Der gefundene Sohn. Edeltraud-Inga Karrer
Er war voller Tatendrang. Mal sehen, ob wir ihn noch einmal zu Gesicht bekommen.«
Sie gehen beide gern unvorbereitete Wege. So steigen sie über Gestrüpp und Baumwurzeln. Andy ist nun äußerst vorsichtig, damit sein Fuß keinen neuen Schaden nimmt. Sie kommen an eine Hütte, die mitten im Wald liegt und offenbar bewohnt ist. Lediglich ein Trampelpfad führt zu ihr hin. Neugierig nähern sich die jungen Männer der Behausung und schon öffnet ein etwas strubbliger Mann die kaum aufzudrückende wacklige Tür.
»Kommen Sie ruhig her. Ich beiße nicht.« Gastfreundlich streckt er ihnen die Hand entgegen. Hinter dem Haus hören sie einen Esel rufen.
»Hugo hat Hunger oder er hat mitbekommen, dass ich Besuch habe.« Und ihnen den Rücken zukehrend, fügt er hinzu: »Hugo, es ist alles in Ordnung, sie sagen dir gleich ›Hallo‹. Kommen Sie.«
Eifrig läuft er zu einem Bretterverhau voran, in dem Hugo seinen grauen Kopf über die Halbtür herausstreckt, um die zwei Neuankömmlinge genauestens in Augenschein zu nehmen. Brav tätscheln diese den Esel und der nimmt es zufrieden hin.
»Manchmal verläuft sich wochenlang niemand hierher. Und nun gleich drei innerhalb von vier Tagen.«
Damit öffnet der Alte, der sich als Hans vorgestellt hat, die Tür noch ein bisschen weiter und sie können ins ziemlich dunkle Innere der behelfsmäßigen Behausung schauen. Dort liegt ein Mensch auf einer Pritsche.
»Hinnerk, wir haben Besuch«, bereitet er den Liegenden auf die zwei Neuen vor.
Sie treten ein und tatsächlich – da liegt er, ihr Freund, der mit ihnen die Welt erkunden wollte.
»Was ist passiert? Was machst du hier?« Natürlich muss er einige Fragen über sich ergehen lassen.
Der Alte ist hinaus gegangen und hat einen Propangaskocher angeworfen, um einen schönen starken Kaffee zu brauen. Damit kommt er kurz darauf in die Hütte, gießt vier verbeulte Zinkbecher voll, greift hinter sich in ein rustikales Regal, gefertigt aus rohen Baumstämmen und ungehobelten Brettern, stellt den Zucker auf den Tisch und wendet sich dann seinen Gästen zu. Dabei streicht er das ihm immer wieder über die buschigen Augenbrauen fallende weiße Haar hinter sein Ohr. Das faltenreiche Gesicht, das ein erstaunlich mächtiger Schnurrbart ziert, strahlt eine freundliche Zufriedenheit aus. Offensichtlich gefällt ihm die Situation, in der er sich befindet. Wie ein Soldat hält er sich sehr aufrecht und erscheint damit größer, als er in Wirklichkeit ist.
Hinnerk schweigt auf die Fragen seiner ehemaligen Begleiter. Er sieht wirklich nicht gut aus. Er ist verpackt wie eine Mumie. Sein linkes Bein ist vom Oberschenkel bis zum Fußknöchel mit einer Mullbinde umwickelt. Beide Arme befinden sich in einem ähnlich verpackten Zustand.
Da der Verletzte schweigt, beginnt Hans zu erzählen, wie er ihn gefunden hat.
Wie jeden Tag war er durch seinen Wald gestreift, um Beeren oder Pilze zu sammeln. Da lag der junge Mann an einen Baum gelehnt, in der Nähe des Hauptweges, auf dem manchmal auch verbotenerweise Autos fuhren. Irgendjemand musste ihn dort abgelegt haben, denn Hinnerk war nicht bei Bewusstsein. So hatte Hans seinen Hugo geholt, Hinnerk irgendwie auf den Eselsrücken verfrachtet und ihn zur Hütte gebracht. Durch das Gerüttel auf dem Tier war er wohl wieder wach geworden. Er hatte ihm Schmerztabletten gegeben und versucht, ihn zum Essen zu bewegen. Bislang hat er nur getrunken und geschlafen.
»Heute habe ich Kartoffelbrei gekocht. Ich hoffe, er kann das essen. Apfelmus habe ich auch noch irgendwo.« Ja, sein Regal gibt noch einige Schätze her.
Tatsächlich richtet sich sein Patient auf und versucht zu essen. Es fällt ihm schwer, aber offensichtlich siegt der Hunger. Er schlürft den Inhalt des Löffels in seinen Mund. Die Lippen sind dick angeschwollen und in seinen Mundwinkeln ist verkrustetes Blut zu sehen.
»Mann, da hat dich ja jemand gut zugerichtet!«, kann Andy sich nicht verkneifen.
Hinnerk nickt nur und lässt sich beim Schlürfen nicht weiter stören. Irgendwann legt er den Löffel beiseite, trinkt mit dem Strohhalm noch einen Schluck Kaffee und lässt sich aufstöhnend und sichtlich erschöpft auf sein Kissen fallen.
Ziemlich undeutlich beginnt er zu erzählen:
»Ich bin von euch weggegangen und habe einen getroffen, der ein Stück mit mir gehen wollte, weil er in der nächsten Stadt einen Termin habe und sein Auto irgendwo nicht mehr weiterfahren wolle. Ich hab ihm geglaubt und war auch froh, nicht mehr allein zu sein.«
Schon braucht er eine kurze Erholungspause. Dann fährt er fort: »Ob ich ein Handy dabei habe, fragte er und ich gab es ihm. Er tippte irgendwas ein und hielt es sich eine Weile ans Ohr. ›Oh, Scheiße, der Igor geht nicht ans Telefon. Jetzt bin ich aufgeschmissen.‹ Ich wollte wissen, wo sein Problem sei. Er sagte mir, er habe seinen Geldbeutel nicht dabei und seine Scheckkarte verloren. Igor sollte ihn eigentlich abholen und ihm Geld geben, damit er Sprit besorgen und sein Auto betanken könnte. ›Was mach ich bloß?‹
Sie waren weitergelaufen, da fragte der Mann ihn, ob er ihm etwas leihen könnte. Als Hinnerk ihm einen kleineren Schein reichen wollte, hat der andere ihm den Geldbeutel entrissen und ist davongelaufen. Hinnerk lief hinter ihm her, holte ihn ein und wollte sein Geld wieder zurückhaben. Der hat ihm ins Gesicht geboxt, sodass er zu Boden ging.
Der Schläger war zu seinem Auto gelaufen, an ihm vorbeigefahren, hupte noch einmal und war verschwunden. So war Hinnerk bei der Pensionswirtin angekommen und konnte seine Übernachtung nicht bezahlen.
Nun macht er wieder eine Pause. Man kann sehen, dass ihm der Mund vom Reden wehgetan hat. Er schließt die Augen und ist kurze Zeit später eingedöst.
6. Kapitel
Um den Kranken nicht zu stören, gehen die drei vor die Tür und setzen sich auf die klotzigen Stühle, die Hans aus dicken Baumstämmen hergestellt hatte. Sie sind überraschenderweise relativ bequem, weil sie sogar Rücken- und Armlehnen besitzen. Aus einem Kanister gießt er die drei Gläser voll Wasser. »Quellwasser«, wie er betont.
Jonathan und Andy sind sehr gespannt auf seine Geschichte. Ihre eigene hatten sie ihm schon kurz erzählt, die mit ihrem gemeinsamen Start in die Erkundung der Welt begann.
Sie spüren, dass der Alte gern erzählen will. Das ist ja oft bei Menschen so, die nicht sehr viel Gelegenheit zum Reden haben. Und die Gespräche mit Hugo waren sicher auf die Dauer auch zu einseitig.
Hans ist seit einigen Jahren Frührentner. Seine Familie lebt in der Stadt. Dort wohnen in einem ganz normalen Haus seine Frau und ihre zwei Söhne. Er hat schon immer vom Aussteigen geträumt. Eines Tages stand für ihn fest, dass er aus der Hektik und Unruhe der Stadt in den Wald gehen würde. Doch seine Frau konnte er auch mit den herrlichsten Beschreibungen eines freien Lebens, nicht davon überzeugen, mit ihm zu gehen, um die Romantik der Spinnen, des nicht vorhandenen Leitungswassers, der fehlenden Heizung und Dusche mit ihm zu teilen.
Ihn hielt das aber nicht davon ab, sich im Schwarzwald eine Hütte zurecht zu zimmern. Der etwas kritische Blick seiner Besucher veranlasste ihn zu dem Geständnis, dass er handwerklich nicht besonders begabt ist. Aber dafür war das Ganze doch recht stabil. Es hatte schließlich schon drei Jahre überstanden, ohne dass ihm etwas auf den Kopf gefallen war. Keine Wand war eingestürzt, sein Hugo stand im Trockenen und es hatte ihm bisher auch noch nicht ins ›Haus‹ geregnet.
Jonathan und Andreas, beide nicht ungeschickt, bieten ihm an, gerne mit anzupacken, wenn es etwas auszubessern oder zu befestigen gäbe. Sie haben keine Eile und werden von ihm großzügig bewirtet. Irgendwie wollen sie sich gern dankbar erweisen, auch wegen Hinnerk, für den sie sich ein bisschen verantwortlich fühlen.
So greifen sie zu Hammer, Nägeln und Säge und machen sich an die Arbeit. Hier und da können zu feststellen, dass das Dach dem nächsten Regenguss wohl nicht standhalten wird. Eine Wand richten sie wieder gerade aus und mit einigen Stämmen, die Hans hinter der Hütte deponiert hat, wird sie so verstärkt, dass selbst ein Sturm dem Häuschen nichts anhaben kann.
An einzelnen Stellen ist noch etwas zu reparieren. Andy und Jonathan bemerken, dass sie sehr gut Hand in Hand arbeiten können.
Die