Der gefundene Sohn. Edeltraud-Inga Karrer
als die Schule.
Eines Tages schiebt er ein Mofa auf den Hof und steht mit stolzgeschwellter Brust vor Jack.
»Sieh mal, ist das nicht ein Superding?«, und schaut immer wieder Beifall heischend auf das Gefährt und dann auf seinen Bruder.
»Wo hast du das denn her?«, will Jack wissen.
»Von Tom. Der hat es mir ausgeliehen.«
»Du darfst aber nicht damit fahren!«, warnt Jack ihn.
»Und warum nicht? Ich kann die Maschine fahren. Ist für mich überhaupt kein Problem!«, gibt er an. Er ist enttäuscht über die Reaktion seines Bruders.
»Da ist kein Nummernschild dran, deshalb darfst du nicht damit fahren«, will Jack ihn altklug und sehr vernünftig davon abhalten, eine große Dummheit zu begehen.
»Ach, wer soll mich schon erwischen? Ich fahr doch gar nicht weit, nur zu Tom«, wischt Andy Jacks Bedenken zur Seite und schwingt sich auf den Sattel.
»Du darfst nicht damit fahren, Mensch, du kriegst Probleme! Wenn die Polizei dich erwischt.«
Das irritiert seinen Bruder nicht im Geringsten. Er startet den Motor und will los fahren. Jack hängt sich an den Gepäckträger und versucht, seinen Bruder daran zu hindern, sich strafbar zu machen. Aber dieser gibt Gas und Jack wird in die Rosenhecke geschleudert. Mit Mühe rappelt er sich auf und zieht die vielen Dornen aus seiner Haut, die er sich bei seinem Sturz eingefangen hat.
An diesem Tag geht ein Riss durch ihre Beziehung. Von nun an scheint Jack die Position Andys in der Familie aus einem anderen Blickwinkel zu sehen. Bislang hat Andreas schon hin und wieder Wert auf Jacks Meinung gelegt, wenn er eine Entscheidung zu treffen hatte. Und nicht selten befolgte er sie auch. Jack war halt der Durchdenker, der nicht so spontan auf jedes Pferd aufsprang, das vorbeigaloppierte. Mit seiner ruhigen, besonnenen Art hatte er bis heute Andy vor mancher Dummheit bewahrt. Aber nun ist ihm klar, dass sein Bruder nicht mehr fragen und seine Warnungen nicht einmal mehr überdenken würde.
Und tatsächlich trennen sich mit dieser Aktion die Wege der Zwillinge. Sie bleiben zwar zunächst zwangsläufig unter einem Dach wohnen, aber jeder lebt sein eigenes Leben. Immer seltener kann Jack sagen, wo sich Andy gerade herumtreibt. Er hatte ihn früher hin und wieder gedeckt, wenn er angetrunken oder schlimmer nach Hause kam, indem er ihn heimlich in seinem Zimmer übernachten ließ, denn Andys Zimmer lag dem Elternschlafzimmer direkt gegenüber und Magda hätte das Öffnen der Tür bemerkt. Das nun vorbei. Die Brüder lieben einander, doch Liebe muss auch akzeptieren, wenn jemand nicht folgen will.
Leider rutscht Andreas in eine Gesellschaft, die ihm nicht gut tut. Jakob bemerkt das, kann ihn aber nicht davon abhalten. So manches Mal läuft er mit schwerem Herzen herum, doch was soll er machen? Andy hat ihm oft genug signalisiert, dass er Korrektur von ihm nicht mehr annimmt.
Jakobs Leistungen in der Schule sind so gut, dass feststeht, dass er studieren wird. Er weiß zwar noch nicht genau, was es sein wird, aber die grobe Richtung hat er sich bereits vorgegeben. Es betrifft die MINT-Bereich, das heißt die Fächer Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften und Technik. Spielerisch schreibt er eine gut Note nach der anderen und kann nicht verstehen, wieso sich sein Bruder mit viel Mühe durch die Schuljahre hindurchquälen muss.
Mit sechzehn Jahren beginnt Andy eine Lehre in einem handwerklichen Betrieb. Für ihn kam nie etwas anderes infrage, als an Autos herumzuschrauben. Diese Zeit hilft ihm, Abstand von den Leuten zu bekommen, mit denen er bislang herumgehangen hat und die so völlig ohne Perspektive sind. Er tut nun Dinge, die ihn mehr ausfüllen, als all der Unsinn, mit dem er sich bislang seine reichliche Freizeit vertrieben hat. Es macht ihm Freude. Die Berufsschule beeinträchtigt sein Glück ein wenig. Doch als er nach drei Lehrjahren seine Prüfung mit Mühe und Not besteht, lobt ihn sein Chef ganz ausdrücklich vor den anderen Mitarbeitern und fragt ihn, ob er nicht bei ihm bleiben möchte. Andy will es sich überlegen.
Jack ist zur selben Zeit im Abi-Stress. Nun muss auch er sich ein bisschen anstrengen, um einen guten Abschluss zu machen. In dieser für ihn so aufregenden und ein wenig angespannten Zeit bekommt er nicht mit, dass Andreas sich entscheidet, fortzugehen. Er hatte seine Eltern gebeten, ihm ab seinem sechzehnten Geburtstag immer nur Geld zu schenken. Sparsam hatte er sich auch so manchen Schein von seinem Lehrlingslohn weggelegt. Und nun findet er den Zeitpunkt für gekommen, das »Hotel Mama« zu verlassen und sich dem Wind der Fremde auszusetzen.
Andy ist der Ansicht, mit seiner bisher gepflegten Erscheinung – kurzer Haarschnitt, heile Jeans, saubere T-Shirts und ordentlich gestutztem Bart – nicht dem gemeinhin anerkannten Bild eines Globetrotters zu entsprechen. Also belässt er seine Frisur, macht einen großen Bogen um jeden Haarstutzladen und lässt auch im Gesicht sprießen, was da sprießen will. Am Anfang ist das Ergebnis noch nicht überwältigend, aber mit den Jahren wird es schon noch werden.
Sein großer Rucksack verursacht tiefe Riefen in seinen Schultern. Auch daran wird er sich gewöhnen, er ist schließlich kein Weichei!
Magda und Johannes, warnen ihn davor, sein ganzes Geld bar mit sich herumzutragen. Aber sie sind es inzwischen schon gewöhnt, dass er nicht auf sie hört.
Mama fragt noch: »Wie lange bleibst du fort?«
»Bis ich wiederkomme«, lacht er. Dann setzt er noch etwas verbindlicher hinzu: »Ich melde mich.«
Die Sonne reibt sich verwundert die Augen. Ein junger Mann, so früh schon aus den Federn und er singt ein Lied, dessen Text ihm nicht ganz geläufig ist, sodass er den Rest der Melodie durch Pfeifen ergänzt.
4. Kapitel
Abends kehrt Andy in einer Jugendherberge ein. Er will sparsam mit seinem Geld umgehen. Irgendwann gegen Mittag hatte er an einer Imbissbude angehalten und zwei Würstchen und Pommes gegessen. Im Supermarkt kaufte er ein paar Flaschen Wasser. So, nun muss er noch irgendwo etwas vespern.
Auch das ist geschafft und er legt sich nach einer kurzen Dusche in sein Bett. Es ist noch früh am Abend, aber er ist von der ungewohnt langen Wanderung müde. Irgendwann in der Nacht hört er, dass sich jemand in das Bett nebenan legt. Nichts ungewöhnliches in einem Schlafsaal. Man muss sich bei der wirklich günstigen Übernachtungsmöglichkeit damit abfinden. Bald darauf ist er wieder eingeschlafen.
Am Morgen scheint die Sonne durch die Fenster und er rappelt sich auf. Neben ihm liegt ein junger Mann, wohl der, der ihn in der Nacht geweckt hat. Sehr kurze dunkle Haare liegen auf dem Kissen. Vom Gesicht sieht man nicht sehr viel. Er hat es mit der Decke fast komplett eingepackt.
Als Andreas gestern ankam, las er auf einem Hinweisschild, wo der Frühstücksraum ist. Also, noch einmal unter die Dusche und auf zum Magenfüllen!
Es duftet im Haus nach Kaffee und es gibt tatsächlich frische Brötchen. Er lässt es sich gut gehen und hat Zeit. Nach dem eigentlichen Frühstück holt er sich noch ein Glas Saft und will wieder Platz nehmen. Da stellt er fest, dass sich sein Bettnachbar an seinen Tisch gesetzt hat und ebenfalls sein Frühstück verzehrt. Sie begrüßen sich und kommen ins Gespräch.
Jonathan ist – wie Andreas – auf der Wanderschaft. Auch er will ein wenig von der Welt sehen, bevor das harte Berufsleben beginnt. Sie stellen fest, dass sie ähnliche Vorstellungen haben und planen, ihren Weg ab sofort gemeinsam zu gehen. Sie wollen sich heute die Stadt ansehen, noch einmal übernachten und sich morgen früh in das Abenteuer stürzen.
Inzwischen sind sie schon eine Woche miteinander unterwegs und lernen sich immer besser kennen und vertrauen. Große Städte meiden sie. Beide sind sich einig, dass sie sich so weit wie möglich von der Zivilisation entfernen wollen. Das gelingt ihnen nicht immer, doch sie marschieren durch viele Wälder und über viele Wiesen, um asphaltierten Straßen und Betonwegen auszuweichen. Hier, wo sie sich gerade befinden, kennen sie sich nicht mehr aus. Ein Kompass, den Jonathan vorsorglich in seinem Gepäck mitgenommen hat, zeigt ihnen oft ihren weiteren Weg.
Sie hatten sich darauf geeinigt, ganz oben im Norden anzufangen, um Deutschland zu erkunden. So kommen sie irgendwann an der Küste an, die im strahlenden Sonnenschein vor ihnen liegt. Rechts und links zieht sich der Deich, Schutzwall gegen stürmische