Data Leaks (1). Wer macht die Wahrheit?. Mirjam Mous
fange ich doch an zu clicken.
Wer bin ich denn, bitte schön?, schreibt Holden zurück. Der Weihnachtsmann? Ich will auch Geld, für ein Fernglas.
Plötzlich habe ich eine geniale Idee. Dann verkauf doch die Dosen mit dem Essen.
Spinnst du?, clickt er zurück. Erzähl es Ma lieber. Besser, sie hört es von dir, als dass sie selbst dahinterkommt.
Aber dann bin ich dem Untergang geweiht!
In meinem Kopf läuft ein tränenreicher Film mit mir in der Hauptrolle: Prissy Winters darf zur Strafe nie mehr zu Happy Day. Kleidergeld kann sie für den Rest ihres Lebens vergessen. Die Shoppingnachmittage mit Freundinnen sind Vergangenheit und mit ihren Loser-Klamotten verdirbt sie jedes Camfie. Sie wird zur Witzfigur auf Supershoot und nach einer Weile wird keiner mehr fragen, ob sie mitkommt. Im verblassenden Abspann sitzt sie in ihrem Zimmer; nur ihr Camphone leistet ihr Gesellschaft. Traurig schaut sie auf das Display. Sie bekommt nur noch Nachrichten von ihrer Mutter und wird nie mehr gelikt.
The End.
Mein Daumen zögert keine Sekunde mehr und clickt wie besessen.
Wenn du mir nicht hilfst, erzähle ich Mama tatsächlich alles.
Versenden.
Herzlichen Glückwunsch, clickt er zurück. Du bist jetzt offiziell eine Bitch.
»Und?«, fragt Flow.
»Holden ist auch pleite«, sage ich.
Holden
Ich gehe raus. Die Straße ist mit Blumengirlanden aus Papier geschmückt und überall hängen Fahnen mit Smileys. Auf dem Bürgersteig vor unserem Haus tanzt eine Katze mit Lackstiefeln. »Happy Happy Day!«
Ich vergesse Prissy und denke nur noch an den Inhalt meines Rucksacks.
Das wird ein großartiger Tag!
Die Haustür schließt sich automatisch hinter mir. Ich zurre die Rucksackgurte fest und nehme die kürzeste Strecke zum großen Platz. Die ganze Stadt blitzt und blinkt, als wäre sie gerade durch die Waschstraße gefahren. Alle Dächer mit Sonnenpanelen glänzen und aus jeder Fensterscheibe grinst mich mein Spiegelbild an. Ein langsamer schwarzer Schatten mit Guy-Fawkes-Maske.
Eine Gräfin mit einer turmhohen kanariengelben Perücke überholt mich. Sie ist nicht die Einzige, die schneller geht als ich. Meine Beine fühlen sich an wie zu straff gespannte Gitarrensaiten und auch mein restlicher Körper schmerzt. Abstürzen ist Spitzensport. Ich spüre Muskeln, von deren Existenz ich bis gestern Nachmittag nichts wusste.
Dicht vor mir bleibt ein mürrischer Engel mit Flügeln aus Kunstfedern plötzlich stehen. Sie streckt den Arm aus, hält ihr Camphone bereit und beginnt, aus dem Nichts heraus zu lächeln – noch breiter als die Smileys auf den Fahnen –, als gäbe es einen Preis dafür.
Am größten Fake-Tag des Jahres sind alle glücklich. Klick.
Sobald sich ihr Arm wieder senkt, biegen sich ihre Mundwinkel mit nach unten.
Ein perfektes Bild für Fail Nail.
Schnell mache ich ein Camfie von ihr und gehe dann Richtung Obamaroad.
Es ist lächerlich voll dort. Ich zwänge mich zwischen Bäuchen und Rücken durch und erreiche mit Müh und Not den Virtual Travelshop. Ab dort gibt es wirklich kein Vorwärtskommen mehr. Ich bin eingeklemmt zwischen einem Pierrot und einem kleinen venezianischen Arzt, der eine Maske trägt. Sie bedeckt sein ganzes Gesicht und hat eine lange, scharfe Nase.
Doktor Vogel, denke ich.
Trompetengeschmetter. Die Eröffnungsrede beginnt. Alle schauen hoch zu den Dutzenden Werbe- und Informationsprojektionen, die gleichzeitig schwarz werden. Unmittelbar danach leuchten die Bildschirme wieder auf und einer nach dem anderen zeigt dasselbe Bild: ein Podium mit fünf Mikrofonen vor den breiten Treppen des Denkmals für den Frieden.
Es ist, als würde eine Decke über die Welt fallen und alle Geräusche dämpfen. Ich bin jedes Jahr aufs Neue verblüfft, dass so viele Menschen so unglaublich still sein können.
Zwei Männer und drei Frauen betreten das Podium und stellen sich hinter ihre Mikrofone. Unsere neuen Führenden …
In ihren Glitzeranzügen ähneln sie einer Popgruppe.
»Willkommen«, bricht die Erste Führende das Schweigen. Sie hat ihr rötliches Haar so straff nach hinten gebunden, dass es wie ein Helm wirkt. »Heute erinnern wir uns wieder an die Bangen Jahre, in denen es noch Terroranschläge mit Messern, Bomben und Fahrzeugen gab. Die Zeit, in der ein asiatischer Diktator Raketen abfeuerte, als handele es sich um Spielzeug, und jeder Angst davor hatte, wie unser unberechenbarer Präsident darauf reagieren würde.«
Als unser Zweiter Führender nickt, bewegen sich seine langen Dreadlocks mit. »Unterdessen drohte unsere wunderbare Erde auch noch vor Verschmutzung und Erschöpfung zusammenzubrechen. Das Klima veränderte sich, verheerende Brände und Orkane waren an der Tagesordnung, der Meeresspiegel stieg und die Meere verwandelten sich in Plastiksuppe.«
Damals durfte man wenigstens noch in der freien Natur schwimmen, denke ich trotzig. Jetzt schicken sie einen für eine sogenannte Ocean Experience in ein Wellenbad.
Unsere Dritte Führende hat das Wort. Eine große dunkelhäutige Frau mit einer Tribal-Tätowierung, die die Hälfte ihres Gesichts bedeckt.
»Ökonomisches Wachstum«, sagt sie. »Nur das zählte. Es war nicht genug, plus minus null herauszukommen. Es musste Gewinn gemacht werden, auf Kosten alles anderen. Mensch, Tier, Umwelt …«
»Aber!«, ruft unser Vierter Führender – ein blasser Mann um die fünfzig mit mädchenhafter Stimme. »Zum Glück entstand eine Gegenbewegung. Immer mehr Menschen begannen aus eigener Initiative heraus, nachhaltige Produkte zu entwickeln, und machten sich stark für eine bessere Welt. Im Gegensatz zu den führenden Politikern handelten sie vorausschauend. Sie wollten, dass auch ihre Kinder und Enkel noch eine Zukunft haben würden.«
Unsere Fünfte Führende hebt die geballte Faust. »Und wir sind auf dem richtigen Weg!«
Vermutlich, indem wir jeden Tag dasselbe langweilige Vita essen?
»Die Große Umkehr hat alles besser gemacht«, sagt sie, während sie uns eindringlich anschaut. »Unsere Energie stammt jetzt nur noch aus grünen Quellen. Unsere Elektroautos sind so programmiert, dass sie keinem Menschen mehr Schaden zufügen können. Unser Ernährungsmuster wurde verändert, sodass kein Mensch mehr Hunger leiden muss. Unsere Kleidung wird nachhaltig produziert und unser weniger Abfall kann restlos recycelt werden. Krankheiten sind zum größten Teil ausgerottet. Die Luftqualität hat große Fortschritte gemacht, seit wir den touristischen Flugverkehr abgeschafft haben. Fernreisen sind überflüssig geworden. Virtual Reality ist mittlerweile so weit entwickelt, dass man jedes Land auch zu Hause erleben kann.«
Die Polarforscher von damals würden sich kaputtlachen. Ich betaste meinen Rucksack. Wie meine Kleidung ist er pechschwarz, wodurch er so wenig auffällt wie ein Eisbär im Schnee – der übrigens unter seinem weißen Fell eine dunkle Haut hat und in den Bangen Jahren fast ausgestorben wäre.
»Lasst uns Mutter Erde feiern«, sagt die Rednerin. »Auf dass wir alle gesund und in Frieden alt werden dürfen.«
Unsere Führenden schauen sich strahlend an. »Happy Happy Day!«
Und dann beginnt die ganze Stadt, zu den Monitoren hinaufzurufen, als ob diese sie hören können. Ein ohrenbetäubendes »Happy Happy Day« hallt zwischen den Häusern wider.
»Gänsehaut«, murmelt der Pierrot neben mir.
Ich denke an den Inhalt meines Rucksacks. Der wird ihnen echte Schauer über den Rücken jagen.
Prissy
Ich spüre das Dröhnen der Trommeln in meiner Brust, während die Parade an uns vorbeizieht. Die trommelnden Männer tragen gestreifte