Der gefundene Sohn. Edeltraud-Inga Karrer
Meer sehen sie zunächst einmal nichts. Die Nordsee hat sich weit zurückgezogen und ihren nassen Grund entblößt, der den Möwen einen reich gedeckten Tisch präsentiert. Muscheln, Seesterne, Algen aber auch Treibholz, leere Dosen und Plastikflaschen nehmen ihren vorübergehenden Platz ein. Es wird nur noch ein paar Stunden dauern, bis sich das Bild wieder ändert. Dann wird das grüngraue Nass den Strand wieder zurückerobern und das Gelage der Möwen beendet sein.
Es riecht nach Teer und Salz. Der ständige Wind verfängt sich in ihren Schildkappen und lässt sie davonfliegen. Durch Andreas blonde, nun doch zu lange Haare und Jonathans dunkle Stoppeln weht er hindurch. Lachend rennen sie hinter ihren Mützen her und fangen sie wieder ein. Die Möwen sehen sich das Wettrennen an und müssen laut über soviel Übermut lachen.
In der Teestube, an der sie vorhin vorbeigekommen waren, lassen sie sich nieder und genießen, dass sie ihre Beine ausstrecken und sich erholen können.
Der nächste Morgen findet sie fröhlich bei ihrem Frühstück draußen im Freien. Schon früh haben sie sich aus den viel zu weichen Matratzen gerollt, ihren Rücken ein bisschen gedehnt und sich vorgenommen, sich östlich zu halten.
Sie bestaunen auf ihrer Wanderung die Kieler Förde, müssen ihren Kopf weit in den Nacken legen, um die Spitze des Marineehrenmals zu sehen und stapfen in dem engen U-Boot schön geordnet in Reih und Glied hinter den anderen Besuchern her, weil Gegenverkehr nur sehr schwer zu bewerkstelligen ist. Als Andy rechts und links schaut und nicht genug auf seine Füße achtet, tritt er einem Mann in die Hacken. Dieser dreht sich sofort um und herrscht ihn an: »Kannst du nicht aufpassen, du Stoffel!« Andy hätte am liebsten erwidert: »Selber Stoffel!« Aber er verkneift es sich. Hier ist eine, über das Verbale hinausgehende Auseinandersetzung wegen der schmalen Gangmöglichkeiten nur sehr schwer umzusetzen.
Draußen wartet der Getretene auf Andy. Er hat offensichtlich große Lust auf eine ordentliche Prügelei. Andy ebenso, doch der abgeklärte Jonathan verhindert seelenruhig das Duell.
»Kommt, hört auf zu spinnen. Das ist doch kein Grund zur Schlägerei. Lasst uns lieber ein Bier darauf trinken. Wir laden dich ein – wie heißt du eigentlich?«
»Hinnerk«, antwortete dieser und sieht ihn völlig überrascht an. Mit einer solchen Wendung der Sache hat er nicht gerechnet.
»Also kommt, du bist eingeladen Hinnerk.«
»Aber nicht von mir«, mault Andy, geht aber letztendlich doch mit.
Nach ein paar Stunden trollen drei gutgelaunte, etwas zu laut und falsch singende Burschen durch den Ort. Andy und Hinnerk schlagen sich in trauter Zweisamkeit ständig auf die Schultern, um sich zu versichern, dass sie die besten Freunde sind. Hinnerks rote Locken schauen unter der schief sitzenden Kappe hervor, was ihm ein verwegenes Aussehen gibt.
Jonathan hat auch zu tief in mehrere Gläser geschaut und es ist nicht beim Schauen geblieben. Er muss sich mächtig anstrengen, einigermaßen gerade zu gehen, um nicht lächerlich zu wirken. Bei dem Freudentaumel der beiden frischversöhnten Kameraden kann er nicht mitmachen. Er fürchtet sich übergeben zu müssen, wenn er sich mehr als unbedingt notwendig bewegt.
Sie finden sich in ihren Betten wieder und Jonathan kämpft gegen die Karussellfahrt an, aus der es ihm einfach nicht gelingt, auszusteigen. Doch irgendwann findet auch er einen beruhigenden Schlaf, während Andy längst mit seinem Schnarchen beginnt.Es hört sich an, als würde er sämtliche Bäume in der Umgebung absägen.
Der nächste Tag fängt für alle drei nicht besonders früh an. Sie versuchen vergeblich, sich ihren Kater nicht anmerken zu lassen.
Ja, auch Hinnerk wollte keinen Tag mehr zuhause bleiben. Er hatte einen Riesenkrach mit Dörte gehabt. Dörte war seine Freundin. Sie hatte ihn vorgestern hochkant rausgeschmissen. Muss man sich mal überlegen. Sie waren drei Jahre zusammengewesen und er hatte alles für sie getan – sagt er.
»Und nun kommt da ein Jüngling vorbei, wisst ihr, so ein hochgestochener, feiner, mit sauberen Fingernägeln, und ich muss dem Platz machen. Das kann doch wohl nicht angehen. Wartet mal, die wird sich noch umgucken und mich wiederhaben wollen. Aber dann hat sie sich geschnitten.«, schnaubt immer noch vor Wut. Es sieht so aus, als wenn das auch noch eine Weile anhalten würde.
Das Frühstück schmeckt ihnen trotzdem und sie beschließen, den weiteren Weg miteinander zu gehen.
5. Kapitel
Rügen, Ostsee, Mecklenburger Seenplatte, alles angeschaut, herrliche Aussichten genossen, hier und da eingekehrt und gefunden, dass man es sehr gut miteinander getroffen hat. Freunde fürs Leben, sozusagen. Jedenfalls verkünden Hinnerk und Andreas ihre neue Sichtweise. Jonathan ist etwas zurückhaltender.
Als sie irgendwann ein Waldstück durchqueren, stolpert Andy über eine Brombeerschlinge. Ein stechender Schmerz fährt ihm durch das Bein. Mühsam schleppen die zwei Kumpel den Verletzten durch eine Schonung zu einer Straße. Glücklicherweise müssen sie nicht lange warten, bis ein Autofahrer hält und sie mitnimmt.
Im Krankenhaus wird ein angerissenes Band am Sprunggelenk diagnostiziert. Also heißt es, den Marsch zu unterbrechen und Zwangspause einzulegen. Andy wird mit einer Orthese versorgt und muss sein Bein kühlen und hochlegen. Er darf zwar gehen, aber natürlich nur wenig belasten. Der Arzt meint, es würde sechs Wochen dauern, ehe er weitergehen kann und dann auch nur, ohne mit voller Kraft aufzutreten.
Hinnerk juckt es nach drei Wochen mächtig in den Füßen. Er will nicht mehr länger warten. Es zieht ihn fort. Jonathan entscheidet sich, bei Andy zu bleiben. Sie haben sich in einer Pension einquartiert und dort will er warten, bis sie zusammen wieder durchstarten können. Er warnt Hinnerk, sich ganz allein auf den Weg zu machen. Wenn ihm etwas passieren würde, wäre niemand bei ihm, der ihm helfen könne. Hinnerk bedankt sich für seine Fürsorge, schnallt den Rucksack wieder auf, sagt: »Bye, bye.« Im nächsten Moment ist er verschwunden.
Sein Ziel ist der Süden. Lange genug hat er sich im Norden aufgehalten. Schließlich will er sich die Welt ansehen und ist mit Deutschland allein nicht zufrieden.
Zwei Wochen später brechen auch seine bisherigen Wegbegleiter auf. Genau wie Hinnerk beginnen sie, dem Norden den Rücken zuzukehren und nach Süden zu ziehen. Sie wollen ferne Länder sehen, wie es in einem Volkslied heißt.
Jonathan hat bemerkt, dass Andy die Rechnung der netten Pensionswirtin bar bezahlt. Er rät ihm dringend davon ab, sein gesamtes Kapital mit sich herumzutragen. Wie leicht könnte es jemand bemerken und ihn bestehlen. Schon seinen Eltern hatte er in dieser Sache widerstanden und auch jetzt tut er den gutgemeinten Rat von Jonathan mit einem Schulterzucken ab.
Ihr Freiheitsdrang wird unter anderem durch das Wetter auf eine harte Probe gestellt. Es regnet tagelang. Am Anfang gehen sie trotz der widrigen Witterung mutig und zielstrebig weiter, doch irgendwann reicht es ihnen, jeden Tag mit klammer Kleidung unterwegs zu sein. Wieder kehren sie für einige Tage in einer Pension ein. Als sie an einem Abend beieinander sitzen und über die Zeit ihrer Wanderschaft sprechen, gesellt sich die Wirtin zu ihnen.
»Ich habe eben den Namen Hinnerk gehört. Hier war vor einigen Tagen jemand, der auch so heißt. Und man kann schon sagen, dass im Schwarzwald dieser Name ziemlich ungewöhnlich ist. Darum fiel es mir auch auf, als sie vorhin von einem Hinnerk gesprochen haben.« Als sie den jungen Mann beschreibt, ist klar, dass es sich tatsächlich um Andys ›Freund fürs Leben‹ handelt.
Wie die Frau erzählt, machte er einen ziemlich geknickten Eindruck und konnte auch seine Rechnung nicht bezahlen. Er hatte angeboten, für sie zu arbeiten, um die Schulden zu begleichen. Aber sie wusste nicht, wo sie ihn hätte einsetzen können. Und so war er vor einigen Tagen weitergezogen, jedoch nicht ohne ihr versichert zu haben, er käme auf seinem Heimweg wieder vorbei und würde bezahlen, was er ihr schulde. Sie hatte ihn gefragt, wohin er wolle. Er habe nur geantwortet: »In den Süden.«
Ja, das war Hinnerk. Die Summe, die er der Wirtin zu bezahlen hatte, ist nicht hoch. Und so übernimmt Andy den Betrag.
Sie marschieren weiter und Jonathan bringt das Gespräch auf Hinnerk.
»Was ihm wohl