Data Leaks (1). Wer macht die Wahrheit?. Mirjam Mous
Freundin?«, fragt er.
Während ich nicke, pingt mein Camphone noch einmal.
Flow: Verrückt! In einer halben Stunde höre ich wieder von dir. Sonst hole ich Hilfe.
»Okay«, sage ich zu Mo.
Wir biegen in eine Seitenstraße ein und gehen zum Park hinüber. In den Bäumen entlang der Straße hängen Äpfel mit Smiley-Gesichtern. Alle Bänke sind besetzt und auch im Gras liegen verkleidete Leute. Beim Teich spielt ein weißes Alice-im-Wunderland-Kaninchen Querflöte.
»Du hast gesagt, du kennst mich«, sage ich, während wir einem vloggenden Showgirl ausweichen. »Aber woher?«
»Aus dem City-Museum«, antwortet Mo. »Ich habe dich dort mit deiner Mutter gesehen. Wärst du allein gewesen, hätte ich dich auch angesprochen, aber …« Er macht eine hilflose Geste mit dem Arm.
»Ich habe heimlich ein Camfie von dir gemacht und es durch eine Gesichtserkennungs-App geschickt. Damit fand ich dein Profil im Internet und konnte deine Nummer herauskriegen.«
»Okay.« Ich bin mir nicht sicher, ob ich mich geschmeichelt fühlen oder mir Sorgen machen soll.
»Aber woher wusstest du, was im Schwimmbad passiert ist? Mein Camphone lag in meinem Schließfach.«
»Die meisten Überwachungskameras lassen sich leicht hacken.« Er sagt es achtlos, als wäre es die normalste Sache der Welt.
Für ihn wahrscheinlich schon.
Wir verlassen den Park und landen in einer Straße mit beidseitigen Aufladestreifen und Dutzenden parkenden Autos. Mo hält sein ID-Bändchen an einen blauen Zweisitzer und öffnet die Tür.
In einem Auto kann man nicht weglaufen.
»Die Fahrt dauert nur fünf Minuten«, sagt Mo, der offenbar mein Zögern spürt. »Zu Fuß brauchen wir eine halbe Stunde. Entscheide du.«
Flow weiß Bescheid. Das Camfie ist meine Lebensversicherung und der Tracker an meinem Camphone ist eingeschaltet.
Mit wackligen Beinen steige ich ein.
Holden
Eine lächelnde Frau mit Lippenstift auf den Zähnen. Ein Mädchen, das aus Versehen den Mantel schief zugeknöpft hat. Ein schlafender Mann, der nicht merkt, dass sich eine Fliege auf seinen geöffneten Mund zubewegt.
Pa und ich veranstalteten jedes Jahr einen kleinen Wettkampf. Wer stellt das beste Lachnummer-Camfie auf Fail Nail? Seine »ersoffene Katze« steht bislang auf dem ersten Platz: eine als Katze verkleidete Frau, die in den Parkteich gefallen ist und triefend ans Ufer klettert.
Dieses Jahr schlage ich dich, Alter!
Auf der Suche nach geeignetem Material lasse ich meinen Blick schweifen. An einer Fassade lehnt ein großer Mann im Gangster-Outfit. Sofort denke ich wieder an den geheimnisvollen Zettel.
Als ich ihn Ma gestern zeigte, hatte sie nur mit den Schultern gezuckt.
»Sagt mir nichts«, meinte sie. »Es könnte der Name für diesen Typ Ring sein oder vielleicht von seinem Designer. So was wie die Unterschrift auf echten Kunstwerken oder so.«
Ich glaubte ihr kein Wort. Solche Ringe werden nicht von Hand gemacht, sondern mit Tausenden anderen gleichzeitig gedruckt. Das ist vollautomatische Serienarbeit – was bedeutet, dass in allen Kunststeinen dieselben Zettelchen stecken würden. Jeder einzelne mit demselben geheimnisvollen Wort darauf, in einer Fake-Handschrift, geschrieben von einem Tintenroboter. Ich kann mir nicht vorstellen, dass sich jemand so viel Mühe für eine Ladung Zettelchen macht, die kein Mensch zu Gesicht bekommt.
Das heißt … außer mir und Pa.
»Wie kam Pa eigentlich an diesen Ring?«, fragte ich.
Mas Schultern hoben sich wieder. »Der wird wohl zum Kostüm gehört haben.«
»Aber nein«, mischte sich Kleidungsfreak Prissy ein. »Zu diesem Kostüm gab es keine Ringe. Nur Ketten.«
»Dann weiß ich es auch nicht«, sagte Ma.
Zu meinem Erstaunen zerknüllte sie den Zettel und warf ihn in den Schredder, der ihn mit einem nagenden Geräusch auffraß.
»Was machst du denn?«, rief ich.
»Vermeiden, dass du ihn in deine Hosentasche steckst.« Sie öffnete eine Büchse Algenpulver und schöpfte ein paar Löffel in den Shaker. »Ich möchte nicht, dass er aus Versehen in der Wäsche landet.«
Bullshit!
»Das geht gar nicht«, sagte ich. »Diese dämliche Waschmaschine fängt ja schon an zu piepsen, wenn ein Sandkorn in meiner Socke steckt.«
»Und wer darf es dann rausfischen?« Ma lächelte zufrieden, als hätte sie gerade eine unwiderlegbare Erklärung abgegeben. Verdächtig zufrieden.
»Verbirgst du vielleicht etwas?«, fragte ich.
Prissy war diejenige, die rot wurde. In dem Moment hatte ich noch keine Ahnung, weshalb.
Ma lachte wie eine Hyäne. »Was für seltsame Fragen!«
Meiner Ansicht nach war ich der Einzige hier, der sich normal verhielt. Aber als ich das sagen wollte, schaltete Ma den Shaker an und dieses Ding macht so viel Lärm, dass ich in mein Zimmer flüchtete. Dort habe ich alle Happy-Day-Camfies aus der Familiencloud durchgeblättert. Das, auf dem Pa in seinem Gangsteranzug die Treppe hinunterkommt, war auch dabei. Offenes Hemd, gemalte Brusthaare, eine Unmenge von Ketten und ein breites Grinsen – alles genau so, wie ich mich erinnerte. Bis auf eine Sache. Der Ring mit dem dicken Klunker fehlte.
Ich checkte die Uhrzeit. Das Camfie war um elf Uhr morgens entstanden.
Hatte er den Ring erst später an diesem Tag bekommen? Aber von wem? Und noch wichtiger: warum?
Prissy
Von außen wirkt das Gebäude wie eine langweilige graue Schachtel.
»Das ist sie«, sagt Mo zur Kamera über dem Eingang.
»Laşer?«, frage ich.
Mo nickt und öffnet die schwere Tür mit seinem ID-Bändchen.
Kaum sind wir drinnen, springen über unseren Köpfen Dutzende von Lampen an. Sie beleuchten eine ausgestorbene Skatehalle mit großen Rampen und Miniramps, einer Halfpipe und ein paar Funboxen.
Alle Wände sind mit grellbunten Fabelwesen bemalt, die auch im Citymuseum nicht fehl am Platze wären. Sie sind niedlich und beängstigend zugleich. Ich bewundere eine Gruppe schlanker, schuppiger Gestalten mit herzförmigen Köpfen und Straußenwimpern. Ein flauschiges Hündchen mit einem blutigen Arm in der Schnauze. Eine Krähe mit einem Totenkopf und Manga-Augen …
»Dein Profilbild«, sage ich. »Ist das Bild auch von dir?«
»Nur das Camfie.« Mo geht zu einem Nebenraum auf der anderen Saalseite. »Ich bin kein Künstler wie Laşer.«
Mittlerweile erwarte ich einen Superjungen, der alles kann. Im Nebenraum ist die Decke viel niedriger und das Licht gedimmt. In der Mitte gruppieren sich einige alte Sofas und dort hängt auch ein antiker Beamer. In der Ecke stehen ein paar BMX-Räder, Skateboards und ein paar mit Gaze abgedeckte Kartons.
»Das Wormhole?«, frage ich.
»Nein, die Cafeteria.«
»Okay.« Ich grinse. »Gemütlich.«
»Hier müssen wir hin«, sagt Mo und öffnet mit einem Zahlencode eine Tür neben dem Käfig.
Ich betrachte die funzelige Lampe über der Steintreppe, die nach unten führt, und dann lache ich nicht mehr.
Dunkel und unterirdisch. Also doch.
»Geh du vor«, sage ich schnell.
Wir steigen hinab in die Höhlen des