Wuhan Diary. Fang Fang
gelten, man könnte das als einen unerwarteten Ertrag der Situation verbuchen. Ich habe es besser als sie, die Nachbarin bringt mir einen Teller frisch gedämpfter Baozi13 vorbei. Obwohl wir beide bei der Übergabe Schutzmasken tragen, schlinge ich sie todesmutig hinunter.
Heute ist strahlender Sonnenschein, die Art von Wintersonne, die wir Wuhaner am meisten genießen. Warm und schmeichelnd. Ohne die Epidemie wären die Straßen in der Nähe meiner Wohnung sicherlich hoffnungslos verstopft. Sie liegt in der Nähe des Grüngürtels um den Ostsee, und dieser Ort gehört zu den beliebtesten Ausflugszielen der Wuhaner. Aber jetzt ist er menschenleer. Vor zwei Tagen ist mein Kommilitone Dao um den See gejoggt und hat anschließend erzählt, er sei unterwegs mutterseelenallein gewesen. Der Ostsee-Grüngürtel gehöre momentan zu den mit Abstand sichersten Orten Wuhans.
Abgesehen von der Angst vor Ansteckung sind die in ihren Wohnungen eingesperrten Wuhaner im Großen und Ganzen in einer stabilen Gemütsverfassung. Bemitleidenswert sind vor allem die Erkrankten und ihre Familienangehörigen. Aufgrund der Schwierigkeit, ein Bett in einer Klinik zu bekommen, befinden sie sich nach wie vor im Limbo. Die Arbeiten auf der Baustelle des in Fertigbauweise errichteten Krankenhauses Huoshenshan14 gehen zwar fieberhaft voran, aber fernes Wasser löscht keinen nahen Brand. Diese Leute sind die am schwersten Betroffenen, weiß der Himmel, wie viele Familien daran zerbrechen. Ein paar Medien dokumentieren solche Fälle, aber es sind vor allem die »Self-Media«, die sie seit längerem heimlich dokumentieren. Dokumentieren ist das Einzige, was wir tun können.
Am Morgen lese ich den Bericht über eine Mutter, die bereits zu Beginn der Epidemie gestorben ist, ihr Mann und sein Bruder haben sich ebenfalls angesteckt. Mich überkommt ein flaues Gefühl im Magen. Hier handelt es sich um Personen aus einer Mittelstandsfamilie. Was geschieht mit den Kranken aus ärmlicheren Verhältnissen? Keine Ahnung, wie es bei denen aussieht. Nie im Leben habe ich so überwältigende Gefühle von Trauer und Hilflosigkeit verspürt wie beim Betrachten der Videoaufnahmen von restlos erschöpften Ärzten und Schwestern und völlig am Boden zerstörten Patienten. Professor Chuan E von der Hubei-Universität gesteht mir, dass er jeden Tag einmal laut heulen möchte. Er spricht für uns alle. Im Gespräch mit Freunden weise ich deshalb ständig darauf hin, dass wir, an diesem Punkt angelangt, in aller Deutlichkeit die Wucht einer von Menschen verursachten Katastrophe erleben können. Bei der nachträglichen Aufarbeitung darf niemand ungeschoren davonkommen, der seine Pflichten vernachlässigt hat. Aber im Moment müssen wir erst einmal alle unsere Kräfte mobilisieren, um über diese Notsituation hinwegzukommen.
Was mich selbst betrifft, so hat sich, von meiner Gemütsverfassung abgesehen, an meiner Lebensweise nicht allzu viel verändert. Auch früher habe ich das Neujahrsfest mehr oder weniger auf diese Weise verbracht. Ich bin kaum ausgegangen, lediglich am dritten Neujahrstag habe ich der Familie meines Großonkels Yang Shuzi meine Neujahrsglückwünsche überbracht und mit ihnen gegessen. (Dieses Jahr ist der Besuch ausgefallen, mein Großonkel ist vorgerückten Alters und gebrechlich.)
Ich selbst neige mit Eintritt des Winters zu Halsentzündungen und habe drei Jahre hintereinander die Zeit um das Neujahrsfest im Krankenhaus verbracht. Deshalb achte ich in diesen Tagen ständig darauf, nicht krank zu werden. Vor ein paar Tagen hatte ich etwas Kopfschmerzen, gestern leichten Husten, heute geht es mir wieder gut … Jiang Zidan,15 die eine Menge von traditioneller chinesischer Medizin versteht, hat mich angesichts meiner häufigen Erkältungen zu einem typischen Fall von »außen kalt – innen heiß«16 erklärt. Seither braue ich mir bei Eintritt des Winters täglich eine Medizin bestehend aus Tragantwurzel, Geißblatt, Chrysantemenblüten, Chinesischen Wolfsbeeren (Gouqi), Amerikanischem Ginseng, roten Datteln und Maulbeerblättern zusammen. Ich habe auch einen Namen dafür erfunden: »Mischbrühe«. Davon trinke ich täglich ein paar Becher. Seitdem die Epidemie um sich greift, nehme ich morgens und abends Vitamin C zu mir, einmal in Tablettenform und einmal in Wasser aufgelöst, anschließend trinke ich große Mengen abgekochtes heißes Wasser. Beim abendlichen Duschen lasse ich mir lange ziemlich heißes Wasser über Brust und Rücken laufen und schlucke die restlichen mir verbliebenen Lianhua-Qingwen-Kapseln.
Ein Kommilitone hat uns zusätzlich eine Methode beigebracht, die er »das Schließen sämtlicher Pforten« nennt. Sie besteht darin, still vor sich herzusagen: »Alle Kapillaren des Körpers schließen sich! Kälte dringt nicht ein, die hundert Übel haben keinen Zugang, die positiven Abwehrkräfte sammeln sich im Inneren, das Übel ist machtlos!« Allen Ernstes versichert er, das sei eine über die Jahrhunderte tradierte Geheimformel, absolut kein Aberglauben. Na ja, wir haben darüber gelacht, keine Ahnung, ob es irgendjemand ausprobiert hat. Kurz und gut, ich bin sämtlichen Anweisungen von Freunden unterschiedlichster Couleur gefolgt und habe sämtliche Rezepte angewendet – ausgenommen das »Schließen sämtlicher Pforten«. Und sie wirken tatsächlich. Im Moment ist mein Befinden recht gut. Schützt euch selbst, damit helft ihr allen.
Ach ja, übrigens wurde gestern einer meiner Blog-Einträge gesperrt, er hatte eine längere Lebensdauer, als ich erwartet hätte. Wider Erwarten wurde er von vielen Menschen geteilt. Mir gefällt das direkte Schreiben im engen Rahmen eines Blogs, dort kann ich ungeniert drauflos tippen (genau dieses Gefühl von Unbekümmertheit ist es, was ich anstrebe), schreiben, was und wie es mir gerade einfällt. Ich gebe mir keine sonderliche Mühe mit Korrekturen, es wimmelt deshalb von Rechtschreibfehlern. (Ich schäme mich dafür, und entschuldige mich bei der Abteilung für chinesische Sprache und Literatur der Wuhan-Universität.)
In Wahrheit habe ich keinerlei Absicht, in diesem Moment irgendjemanden zu kritisieren. (Lautet nicht ein ehrwürdiger chinesischer Spruch: »Abgerechnet wird nach der Ernte«?) Schließlich ist gegenwärtig die Epidemie unser Hauptfeind. Ich will Schulter an Schulter mit der Regierung und den Bürgern von Wuhan mit aller Kraft gegen sie kämpfen. Ich werde alle Forderungen der Regierung an die Bevölkerung mittragen. Nur hatte ich, als ich diesen Blogeintrag schrieb, das Gefühl, Reflexion sei ebenfalls notwendig. Also habe ich ein bisschen reflektiert.
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30 Sie können die Verantwortung auf niemanden und nirgendwohin abwälzenEin schöner klarer Tag. Es herrscht die angenehmste Winteratmosphäre, es sind die Wintertage, die wir am meisten genießen. Nur verdirbt die Epidemie den Leuten gründlich die Stimmung. Die herrlichste Aussicht, und keiner, der sie genießt.
Was sich vor unseren Augen ausbreitet, ist die unbarmherzige Realität. Nach dem Aufstehen gilt der erste Blick den Nachrichten: Ein Bauer wird um drei Uhr morgens an den provisorischen Absperrungen vor der Stadt gestoppt und festgehalten. Wie sehr er auch fleht, die Straßenposten lassen ihn nicht durch. Mich beunruhigt vor allem die Frage, wo der Bauer in der nächtlichen Eiseskälte Zuflucht finden wird. Maßnahmen zur Verhinderung der Epidemieausbreitung schön und gut, aber müssen sie auf Kosten einfachster Menschlichkeit durchgeführt werden? Woher stammt die Neigung unserer Funktionäre, aus schriftlichen Direktiven unmenschliche Dogmen zu machen? Ist es unmöglich, dem Bauern, solange er eine Schutzmaske trägt, einen Raum zuzuweisen, wo er unter Quarantänebedingungen die Nacht verbringen kann? Oder nehmen wir den Fall eines gehirngeschädigten Kindes, das, weil man seinen Vater in Quarantäne gesteckt hat, fünf Tage allein und unversorgt zu Hause ausharren musste und schließlich verhungert ist.
Der Ausbruch einer Epidemie zeigt uns das wahre Gesicht der Menge, er führt uns das moralische und professionelle Niveau von Funktionären überall im Land vor Augen, und noch deutlicher enthüllt er die Krankheiten unserer Gesellschaft. Krankheiten, die bösartiger und langwieriger sind als das Coronavirus. Und nirgends ist Heilung in Sicht, dafür fehlen sowohl die Ärzte wie der Wille, Therapien zu entwickeln. Mich erfüllt das mit tiefer Bitterkeit.
Vor ein paar Minuten informierte mich ein Bekannter, dass in unserer Einheit17 ein junger Mann seit zwei Tagen erkrankt ist, er hat Atembeschwerden, es besteht Verdacht auf eine Infektion mit dem neuen Virus, aber da es noch nicht diagnostiziert wurde, kann er nicht in eine Klinik gebracht werden. Ein anständiger und gutherziger junger Bursche, seine Familie kenne ich gut. Hoffen wir, dass es sich nur um eine banale Erkältung handelt, man darf nicht immer gleich das Schlimmste annehmen.
Ich erhalte