Verjagt von Haus und Hof. Roswitha Gruber

Verjagt von Haus und Hof - Roswitha Gruber


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Jahre alt, hätten die Großeltern zumindest erlaubt, an dem Ball in ihrem Wohnort teilzunehmen. Ihm lag aber nichts an dem Gehopse, wie er sich auszudrücken beliebte. Umso mehr fieberte Kaspar, der Jüngere, der Zeit entgegen, bis er endlich Tanzveranstaltungen besuchen durfte.

      Am 18. November 1947 wurde er sechzehn. Daher durfte er im folgenden Februar zu seinem ersten Faschingsball am Ort. Das war sogar einer mit Maskierung und Kostümprämierung. Die Großeltern bestanden allerdings darauf, dass der ältere Bruder ihn begleite. Ihn hielten sie nämlich für den Vernünftigeren und Gewissenhafteren. Im Wirtshaus saß Hans dann still in einer Ecke und zuzelte an seinem Bier. Kaspar dagegen stürzte sich ins Gewühl. Nicht einen Tanz ließ er aus. Er liebte das bunte Treiben und fand es herrlich, immer wieder ein anderes Mädchen im Arm zu halten. Um Mitternacht spielte die Musik einen Tusch zur Demaskierung. Bei Kaspar gab es nicht viel zu demaskieren. Zu seiner normalen Kleidung, einem karierten Hemd und einer schwarzen Manchesterhose, hatte er nur ein rot-weiß kariertes Kopftuch schräg um den Kopf gebunden, das ihm die Oma großzügigerweise geliehen hatte. Der Opa hatte ihm eine schwarze Augenklappe zur Verfügung gestellt, die er einmal anlässlich einer Augenentzündung bekommen hatte. In dieser »Verkleidung« als Pirat kam sich Kaspar sehr verwegenen vor. Er war jedoch froh, als er endlich die lästige Augenklappe abnehmen und das Dirndl, das vor ihm stand, mit beiden Augen sehen konnte. Als sie ihre Hexenmaske und den grauen Haarschopf abnahm, kam zu seiner Freude ein bildhübsches Mädchen zum Vorschein. Es stellte sich als Rosina vor, und auch er nannte seinen Vornamen. Bis zum Kehraus tanzte er nur noch mit ihr.

      Beim Maitanz sahen sie sich wieder. Und da sie sich auf dem »Oktoberfest« des Trachtenvereins ebenfalls wiedertrafen, beschlossen sie, »miteinander zu gehen«. Natürlich musste er sich mit ihr heimlich treffen, denn eine offizielle Liebschaft hätten die Großeltern nicht geduldet. Es kam wieder ein Februar und mit ihm ein erster Faschingsball. Mittlerweile waren die beiden so ineinander verliebt, dass eines glaubte, nicht ohne das andere leben zu können. Deshalb beschlossen sie, so bald wie möglich zu heiraten. Kaspar war aber noch Oberschüler der elften Klasse. Bis zum Abitur würde er noch zweieinhalb Jahre brauchen. Dann würde ein mehrjähriges Studium folgen, und erst danach wäre er in der Lage, seine Liebste zu ernähren. So lange wollte der ungeduldige junge Mann aber nicht warten. Ihm kam die Idee, ein Handwerk zu erlernen, dann sei er in drei Jahren fertig und verdiene genug, um eine Familie zu gründen. Eine Lehrstelle war schnell gefunden, nämlich bei einem Sattler und Polsterer. Nun war Kaspar der Ansicht, es genüge, wenn er sich von der Schule abmelde und als Lehrling bei dem Sattler beginne. Doch da tauchten Probleme auf, die der Jüngling nicht vorhergesehen hatte. Da er noch nicht volljährig war – das wurde man damals erst mit einundzwanzig –, verlangte man an der Schule und auch bei seinem künftigen Lehrherrn die Unterschrift seines Erziehungsberechtigten. Das war zu seinem Glück immer noch sein Vater. Die Großeltern hätten ihm diese Unterschriften nie und nimmer gegeben. Der Vater aber, der sich bisher äußerst wenig um seine Kinder gekümmert hatte, unterschrieb ohne lästiges Nachfragen.

      Um die Zeit, als der jüngere Bruder seine Lehre begann, legte der ältere gerade die Abiturprüfungen ab. Wenige Wochen später hatte er den Abschluss in der Tasche und ging nach München, um Jura zu studieren.

      Kaspar stellte sich in dem erwählten Handwerk sehr geschickt an, sodass sein Meister des Lobes voll war. In dieser Zeit machte sich der Enkel bei seinen Großeltern rar. Erstens war er viele Stunden des Tages beruflich eingespannt, zumal so manche Überstunde anfiel, und zweitens hatte er keine Lust, sich wieder und wieder die Vorwürfe anzuhören, weil er die Schule abgebrochen hatte. Wenn er am Abend erschöpft von der Arbeit kam, ging er gleich in die Wohnung der Tante, wo er mit ihr das Nachtessen einnahm. Sie war zwar auch nicht gerade erbaut darüber gewesen, dass der Neffe den vorgeplanten Lebensweg verlassen hatte, aber sie schmierte es ihm nicht jeden Tag aufs Butterbrot.

      Die Sonntage verbrachte das verliebte Paar meist gemeinsam. Unter der Woche hatte Rosina ebenfalls keine Zeit, weil sie ihrem Vater den Haushalt führte.

      Am 1. April 1951 legte Kaspar mit Bestnote seine Gesellenprüfung als Sattler und Polsterer ab und wurde von seinem Chef übernommen.

      Anfang Juli gestand Rosina ihrem Verehrer zaghaft, sie sei schwanger. »Aber weshalb so verzagt, meine Liebe? Das ist doch kein Grund, Trübsal zu blasen«, reagierte er strahlend und nahm sie in die Arme. »Wir bekommen ein Kind! Na prima! Dann werden wir halt so bald wie möglich heiraten.«

      Über diese Reaktion wunderte sich die Braut und war gleichzeitig erfreut. Der Jungmann nahm sich einen Vormittag Urlaub und marschierte mit seiner Liebsten zum Standesamt, um das Aufgebot zu bestellen. Gewissenhaft hatten beide ihre Personalausweise mitgebracht und legten sie dem Standesbeamten vor.

      Nach einem kurzen Blick in Kaspars Ausweis erklärte er: »Du kannst nicht heiraten, du bist ja noch minderjährig.«

      »Ich schon«, gab Kaspar zu. »Aber meine Braut ist volljährig. Soviel ich weiß, genügt es, wenn einer der beiden Brautleute erwachsen ist.«

      »Junger Mann«, belehrte ihn der Beamte, »du verwechselst da etwas. Wenn der Bräutigam volljährig ist, das genügt, dann darf die Braut minderjährig sein. Nicht aber in umgekehrtem Falle.«

      Noch gab sich der Heiratswillige nicht geschlagen. »Kann man da keine Ausnahme machen? Schauen Sie, meine Braut erwartet ein Kind, und ich möchte nicht, dass ihm später der Makel anhaftet, ein uneheliches Kind zu sein.«

      »Das ist kein Problem. Wenn du das Kind nach seiner Geburt offiziell anerkennst, wird es später, wenn du die Kindsmutter heiratest, automatisch als ehelich gelten.«

      Doch der junge Bräutigam bohrte weiter: »Gibt es wirklich keine Möglichkeit, dass ich jetzt schon heiraten darf?«

      »Da gäbe es schon eine Möglichkeit«, zeigte der Mann hinter dem Schreibtisch Verständnis für seine Lage. »Du müsstest dich halt für volljährig erklären lassen.«

      Kaspar horchte auf: »Und wie macht man das?«

      »Dazu brauchst du die Unterschrift deines Erziehungsberechtigten, dass er mit der Volljährigkeitserklärung einverstanden ist.«

      »Kein Problem«, gab sich der junge Mann optimistisch, eingedenk dessen, dass sein Vater keine Schwierigkeiten gemacht hatte, als es galt, das Abmeldeformular von der Schule und den Lehrvertrag zu unterschreiben.

      Bald musste der zur Heirat Entschlossene aber einsehen, dass er die Situation zu blauäugig eingeschätzt hatte. Als er seinem Vater das Formular zur Unterschrift vorlegte, auf dem es um die Volljährigkeitserklärung ging, stutzte der Vater: »Hoppla, mein Sohn, so schnell geht das nicht. Da muss ich erst Rücksprache mit deiner Tante und deinen Großeltern halten. Um beurteilen zu können, ob du schon die nötige Reife besitzt, um die Verantwortung für eine Familie zu übernehmen, kenne ich dich einfach zu wenig.«

      Dem Sohn lag schon auf der Zunge: Das ist doch nicht meine Schuld, dass du dich so wenig um mich gekümmert hast. Aber er schluckte diese Bemerkung hinunter, weil er den Vater nicht zusätzlich verärgern wollte.

      »Außerdem«, fügte der Vater nach einigem Nachdenken hinzu, »müssen wir erst Erkundigungen über das Mädchen einziehen, damit wir wissen, wen du in unsere Familie einzuführen gedenkst.«

      Dem heiratsfreudigen Paar wurde eine Menge Geduld abverlangt. Der »große Familienrat« tagte erst vierzehn Tage später. Diesem gehörten außer dem Vater und den Großeltern auch Tante Bärbel und Kaspars Bruder Hans an. Kaspar wurde in dem Raum nur als stummer »Angeklagter« geduldet, als über sein Schicksal entschieden wurde. Schon nach wenigen Sätzen erkannte er, dass es seinen lieben Angehörigen weniger darum ging, ob er schon ehemündig sei, als vielmehr darum, welche Qualitäten die Braut mitbringe. Sie sei nichts und sie habe nichts, war der Tenor der ganzen »Verhandlung«. Schließlich wurde das dem Bräutigam zu bunt. Er sah sich genötigt, etwas zur Ehrenrettung seiner Liebsten einzuwerfen: »Dass sie nichts hat, stimmt. Dass sie aber nichts ist, stimmt nicht ganz. Immerhin hat sie die Mittlere Reife, was auf eine gewisse Intelligenz schließen lässt. Nach ihrer Schulzeit hat sie sogar eine Lehre auf dem Landratsamt in Starnberg begonnen. Anderthalb Jahre später aber starb ihre Mutter, und sie musste ihre Ausbildung abbrechen, um ihrem Vater den Haushalt zu führen.


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