Reader Belletristik. Picus Verlag
ein Streber. Vittorio hatte zwei Vorlesungen mit ihm besucht. In der ersten Reihe sitzend hatte er oft den Arm gehoben, um auf sich aufmerksam zu machen und den Vortrag des Dozenten mit seinen Fragen zu unterbrechen. Für diese Fragerei erntete er ein Kopfschütteln der anderen Studenten, doch ein Professor hatte tatsächlich milde gelächelt, war sie doch Beweis dafür, dass nicht alle Hörer sanft entschlummert waren. Im letzten Jahr waren die Gedanken ohnehin woanders gewesen. Keiner dachte an den Codice Civile, wenn es um die nationale Frage des Landes ging. Die meisten Politiker hatten sich feige gegen den Kriegseintritt Italiens ausgesprochen, doch das Volk hatte sie gezwungen umzudenken. Dazu hatte es Vordenker wie Gabriele D’Annunzio gebraucht, der mit der Macht des Wortes die Macht des Volkes entfachte und dann hatte wirken lassen.
Sie zogen beide die Köpfe ein, als eine Granate hinter ihnen explodierte und einen Regen aus grober Erde niedergehen ließ. Das Licht war gedämpft von dem vielen Rauch und dem Staub, der in der Luft hing. Von hinten setzte die eigene Artillerie ein. Salve um Salve wurde in Richtung Hügel abgefeuert. Die Einschläge ließen die Erde zittern. Die Krater wuchsen immer schneller im Rhythmus des Trommelfeuers.
»Wir haben Gorizia eingenommen!«, hallte es durch die Reihen der Italiener. Tatsächlich wirkten der Bombenhagel und das Donnergrollen, als ob es sich um das Aufbäumen eines sterbenden Tieres handelte, das im Todeskampf seine letzten Kräfte mobilisierte.
Vittorio schloss die Augen und dankte dem Herrn, der nun endlich ein Einsehen mit der Sache der Angreifer zu haben schien. Er lag da in seiner Deckung im Dreck, seine Uniform staubig und ramponiert. Risse und Löcher wie auch Flecken hatten dem ehemals grünen Stoff zugesetzt, sodass er nun aschgrau aussah wie die Gesichter der vielen Leichen um ihn herum. Auch seines hatte die Farbe in den vielen zermürbenden Stunden der letzten Tage verloren. Es ging nicht um Bodengewinn, das Einzige, wonach die Überlebenden seines Korps trachteten, war, weiter am Leben zu bleiben. Nur überleben! Die große Übermacht der italienischen Angreifer ließ das Oberkommando leichtfertig mit den zur Verfügung stehenden Soldaten umgehen, munkelte man. Auch dass die Erfolge nicht annähernd so groß seien wie die Verluste an Männern oder Material. Die einfachen Soldaten hüteten sich natürlich, so etwas laut zu denken, darauf stand Kriegsgericht. Aber einige Zeitungen hatten es geschrieben und die Leute auf der Straße, genau diejenigen, die noch vor wenigen Monaten mit lautem Hurra-Gebrüll auf diesen Krieg mit Österreich-Ungarn gedrängt hatten, zweifelten jetzt daran und brachten auf ebensolche Weise ihren Unmut zur Geltung. Vittorio hatten diese bösen Rufe zuletzt ebenfalls zugesetzt. Doch hier und jetzt, in der Stunde des Sieges, war sich Vittorio sicher, konnte niemand mehr zweifeln. Die öffentliche Entrüstung über diese zersetzenden Gedanken würde diese Schmierblätter wegfegen wie die Bora den Staub. Mit einem Mal sah er wieder den Sinn darin, hier zu liegen. Im Dreck, umgeben von faulenden Körpern. Er konnte wieder atmen, die Luft schien reiner, weniger drückend, und die Hitze war erträglich geworden. Vergessen waren der Schmerz und der Hunger, ebenso wie der Sand zwischen den Zähnen. Und seine Uniform (wie stolz hatte er sie getragen, als er in den Zug gestiegen war, mit einem Schlag zum Mann geworden) hatte wieder etwas von ihrem ursprünglichen Glanz erhalten. Er klopfte sich den Staub von den Schultern und empfand in diesem Moment nur mehr Verachtung für Jacopo, der sich zusammengerollt in eine Mulde gekauert hatte wie ein Wurm. Was war das für ein Waschlappen!
»Ssst!«, zischte dieser in Vittorios Richtung, doch das Mörserfeuer übertönte in dem Moment jegliches andere Geräusch. Jacopo drückte jeden Zentimeter seines Körpers tief in die Erde, während es Vittorio juckte, endlich aufzuspringen und mit einem »Viva l’Italia« loszustürmen, die feindlichen Reihen zu durchbrechen. Er sah sich mit gezücktem Säbel einen Österreicher nach dem anderen niederhauen. Doch diese Kriegsromantik, dieser Traum vom Kampf Mann gegen Mann, war hier und jetzt vorbei. Hier siegte der, der am Ende noch Soldaten hatte, um das Artilleriefeuer länger am Lodern zu halten. Vittorio holte tief Luft, hinter einem Stein richtete er sich langsam auf, kam auf dem einen Knie zu ruhen, während der Fuß bereit war, seinen Körper hochschnellen zu lassen.
»Ssst!« Jacopos Zischen drang endlich an sein Ohr. Der hatte sich zu ihm hingedreht und sah ihn aus geweiteten Augen an. Es war plötzlich still geworden. Die Granaten schwiegen. Entfernt hörte man den Wind durch die Bäume streichen und ganz leise das sterbende Wimmern der Verwundeten. Mit der Hand bedeutete er Vittorio beinahe zornig, sich wieder hinzulegen. Er blickte sich zu seinen Kameraden um. Sie hatten ihre Deckung verlassen und schritten vorsichtig, die Waffe im Anschlag, vorwärts. Links und rechts von ihm, etwas vor und auch hinter ihm gingen sie langsam auf die Stellung der Verteidiger zu. Nur das Rauschen der Blätter auf den Bäumen am nahen Ufer war zu hören, sogar das Wehklagen der Verwundeten schien aufgehört zu haben. Vittorio erhob sich ebenfalls und ging los. Da setzte das Pfeifen eines Lufttorpedos ein und das Blitzen des Sperrfeuers baute sich vor den Angreifern auf wie eine tödliche Wand, durch die keiner gelangen konnte. Der schwarze Rauch der Ekrasitgranaten stieg in Säulen in den Himmel. Es brodelte wie in einem Hexenkessel, der Gestank kam direkt aus der Hölle, und bald war das Schlachtfeld zu einem Inferno geworden. Ein Italiener nach dem anderen wurde umgemäht. Wer konnte, suchte Schutz in den Kratern, die die Geschosse in den steinigen Boden gerissen hatten.
Als sich von hinten der Hufschlag eines Pferdes näherte, hörte Vittorio noch, wie der Melder sagte: »Die Österreicher haben sich zum Bahnhof zurückgezogen, wir müssen weiter zum Bahnhof!«, dann waren ein Schlag gegen seinen Körper und eine verzehrende Hitze der letzte Eindruck, den er für Sekunden wahrnehmen konnte, bevor er in ein dunkles Loch fiel.
Die Wärme war die Umgebung, die ihn beschützte und zugleich erdrückte. Zwei große schwarze Augen, so dunkel wie die Nacht, starrten ihn an, dann begann er zu schweben.
15. AUGUST 1916 (MINUS 10.461 TAGE), DIENSTAG
Sie hatten ihn gefunden, begraben unter dem Kadaver eines Pferdes, das von einem Mörser getroffen auf Vittorio geschleudert worden war. Der halbe Leib mit seinen offenen Rippen und dem heißen Fleisch hatte sich wie ein Panzer über Vittorio gelegt. Das Gewicht, das auf ihm ruhte, brach ihm zwar sämtliche Knochen, beschützte ihn aber vor dem weiteren Kugelhagel und fing sogar die meisten Granatsplitter ab. Nachdem das Gefechtsfeuer einige Stunden später, nach dem weiteren Rückzug der Österreicher, verebbt war, hatten sich die Sanitäter des Croce Verde auf die Suche nach Überlebenden gemacht. Es war das Verdienst Jacopos, der seine Erdhöhle erst nach dem Abflauen der Kampfhandlungen verlassen hatte, dass sie ihn überhaupt mitgenommen hatten.
Die Helfer hievten nur die wenigsten Verwundeten auf ihre Bahren. Oft gab es auch tatsächlich niemanden mehr zu retten. Da blieb nur noch, Kalk auf die Kadaver zu streuen, damit sich die Seuchen nicht allzu rasch ausbreiten konnten. Bei denen, für die es aufgrund der Schwere der Verletzungen keine Hoffnung mehr gab, blickten sie betreten zu Boden (und auch das immer seltener), machten ein Kreuz (das fast gar nicht mehr) und gingen zum Nächsten weiter, über den sie sich beugten, um einen ersten Eindruck zu gewinnen. Einen Eindruck, der über die Chance, die nächsten Stunden zu erleben, Auskunft geben sollte. Die meisten ließen sie liegen. Auch Vittorio hätten sie liegen gelassen. Er atmete kaum, der Kadaver des Tieres verdeckte seinen Körper, unter ihm eine Blutlache. Jacopo schnellte vor, Gefahr durch einzelne Heckenschützen schien nicht mehr zu bestehen, und deutete auf den Körper seines bewusstlosen Studienkollegen. »He, was ist mit ihm?«
Der eine Sanitäter schob sich an ihm vorbei, ohne ihn eines Blickes zu würdigen. Seine Uniform war schlamm- und blutverschmiert und auf seinem Bart klebten Krusten von Blut oder Eiter. Über der Stirn hatte er sich offensichtlich selbst einen Verband angelegt. Im Mundwinkel hing, nur vom Speichel gehalten, eine Zigarette, die erloschen war. Jacopo ging ihm nach und bekam ihn an der Schulter zu fassen. »Was ist mit ihm, hab ich gefragt!« Er schob sich an dem apathisch wirkenden Mann vorbei und stellte sich dem anderen Helfer in den Weg.
Der hintere Sanitäter mit dem Verband drehte sich zu Vittorio hin und gab ihm einen Tritt in das unter dem Pferd hervorragende Bein. »Da ist nichts zu machen, der wird nicht mehr.« Mit dem Blick deutete er auf das Blut.
»Ihr Trottel, das ist nicht seins, glaubt mir, der wird wieder, der hat nichts abgekriegt.«
Jetzt zeigte der Vordermann doch eine Reaktion, indem er laut auflachte. »Nichts abgekriegt? Auf dem liegt ein halbes Pferd. Wer da wohl der Trottel ist.«