Reader Belletristik. Picus Verlag

Reader Belletristik - Picus Verlag


Скачать книгу
zitterte ebenso, als ahnte es den Preis der Freiheit. Draußen zitterten die Luft und auch der Boden, es zitterte einfach alles.

      Die Nacht war Pino Robusti wach gelegen, hatte darüber nachgedacht, was er noch alles hätte sagen wollen, was er noch alles hätte tun wollen, was er Laura hätte sagen wollen, was er mit Laura hätte tun wollen. Er sah ihr Gesicht. Er dachte an ihren Geruch, ihre weiche Haut. Er hoffte, sie würde bald in ein neues Leben finden.

      Er dachte an seine Eltern. Für sie würde es keinen Trost geben. Ihr restliches Leben lang würden sie die Trauer mit sich schleppen müssen. Er fühlte sich schuldig, weil er es hatte so weit kommen lassen, weil er nicht versucht hatte einzulenken, sich zu retten. Weil es ihn mit Stolz erfüllt hatte, dass er ein politischer Häftling war, einer, der sich gegen dieses Regime gestemmt hatte, der mit dem Einsatz seines Lebens gegen die Deutschen gekämpft hatte. So wie sie alle hier auch. Wenn er nur nicht diese Scheißangst hätte …

      Der Junge in der Zelle nebenan – Pino schätzte ihn auf vielleicht sechzehn Jahre – hatte die ganze Nacht über gewimmert. Wiederholt hatte er nach den Eltern gerufen. Er verstand zwar nur schlecht Slowenisch, aber jeder hätte mitbekommen, wem dieses weinerliche Flehen gegolten hatte. Die anderen hatten versucht ihn zu trösten, hatten ihm mit rauen Stimmen ruhig zugeredet und so getan, als hätten sie alles das schon einmal hinter sich gebracht. Als wäre der Schrecken geringer, wenn man Erfahrung damit hat.

      Die Tür flog auf. Mit einem Knallen wurde eine Holztür nach der anderen aufgerissen. Sie traten nacheinander hinaus, so wie sie es die letzten Tage schon gemacht hatten. Und das schon seit Wochen. Wochen, die den Übergang in ein neues Leben bedeuteten, nachdem Pino so brutal aus dem alten gerissen worden war. Egal wie geordnet sie standen, aufgefädelt wie die Zinnsoldaten, die Wärter prügelten mit ihren Stöcken auf sie ein und befahlen, gerade zu stehen, in Reih und Glied. Sie schimpften und pöbelten sie an. Man musste dazu kein Deutsch verstehen, der Tonfall war Beleidigung genug. »Saubande! Elendes Pack, verfluchtes!«

      Pinos Hintermann, dem einer der Wächter einen Stoß in den Rücken gegeben hatte, rempelte ihn an der Schulter und Pino musste einen Schritt zur Seite machen, was ihm selbst wieder einen Schlag von einem anderen Wachmann einbrachte. Schnell reihte er sich wieder ein. Wieder blitzte kurz die Idee in ihm auf, sich zu wehren, sich dem Zwang zu widersetzen. Sich vor den SSler zu stellen und ihn direkt anzublicken. Mit einem Leuchten in den Augen würde er lächelnd sagen: »No!«

      Doch dann würden sie ihn aus der Reihe zerren und wieder so lange verprügeln, bis ihm die Sinne schwanden, und es wäre wieder nicht ausgestanden. Abermals würde er in der Zelle warten müssen.

      Der Zug aus Gefangenen bog vom Gang in den großen Hof. Das Licht blendete die Männer nach den langen Stunden in der Dunkelheit. Einige hielten sich schützend die Hände vor die Augen. Auch Pino blinzelte. Er sog die Luft ein, die nach Frühling roch. Er dachte an die ersten gelben Blüten auf dem steinigen Karstboden, an den Duft von Salbei, der vom Wind in die nahen Dörfer getragen wurde. Sie sahen die Wand, die voll von Einschusslöchern war. Instinktiv rückten die Männer zusammen wie eine Herde, die eng aneinandergedrückt ein drohendes Unwetter zu überstehen hofft.

      Die Sonne entflammte die roten Ziegel der ehemaligen Fabrik, und in den blinden Fenstern, da, wo es noch Glas gab, brach sie sich. Die Henker hatten ein anderes Feuer entzündet. Seit Tagen schon stieg Rauch aus dem Schlot in den Himmel. Dann rief einer der Schergen: »Marsch, marsch, ihr Banditen, in Zweierreihen antreten!«

      Das Empire State Building war das höchste Gebäude der Welt. Dreihunderteinundachtzig Meter ragte es in den Himmel, mit Antenne kratzte es sogar mit vierhundertdreiundvierzig Metern an den Wolken. Nichts auf der Welt, von Menschen geschaffen, war so hoch. Diese Höhe konnte es nur erreichen, weil man einen speziell mit Eisen verstärkten Beton für den Bau verwendet hatte. Es war im Stil des Art déco und in der Rekordzeit von nicht einmal zwei Jahren errichtet worden, geplant vom Architekturbüro Shreve, Lamb und Harmon. Er sagte sich diese Daten vor, als würde er eben geprüft werden. Dabei würde er vermutlich das Bauwerk niemals sehen, und auch niemals darüber geprüft werden. Das schien sich nun mit einer heimtückischen Gewissheit abzuzeichnen.

      Das Tor wurde aufgerissen. Das Tor, das den Weg in die Freiheit oder den Weg in die Gefangenschaft bedeutete. Je nachdem, von welcher Seite man es betrachtete und in welche Richtung man ging. Ein grau lackierter Mannschaftswagen fuhr in den Hof. Pino atmete durch. Vielleicht machten sie wieder einen Ausflug.

      9. AUGUST 1916 (MINUS 10.467 TAGE), MITTWOCH

      Willkommen in der Hölle!

      Links und rechts von Vittorio spritzten Erde und Steine durch die Luft. Es war Mittwoch und die Schlacht dauerte nun schon fünf Tage. Fünf Tage, in denen sie zum ersten Mal etwas vorrücken konnten. Doch dann mussten sie wieder in die Stellungen zurück. Vor, zurück. Etwas vor, weiter zurück. Ein bisschen vor. Ein Todesreigen. Und das Leichenorchester spielte auf. Dazu trommelten die Kanonen, sie gaben den Rhythmus des Sterbens vor.

      Mit jeder neuen Detonation drückte Vittorio Robusti sich noch fester gegen den Erdwall. Mehr Schutz gab es nicht. Er umklammerte sein Gewehr. Es war das Einzige, woran er im Moment Halt finden konnte. Der Befehl zum Angriff war schon vor Stunden gekommen, doch sie saßen in der Falle, wie schon so oft. Wer es nicht wahrhaben wollte, wurde von den Maschinengewehrsalven niedergemäht. Die österreichisch-ungarischen Verteidiger auf der anderen Seite hatten sich eingegraben, und von beiden Seiten pfiffen die Kugeln über den Fluss. Die schweren Geschütze rissen Löcher in die Erde. Seit Tagen hingen sie fest. Die Luft war mittlerweile schwer von dem vielen Pulverdampf. Die Hitze machte einem das Atmen fast unerträglich. Hinzu kam der süßliche Verwesungsgeruch, der sich mit dem Pulver und dem Rauch der brennenden Bäume und Leichen vermischt hatte und wie zähflüssiges Bitumen die Lungen verstopfte. Abgesehen vom Donnern der Haubitzen waren die Schreie der Verwundeten und Sterbenden unerträglich. Der Piemonteser aus seiner Einheit schien es ausgestanden zu haben. Er hatte aufgehört zu wimmern. Er war einer der Ersten, der mit lautem Hurra aufgesprungen war und den gleich die erste Salve von drüben zu Fall gebracht hatte. Vittorio hatte den Kopf eingezogen und sich sofort hinfallen lassen, als mechanisches Knattern eingesetzt hatte. Der Piemonteser hatte die Augen weit aufgerissen und war der Länge nach in den Graben zurückgekippt, die Uniform überall rot gesprenkelt. Er hatte ihn für tot gehalten, doch nach gut zwei Stunden hatte er wieder zu stöhnen und zu klagen begonnen. Nur Sanitäter waren keine gekommen. Die kamen erst, wenn die Todesmelodie der Maschinengewehre verstummt war. Jetzt war es zu spät. Das zählte nichts in diesem Krieg. Niemand holte die Verletzten, niemand holte die Toten. Seit Tagen schon nicht.

      Vittorio zuckte zusammen. Eine Granate war wenige Meter vor ihm eingeschlagen. Der Druck der Explosion versetzte ihm einen Schlag. Sand und Erdreich bedeckten seinen Körper. Er wischte sich den Staub aus dem Gesicht. Offenbar hatte es der feindliche Posten genau auf ihre Stellung abgesehen. Sie lagen seit dem Morgen unter Beschuss.

      »Psst«, hörte er von rechts. Neben ihm robbte sich Jacopo an ihn heran. »Wir müssen hier weg. Bald ist das alles in Dampf aufgegangen«, sagte er. Als er Jacopo betrachtete, sah er, dass ihm eine Kugel oder vielleicht durch die Luft geschleudertes Gestein sein linkes Ohr zerfetzt hatte. Nur mehr ein kleiner Fetzen blutiges Fleisch war von der Muschel geblieben. Das Blut auf Hals und Uniformkragen war eingetrocknet. Jacopo fasste ihn an der Schulter und drückte ihn hinunter. Der Graben war voll von Leichen. Es würde kein Leichtes sein, über die Körper der Kameraden zu robben, um von hier zu fliehen. Es war ein Schwimmen in einem Meer aus Fleisch und Knochen.

      Jacopos Familie stammte aus Padua. Vittorio und er kannten sich von der Universität. Beide hatten dort vor dem Krieg ein Studium der Rechte begonnen. Im Gegensatz zu Vittorio, der sich freiwillig gemeldet hatte, war Jacopo eingezogen worden. Gegen seinen Willen. Alles hatte er versucht, um dem Kriegsdienst zu entkommen, doch seine Familie hatte zu wenig Geld, um ihn freizukaufen, also musste er an die Front einrücken. Während im Regiment einige glühende Anhänger des Risorgimento mit ihrem Leben dafür kämpften, dass Italien als Staat wieder erstarkte und an die einstige Größe anschließen konnte, haderten diese Feiglinge mit ihrem Schicksal, das jetzt verlangte, dass sie sich für ihr Vaterland einsetzten. Doch der Feigling Jacopo hatte einen untrüglichen Überlebensinstinkt. An seiner Seite schien


Скачать книгу