Verjagt von Haus und Hof. Roswitha Gruber
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Vollständige E-Book-Ausgabe der im Rosenheimer Verlagshaus erschienenen Originalausgabe 2020
© 2020 Rosenheimer Verlagshaus GmbH & Co. KG, Rosenheim
Titelfoto: © Bundesarchiv, Bild 137-065393
Lektorat: Christine Rechberger, Rimsting
Satz: SATZstudio Josef Pieper, Bedburg-Hau
eISBN 978-3-475-54874-1 (epub)
Worum geht es im Buch?
Roswitha Gruber
Verjagt von Haus und Hof
Schon seit sie fünf Jahre alt ist, hat die Halbwaise Lisi keinen anderen Wunsch als Bäuerin zu werden. Daher sieht sie es als Glücksfall an, dass ihr viele Jahre später der achtzehnjährige Wastl begegnet. Sie verliebt sich auf den ersten Blick in ihn. Das ist kein Wunder, denn er sieht nicht nur blendend aus, er wird auch eines Tages einen ansehnlichen Bauernhof erben. Doch kurz vor der Übergabe stirbt Wastl und Lisi wird mit ihrem gemeinsamen Kind vom Hof gejagt …
Roswitha Gruber widmet sich der Schilderung starker Frauen mit außergewöhnlichen Lebensgeschichten. Für jeden ihrer Romane recherchiert sie ausführlich und nähert sich in langen, intensiven Gesprächen dem Schicksal ihrer Protagonistinnen an. Roswitha Gruber lebt und arbeitet in Reit im Winkl.
Inhalt
Mein Onkel Ludwig
Mädchenträume
Mutterfreuden?
Der Heiratsgrund
Der Übergabevertrag
Schwiegermutters Geheimnisse
Sechs Tage zu früh
Verjagt von Haus und Hof
Der geheimnisvolle Koffer
Die Vorgeschichte
Immer wieder bekomme ich Angebote von Menschen, die mir ihre Lebensgeschichte erzählen wollen, damit ich ein Buch darüber schreibe. So rief mich auch eines Tages eine Frau namens Lisi an, die in der Nähe des Starnberger Sees wohnt. Die kurze »Inhaltsangabe«, die sie mir am Telefon gab, machte mich zumindest so neugierig, dass ich ihr versprach, ich werde mir ihre Geschichte anhören. Schon bald führte mich mein Weg mal wieder nach Starnberg, also schaute ich bei Lisi vorbei. Sie erzählte, und ich machte mir Notizen. Auf diese Weise erfuhr ich eine Lebensgeschichte, die mich sehr erschüttert hat. Wieder daheim musste ich Lisi noch oft anrufen, um mir die Einzelheiten genauer erzählen zu lassen. Nun lesen Sie selbst, was uns diese tapfere Frau zu berichten hat.
Ich wünsche Ihnen viel Freude beim Lesen.
Roswitha Gruber
Mein Papa
Soweit ich zurückdenken kann, wanderte ich mit Rosina, meiner Mama, in schöner Regelmäßigkeit zum Friedhof. Dabei nahm sie immer eine alte abgewetzte Einkaufstasche mit, in der sich allerlei Utensilien zur Grabpflege befanden. Manchmal trug sie darin auch ein Blumenstöckchen. Ich freute mich immer, wenn es auf den Friedhof ging. Die vielen Beete mit den bunten Blumen, die schmiedeeisernen Kreuze und die pompösen Grabsteine gefielen mir. Bald erfuhr ich, dass man diese Beete Gräber nennt, es gab schmale und breite. Während Mama sich immer an einem sogenannten Doppelgrab zu schaffen machte, sauste ich zwischen den anderen Gräbern herum, um zu schauen, welches den schönsten Blumenschmuck hatte. Vorne an jedem Grab befand sich ein kleiner runder Behälter mit Weihwasser und einem Buchsbaumzweigerl. Wie ich das bei anderen Friedhofsbesuchern beobachtet hatte, »segnete« ich damit die Gräber, was mir viel Spaß machte.
Einmal aber, als mir das zu langweilig wurde, ich mochte viereinhalb gewesen sein, ging ich zur Mutter und beschwerte mich: »Warum machst du dich immer an diesem Grab zu schaffen? Es gibt doch Gräber, die viel schöner sind als dieses hier.«
Wehmütig lächelte sie: »Das hast du richtig beobachtet, Lisi. Es gibt prächtigere Gräber als das unsere. Wir haben aber nicht viel Geld. Ich muss schon froh sein, dass die Tante Bärbel die Kosten für den Marmorstein übernommen hat. Mein Geld hätte nur für ein einfaches Holzkreuz gereicht, und ich kann gerade mal ein paar bescheidene Blumen kaufen.«
Den Widerspruch, den ich schon auf den Lippen hatte, wischte sie weg: »Weißt, Lisi, dass ich genau dieses Grab pflege, liegt daran, dass dein Papa hier begraben ist.«
»Mein Papa?«, fragte ich interessiert. Unter »Papa« konnte ich mir nichts vorstellen. Das merkte die Mama wohl, deshalb erklärte sie: »Jetzt wird es doch langsam Zeit, dass du etwas über deinen Papa erfährst. Daheim werde ich dir Fotos zeigen.«
Im Esszimmer nahm sie eine Pralinenschachtel aus der Kommode und setzte sich mit mir an den Tisch. Während sie einige kleine Schwarz-Weiß-Bilder vor mich hinlegte, erklärte sie: »Das ist Kaspar, dein Papa, als Bub. Das ist dein Papa als Lehrling. Das ist dein Papa beim Fasching. Das ist dein Papa bei der Hochzeit.«
Der Mann, der mich von diesen Bildern her anlächelte, gefiel mir. Er sah gut aus und wirkte freundlich. Zum Schluss nahm die Mama ein Foto aus der Schachtel, das wesentlich größer war als die anderen, und farbig. Es zeigte einen riesigen Lastwagen mit einer Getränkewerbung auf der Seitenwand und daneben einen jungen Mann. Dieser stand stolz und selbstbewusst mit einem Fuß auf dem Trittbrett, als wäre es sein eigener Wagen. Von seinem Gesicht war leider nicht viel zu erkennen. »Ist das auch mein Papa?«, wollte ich mich vergewissern.
»Freilich ist er das. Ein ganzes Jahr lang hat er mit diesem Auto Getränke ausgefahren.«
»Warum ist der Papa nicht bei uns?«, wollte ich nun wissen.
»Er ist tot. Er liegt doch in dem Grab, das ich immer pflege.«
»Warum ist er tot?«
»Er starb durch einen Autounfall.« Bei diesen Worten liefen der Mama Tränen aus den Augen. Darüber war ich sehr bestürzt. Bis dahin hatte ich sie noch nie weinen gesehen.
»Nicht weinen«, tätschelte ich ihre Hand. Da nahm sie mich in die Arme und drückte mich fest an sich. »Du bist das Einzige, was mir von ihm geblieben ist.«
»Hatte er mit dem großen Auto den Unfall?«, erkundigte ich mich nun.
»Nein, damit nicht. Es war mit seinem eigenen kleinen Auto.«
Diese Informationen genügten mir für den Moment. Die Mama packte wieder alles sorgfältig in die Schachtel und stellte sie zurück in die Kommode. Beim nächsten Friedhofsbesuch aber blieb ich an ihrer Seite und half ihr bei der Grabpflege. Dies tat ich in dem Bewusstsein, meinem Papa etwas Gutes zu tun. Ich zupfte Unkraut und harkte ein bisschen herum. Gerne hätte ich auch das Grab gegossen, aber die großen Zinkgießkannen, die neben dem Brunnentrog hingen, waren für mich zu schwer und zu unhandlich. Deshalb versprach mir die Mama, sie werde mir eine kleine leichte Plastikgießkanne kaufen. Das tat sie auch, von da an goss ich fleißig Papas Grab.
In der Folgezeit ließ ich mir immer wieder mal von der Mama die Schachtel geben, um die Fotos vom Papa anzuschauen. Auf diese Weise baute ich eine Beziehung zu ihm auf. Mit