Verjagt von Haus und Hof. Roswitha Gruber

Verjagt von Haus und Hof - Roswitha Gruber


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meinen Opa.

      Demnach muss mein Papa eine traurige Kindheit gehabt haben. Im Jahre 1938 starb Gretl, seine Mutter, im Alter von zweiunddreißig Jahren an Krebs. Das war für ihn, seinen Bruder Hans und seinen Vater Hans ein Schock. Zu der Zeit war mein Vater erst sieben Jahre alt, sein Bruder neun und sein Papa fünfunddreißig. Da dieser von Beruf Lehrer war, hätte er sich eigentlich gut um seine mutterlosen Kinder kümmern können. Sie wären morgens mit ihm zur Schule und mittags wieder mit ihm heimgegangen. Dort hätte er für sich und seine Söhne kochen können. Andere Männer kochen ja auch. Wenn er seine Hefte korrigierte oder seine Unterrichtsvorbereitungen machte, hätte er leicht ein Auge auf die Buben haben können, während diese an ihren Hausaufgaben saßen. Offensichtlich war der Herr Lehrer zu faul dazu, denn er schickte die Buben zu seiner Schwägerin Bärbel, damit die sich um die Kinder kümmere. Bärbel war die Schwester seiner Frau, zwei Jahre älter als diese und ledig. Sie wohnte in einem Nachbardorf, wo sie sich ihren Lebensunterhalt als Gemeindesekretärin verdiente. Im Gegensatz zu ihrem Schwager war sie sogar ganztags berufstätig. In ihrer knapp bemessenen Mittagspause hastete sie heim, bereitete das Essen für sich und die Neffen und lief wieder ins Büro. Daher waren die beiden Brüder sich selbst überlassen, wenn sie ihre Hausaufgaben machten. Am Abend aber schaute die Tante nach, ob alles ordentlich erledigt war.

      So verging ein Monat nach dem anderen, und die Gemeindesekretärin empfand ihr Leben als zusehends anstrengender. Das lag nicht zuletzt daran, dass nicht alles so lief, wie sie sich das ausgemalt hatte. Sie hatte erwartet, der besorgte Vater werde regelmäßig nach seinen Söhnen schauen und sich dabei in sie verlieben, oder zumindest erkennen, dass sie für ihn und seine Kinder unentbehrlich sei und ihr einen Heiratsantrag machen. Aber nichts dergleichen geschah. Im Gegenteil, bald musste sie erfahren, dass der Schwager eine Freundin hatte. Zu ihrer maßlosen Enttäuschung kam hinzu, dass sie sich selbst die Schuld für diese Entwicklung zuschrieb. Denn hätte sie ihrem Schwager Hans nicht den Rücken freigehalten, indem sie sich um seine Söhne kümmerte, hätte er keine Zeit für eine neue Liebschaft gehabt.

      Nachdem sich die Geschichte nicht in die erwartete Richtung entwickelt hatte, blieb ihr nur noch die Hoffnung, der Schwager werde bald heiraten und seine Kinder wieder zu sich nehmen. Doch auch in diesem Punkt enttäuschte er sie. Er heiratete zwar nach dem schicklichen Trauerjahr, unternahm aber zunächst eine Hochzeitsreise. Als er von dieser zurück war, sprach Bärbel ihn darauf an, wann er seine Söhne abzuholen gedenke. Nun erklärte er ihr, er wolle seine Kinder nicht schon wieder aus ihrem gewohnten Umfeld reißen. Sie hätten sich doch so gut bei ihr, in der Schule und im Dorf eingelebt. Außerdem wolle er seiner Frau keine so großen Stiefkinder und seinen Söhnen keine Stiefmutter zumuten. Bei ihr, der leiblichen Tante, seien sie viel besser aufgehoben. Sie könne ihnen doch wesentlich besser das Gefühl von Geborgenheit geben, als das eine Stiefmutter könne.

      Trotz seiner säuselnden Worte war Bärbel klar, dass ihr Schwager in Wirklichkeit frei von jeder Verantwortung sein wollte, um das Leben mit seiner neuen Frau genießen zu können.

      Das gepriesene Gefühl von Geborgenheit hatten die beiden mutterlosen Buben bei ihrer Tante leider nicht. Sie brachte ihnen kaum Wärme entgegen, erst recht nicht, nachdem sie von der Wiederheirat ihres Vaters erfahren hatte. Sie versorgte die Halbwaisen jedoch gewissenhaft, sie gab ihnen gut und ausreichend zu essen, hielt die Kleidung in Ordnung und hatte ein Auge darauf, dass sie bei der Körperpflege nicht mit Wasser und Seife sparten.

      Nachdem sich Bärbel von ihrem Schwager so getäuscht sah, war sie nicht länger gewillt, die Verantwortung für Kaspar und Hans allein zu tragen und sich um deren leibliches Wohl zu kümmern. Deshalb schrieb sie um die Osterzeit ihren Eltern Paula und Konrad, die in München lebten, einen Brandbrief.

      N.-Dorf, den 5. April 1939

      Liebe Eltern!

      Wie Ihr wisst, habe ich vor einem guten Jahr Hans und Kaspar, Eure Enkel, zu mir genommen, um ihren Vater der Sorge um sie zu entheben. Dies tat ich in der Annahme, dass es nur für kurze Zeit sei, bis er sich erneut vereheliche. Gewiss habt Ihr erfahren, dass er vor Kurzem wieder geheiratet hat. Nun weigert er sich, seine Kinder zurückzunehmen. Ich bringe es aber nicht fertig, sie ihm einfach vor die Tür stellen.

      Wie Euch bekannt ist, habe ich als Gemeindesekretärin einen sehr verantwortungsvollen Posten und bin den ganzen Tag gefordert. Daher wird es mir zu viel, mich weiterhin alleine um meine Neffen zu kümmern.

      Hiermit möchte ich an Euer Großelterngefühl appellieren und Euch um Unterstützung bitten. Nun, da Papa pensioniert ist, müsst Ihr doch nicht mehr in München wohnen bleiben. Was hieltet Ihr davon, wenn Ihr in mein Dorf übersiedelt? Ich würde für Euch eine nette kleine Wohnung suchen, dann könnten wir uns gemeinsam um die Buben kümmern. Sie könnten weiterhin in meiner Wohnung schlafen, aber es wäre gut, wenn sie sich tagsüber bei Euch aufhielten.

      Der Ältere wird ab Sommer die Oberschule besuchen. Dann könntest Du, lieber Vater, als ehemaliger Rektor doch besser seine Hausaufgaben beaufsichtigen als ich das kann. Gegebenenfalls könntest Du ihm sogar Nachhilfeunterricht geben. Auch Kaspar macht einen sehr intelligenten Eindruck und wird seinem Bruder vermutlich in zwei Jahren auf die Oberschule folgen.

      In der Hoffnung, bald einen positiven Bescheid von Euch zu bekommen, wünsche ich Euch ein schönes Osterfest und verbleibe mit ergebensten Grüßen

      Eure Tochter Bärbel

      Mit diesem Brief rannte Bärbel bei ihren Eltern offene Türen ein. Dem Vater, der seit 1936 im Ruhestand war, gefiel es längst nicht mehr in der Großstadt. Deshalb hatte er mit seiner Frau schon erwogen, aufs Land zu ziehen. Sie hatten nur noch nicht den geeigneten Ort gefunden. Auch hatten sie sich bereits Sorgen um ihre einzigen Enkel gemacht und überlegt, wie sie sich in die Fürsorge um sie einbringen könnten. Aus diesem Grunde kam ihnen Bärbels Brief wie gerufen und löste all ihre Probleme mit einem Schlag. Dies teilten sie ihrer Tochter mit und fingen sofort an, ihre Zelte in München abzubrechen. Bärbel ihrerseits bemühte sich sogleich um eine geeignete Wohnung für die Eltern. Als Gemeindesekretärin saß sie ja an der Quelle und wusste immer, wo etwas frei war oder frei wurde.

      Schon nach kurzer Zeit konnte sie ihren Eltern die erfreuliche Mitteilung machen, dass sie eine passende Wohnung gefunden habe, die noch dazu ganz in ihrer Nähe liege.

      Der Umzug ging schnell vonstatten, und es dauerte nicht lange, da hatten sich die Großstädter in dem kleinen Dorf eingelebt. Mit der Betreuung der Enkel klappte es vorzüglich. Sie frühstückten gemeinsam mit ihrer Tante, verließen mit ihr das Haus und begaben sich nach Schulschluss an den Tisch der Großeltern. Bei den Hausaufgaben hatte »Opa Rektor« ein wachsames Auge auf sie, brauchte aber nie helfend einzugreifen, denn die beiden Burschen, hochintelligent, verinnerlichten schnell alles, was sie im Unterricht gehört hatten.

      Nach dem Abendessen bei den Großeltern kehrten sie regelmäßig zu ihrer Tante zurück.

      Wenige Monate, nachdem das alte Ehepaar aufs Land gezogen war, brach der Zweite Weltkrieg aus. Nun waren sie noch glücklicher, nicht mehr in München zu wohnen. Hier auf dem Lande, unweit des Starnberger Sees, lebten sie nicht nur in einer zauberhaften Landschaft, sie fühlten sich auch wesentlich sicherer. Als sie nach dem Bombardement auf München am 9. September 1942 erfuhren, dass ihr ehemaliges Wohnhaus dem Erdboden gleichgemacht worden war und dass zahlreiche Tote und Verletzte zu beklagen waren, dankten sie dem Himmel, dass er ihnen rechtzeitig den Wink gegeben hatte, aufs Land zu ziehen.

      Was ihre Enkel betraf, so brachten auch die Großeltern ihnen nicht in dem Maß Liebe und Güte entgegen, wie es die beiden gebraucht hätten. Stattdessen meinten sie, mit strenger Hand vorgehen zu müssen, um aus ihnen ordentliche und lebenstüchtige Menschen zu machen.

      Als der Krieg im Mai 1945 zu Ende war, kamen in unserem Lande endlich wieder die jungen Leute zu ihrem Recht. Während des Krieges hatte es für sie ja keinerlei Vergnügungen gegeben. Schon wenige Monate nach Kriegsende wurden hier und da erste bescheidene Tanzveranstaltungen angeboten. So lud der wiedererstandene Trachtenverein bereits Ende September 1945 zu einem »Oktoberfest« ein. Statt Bier gab es allerdings nur Leitungswasser. Aber man konnte tanzen und miteinander fröhlich sein. Einer der Dorfwirte veranstaltete 1946 zum ersten Mal einen »Tanz in den Mai«. Im Jahr darauf fanden im Januar


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