ist Tom? Was ist mit ihm?«, flüsterte Nele.
Unbehaglich trat der Polizist von einem Bein auf das andere. Auf seiner Oberlippe glänzte ein feiner Schweißfilm. »Wir … es wurde ein Junge gefunden.« Als Nele aufsprang, fügte er eilig hinzu: »Wir können aber noch nicht sagen, ob es sich um Ihren Sohn handelt.«
Nele zitterte, wild sprangen ihre Augen umher. »Warum stehen wir hier noch rum?«, rief sie, »ich will zu meinem Kind!«
»Wie gesagt …«, setzte der Polizist an.
Nele hörte nicht auf ihn, sondern stürmte auf ihren Mann zu. Der bewegte sich immer noch nicht, aber er sprach. Nur kurz. Doch das veranlasste seine Frau dazu, abrupt anzuhalten. Wie ein Luftballon, aus dem alle Luft entwichen war, sackte sie zusammen.
»Bete, dass es nicht Tom ist.« Thorbens Stimme hallte hohl im Raum wider. »Der Junge, den sie gefunden haben, ist tot.«
20
Der junge Polizist räusperte sich, inzwischen standen Schweißperlen auf seinem ganzen Gesicht. »Ich bringe Sie zur Inselklinik«, sagte er. »Kommissar Holstenbach wartet schon auf Sie, die … der kleine Junge befindet sich dort. Wir bitten Sie, ihn anzuschauen, ob es Ihr Sohn ist.« Nele schluchzte laut auf und der Polizist schluckte. »Ich wünschte, wir könnten Ihnen das ersparen«, fuhr er fort. »Wir können auch einen DNA-Abgleich machen, aber das wird mehrere Tage dauern.«
»Wir wollen ihn sehen.« Thorbens Stimme war heiser.
Nickend wandte sich der junge Polizist zur Tür und sie alle verließen das Haus. Nele musste dabei von ihrem Mann gestützt werden, sie drohte immer wieder wegzuknicken.
Draußen stand ein Polizeiwagen. Laura griff Wiebke am Arm. »Ist die Klinik weit von hier?«
Wiebke schüttelte den Kopf. »Mit dem Wagen nur ein paar Minuten«, antwortete sie.
Suchend schaute sich Laura um. »Ich brauche ein Fahrad. Hat Nele eines?«
Wiebke fasste sich an die Stirn. »Ach ja, du willst ja nicht ins Auto. Kannst du heute nicht eine Ausnahme machen? Wir sind doch alle dabei und es ist nicht weit.«
Unruhig schüttelte Laura den Kopf. »Sag mir einfach nur, wo das Rad ist«, flüsterte sie. Wiebke zeigte seufzend auf die Garage. »Dort.« Sie wandte sich an Nele. »Ist es in Ordnung, wenn Laura sich dein Fahrrad borgt?«
Doch ihre Schwiegertochter schien sie gar nicht zu hören. Sie bewegte nur stumm die Lippen, als würde sie beten. Wiebke nickte Laura zu. »Nimm es einfach. Wenn du dich beeilst, wirst du fast so schnell sein wie wir.«
Laura drückte Wiebke dankend den Arm, lächelte Nele kurz zu, die sie jedoch überhaupt nicht beachtete, und lief den Gartenweg zur Garage hinüber.
»Einfach geradeaus und am Bahnhof links in den Mummendorfer Weg!«, rief Wiebke ihr schnell zu, bevor sie mit den anderen im Wagen verschwand.
Sie waren noch gar nicht losgefahren, da hatte Laura sich schon auf das Rad geschwungen. Heftig trat sie in die Pedale. Auch in Hamburg liebte sie ihr Rennrad, mit dem sie praktisch jeden Teil der Stadt gut erreichen konnte. Damit oder mit der U-Bahn. Wer brauchte schon ein Auto?
Bereits an der ersten kleinen Kreuzung, die sie passierte, sah sie ein Schild, das den Weg zum Krankenhaus wies. Laura wich einem Audi aus, der abbiegen wollte, verlangsamte dabei aber kaum und fuhr in halsbrecherischem Tempo weiter. Sie wollte unbedingt da sein, wenn sich herausstellte, wer der Junge war. Nach ein paar Minuten sah sie tatsächlich schon das Klinikgebäude vor sich. »Inselklinik« prangte ein großes Schild über dem Eingang. Gleichzeitig nahm sie neben sich das Polizeiauto wahr. Sie beschleunigte noch einmal, raste über einen