Reader Belletristik. Picus Verlag
Ungläubig sahen die beiden Sanitäter dem jungen Mann in der zerrissenen Uniform zu, wie er immer mehr an Mensch zutage förderte und wie sich langsam dessen Brustkorb hob, als endlich wieder Luft in die Lungen strömen konnte. Als sich Vittorios Gesicht von Aschgrau wieder zu normalem Kriegsbleich gefärbt hatte, begriffen die Sanitäter. »Der Cretino hat recht«, sagten sie zueinander, »der lebt noch.« Auch das Stöhnen, das Vittorio von sich gab, als sie ihn auf ihre Bahre luden, klang nach Lebenswillen und unterschied sich von den üblichen Todeslauten der Verwundeten.
Sie brachten ihn ins Ospedale Militare Principale nach Padua. Die Stadt, der er als Student den Rücken gekehrt hatte, um seinen Patriotismus im Feld unter Beweis zu stellen, empfing Vittorio jetzt als einen von vielen Verwundeten. Wegen der immer größer werdenden Verluste, zu denen die Militärführung auch die Verwundeten zählte, war man gezwungen gewesen, immer größere Kapazitäten für diese zu schaffen. Die wenigen Feldlazarette reichten schon lange nicht mehr aus. Seit diesem Jahr hatte sich Padua zu einem regelrechten Spitalszentrum des Krieges entwickelt. Zusätzlich zum Militärspital hatte man auch in den zivilen Einrichtungen wie dem Ospedale Civile mehrere Hundert Betten für die im Kampf Verletzten vorgesehen, sodass die Stadt nun insgesamt über eine Kapazität von mehreren Tausend Betten verfügte. Doch auch diese war bald erreicht. Der Krieg fraß die Menschen, und diejenigen, denen er nur ein Bein oder einen Arm abgebissen hatte, landeten hier.
Vittorio lag in einem Saal mit gut dreißig Metallbetten. Das Quietschen der ausgedienten Bettfedern vermengte sich mit dem Röcheln und Stöhnen der Kriegsversehrten. Sie trugen blutgetränkte Verbände am Kopf oder über das Gesicht, andere hatten dort, wo früher eine Extremität gewesen war, nur mehr einen abgebundenen Stumpf. Morphium und andere Opiate standen mit dem Fortschreiten des Krieges kaum mehr zur Verfügung, also mussten die Patienten die Operationen ohne entsprechende Narkose über sich ergehen lassen. Chirurgie mutierte zur Fleischhauerei.
Die Luft war abgestanden und drückend. Die Ausdünstungen der Patienten vermengten sich mit dem Arbeitsschweiß der Pfleger und der wenigen Schwestern, die man hier einsetzte, und man roch die Anstrengung derer, die mit dem Tod kämpften, und jener, die sich für deren Leben einsetzten.
Vittorio schien zu den Glücklichen zu gehören, denen das Schicksal weniger böse mitgespielt hatte. Er war bei seiner Einlieferung nicht aus der Bewusstlosigkeit erwacht und hatte dann ein paar Tage vor sich hin gedämmert. Vor zwei Tagen hatte er sich erstmals aufsetzen können. Er klemmte sich an das Bettgestell und stellte zum ersten Mal die Beine auf den Boden. Das Brennen und Ziehen in seinem Unterleib hatten ihn aber sofort wieder in die Liegeposition gezwungen, wo die Schmerzen bald ein wenig nachließen.
Auf seine Frage, wie schwer es ihn erwischt hatte, hörte er von den Schwestern nur: »Warten Sie auf den Arzt«, und auch vom Pfleger, der ihm Essen brachte und ihn notdürftig wusch, erhielt er dieselbe Antwort.
Bis auf wenige Ausnahmen wahrten die Schwestern und das Krankenpersonal die Distanz zu den Verwundeten. Offenbar wollte man keine emotionale Bindung zu jenen aufbauen, von denen man nicht wissen konnte, ob sie die Nacht überleben und ihr Bett für den nächsten Patienten demnächst frei machen würden.
Durch die Fenster drang schwüle, heiße Luft, die sich als zusätzliche Last auf die Verwundeten legte. Der Luftzug, der die Vorhänge schweben und den Stoffbezug der wenigen Paravents zwischen den Betten tanzen ließ, brachte anstelle von Linderung zusätzliche Wärmeströme. Den Fiebernden legte man nasse Tücher auf die Stirn, in der Hoffnung, ihnen so ein wenig Kühlung zu verschaffen.
Der Arzt war ein zerknautschter Typ von etwa vierzig Jahren. Sein fahles Gesicht war unter dem strohgelben Bart, der wie ein Rapsfeld im Frühjahr hervorstach, von Kanten und Furchen durchzogen. Meistens schritt er gehetzt durch die Gänge zwischen den Krankenbetten, schnaufend vor Eile und Rauchwolken verpuffend. In seinem Mundwinkel klebte eine Zigarette, die zu seinem Gesicht zu gehören schien wie seine Nase. Er rauchte auch beim Operieren, und wenn er dabei ein Aschehäufchen verlor, meinte er nur, Asche sei antiseptisch und für den Patienten in dessen Situation noch das Beste, was ihm passieren konnte. Sein Kittel war blutverschmiert, und hätte er nicht diesen durchbohrenden Blick gehabt, der Medizinern gemein ist, die auch ohne Röntgen in ihre Patienten schauen können, man hätte ihn leicht mit einem Fleischer verwechseln können. So viel anders war seine Aufgabe hier auch nicht, wenn er die zerfetzten Gliedmaßen abtrennte, um zumindest den Rest des Körpers zu retten.
In einer Rauchwolke begab er sich heute zu Vittorios Bett. Der versuchte sich aufzurichten, um zu salutieren. Auch wenn der Doktor keine Uniform trug, waren die Chirurgen doch alle im Rang eines Kapitäns oder zumindest eines Leutnants.
»Ah, ich sehe, unserem Ritter geht es schon wieder besser.«
Die Geschichte seines Tierpanzers hatte schnell die Runde gemacht. Sein Überleben und seine Errettung waren wegen der skurrilen Begleitumstände wohl außergewöhnlicher als so mancher Heldentod, der oft still und unbeobachtet gestorben wurde.
Ein Stechen und ein ziehender Schmerz, der wie ein Aufschrei seinen Körper durchdrang, zwangen Vittorio dazu, sich wieder auf die Matratze fallen zu lassen. Er konnte sich nur am Ellenbogen aufstützen, um nicht wie ein hilfloser Käfer auf dem Rücken zu liegen.
Doch jetzt, da endlich die Gelegenheit bestand, Auskunft über seinen Zustand zu erhalten, galt Vittorios erster Gedanke etwas völlig anderem: »Haben wir Triest erobert?«
Irritiert wandte sich der Militärarzt zu seinem Adjutanten um, der den Kopf schüttelte.
»Aber wieso denn nicht? Wir standen doch schon so gut wie vor dessen Toren?«
Der Arzt dämpfte die Zigarette in einem Blechnapf aus und sagte: »Diese Frage musst du dem Generalstab stellen, ich bin nur für den menschlichen Auswurf von dessen Plänen zuständig. In dieser Eigenschaft kann ich dir nur sagen, dass der Krieg für dich zu Ende ist. Sobald wir dich wiederhergestellt haben, gehst du am besten nach Hause.«
»Ich kann nicht nach Hause. Meine Familie stammt aus Triest. Ich habe hier in Padua nur studiert.«
»Dann studier fertig und such dir eine Arbeit und dann eine Frau. In genau der Reihenfolge.«
Es war das erste Mal, dass der Arzt durch seinen verwitterten Bart so etwas wie ein Lächeln zeigte. Dieses gefror aber schnell wieder. »Eines muss ich dir noch sagen. Gewisser Freuden wird dich der feindliche Granatsplitter womöglich beraubt haben. Ich glaube nicht, dass du Kinder haben wirst.«
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336 Seiten, gebunden mit Schutzumschlag und farbigem Vor- und Nachsatzpapier ISBN 978-3-7117-2098-6 eISBN 978-3-7117-5432-5
Erscheint am 24. August 2020
GABRIELE KÖGL
GIPSKIND
ROMAN
ÜBER DAS BUCH
Gabriele Kögls Antiheimatroman im Geiste von Didier Eribon und Annie Ernaux gleicht einer bäuerlichen Familienaufstellung aus den sechziger Jahren, in der ein auf seine Mängel reduziertes Kind aus dem Schatten tritt und sein Leben in die Hand nimmt.
Als Problemkind und Liebling der Oma wächst Andrea in engen und ärmlichen Verhältnissen auf dem Land auf. Ihren Eltern fehlt es an Liebe und Verständnis, zu sehr sind sie mit dem täglichen Überlebenskampf beschäftigt. Ihre Tochter ist für sie vor allem Arbeitskraft und Mittel zum Zweck.
Langsam schält Andrea sich aber heraus und lernt mit zunehmendem Alter, Schwächen strategisch einzusetzen und ungeahnte Freiräume zu erobern. Und während der Freund des Mädchens durch die intensive Bindung an seine Eltern deren Wünsche erfüllt anstatt seine eigenen, gelingt es Andrea,