Wuhan Diary. Fang Fang

Wuhan Diary - Fang Fang


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das Interview nicht in vollem Wortlaut gesendet, dafür habe ich Verständnis. Einige Streichungen allerdings waren meiner Meinung nach unnötig. Zum Thema der Selbstheilung habe ich etwa gesagt: »Am wichtigsten sind die infizierten Patienten und die Familienangehörigen der an der Epidemie Verstorbenen, ihnen spielt das Schicksal sicherlich am härtesten mit, ihre Wunden sind so tief, dass manche bis ans Lebensende nicht darüber hinwegkommen werden. Sie vor allem brauchen den Trost und die Fürsorge des Staates …«

      Denke ich an den in tiefer Nacht zurückgewiesenen Bauern, an das allein in seinem Haus verhungerte Kind, an die vielen vergebens nach ärztlicher Hilfe rufenden einfachen Leute und an die wie herrenlose Hunde herumstreunenden und überall abgewiesenen Wuhaner in der Fremde (einschließlich zahlreicher Kinder), dann weiß ich nicht, wann solche Wunden sich wieder schließen werden. Vom Schaden, der für das ganze Land entstanden ist, ganz zu schweigen.

      Im Netz wird wie wild über das Verhalten der nach Wuhan entsandten Experten diskutiert. Keine Frage, diese wohlsituierten, unbekümmerten Herrschaften haben mit ihren leichtfertig verkündeten Schlussfolgerungen, dass »eine Ansteckung von Mensch zu Mensch auszuschließen« sei, und »Eindämmung und Kontrolle kein Problem« seien, ein himmelschreiendes Verbrechen begangen. Falls sie noch einen Rest von Gewissen haben und fähig sind, dem Zustand der geplagten Bevölkerung einen Blick zu gönnen, müssten sich auch bei ihnen Schuldgefühle einstellen. Die Hauptlast der Verantwortung für die Unversehrtheit von Land und Leuten tragen natürlich die leitenden Funktionäre der Provinz Hubei. Wer, wenn nicht sie, ist verantwortlich für den gegenwärtigen Zustand von Bedrohung und Verunsicherung? Die jetzige Situation der Epidemie ist dem Zusammenwirken mehrerer Seiten geschuldet. Sie können die Verantwortung auf niemanden und nirgendwohin abwälzen. Im Moment hoffen wir, dass sie sich aufraffen und mit dem Bewusstsein, eine Schuld abtragen zu müssen, vor allem aber mit Verantwortungsbewusstsein die Bevölkerung von Hubei aus diesen schweren Zeiten herausführen. Auf diese Weise können sie sich Nachsicht und Vergebung der Bevölkerung erwerben. Das ganze Land hält durch, wenn Wuhan durchhält.

      Fast alle meine Verwandten leben in Wuhan. Gott sei Dank sind bis jetzt alle gesund. Mein ältester Bruder und meine Schwägerin sind beide über 70, mein drittältester Bruder geht ebenfalls auf die 70 zu. Wir sind gesund, damit helfen wir dem Land. Wie gut, dass auch meine Nichte und ihr Sohn heute Morgen sicher und wohlbehalten in Singapur gelandet sind. Sie werden nun in einer Ferienanlage isoliert. Ich muss an dieser Stelle der Verkehrspolizei des Bezirks Hongshan meinen tief empfundenen Dank aussprechen. Gestern erhielt meine Nichte die Benachrichtigung, sie solle sich am Abend auf dem Flughafen einfinden, das Flugzeug nach Singapur starte früh morgens um drei Uhr. Doch in der Stadt fahren weder U-Bahnen noch Busse, und mein Bruder hat keinen Führerschein, meiner Nichte und ihrem Sohn standen also keinerlei Verkehrsmittel zur Verfügung, um zum Flughafen zu gelangen.

      Die Aufgabe, das Problem zu lösen, wurde mir übertragen. Die Zentralchinesische Hochschule für Wissenschaft und Technik, auf deren Gelände mein Bruder wohnt, gehört zum Bezirk Hongshan, also fragte ich bei der dortigen Verkehrspolizei nach, ob ich eine Sondergenehmigung bekommen könne. Unter den dortigen Polizisten befindet sich eine größere Anzahl meiner Leser. Ich solle die Angelegenheit ihnen überlassen, wurde mir erklärt, und brav zu Hause meinen Blog schreiben. Am Abend holte der Verkehrspolizist Xiao meine Nichte ab und brachte sie zum Flughafen. Unsere ganze Familie bedankt sich aus tiefsten Herzen für die Hilfe. In brenzligen Situationen ruf die Verkehrspolizei, auf die ist Verlass. Dass die Nichte und ihr Sohn in Sicherheit sind, ist meine einzige Freude am heutigen Tag.

      Heute ist bereits der sechste Tag des Neujahrsfestes, wir gehen in den achten Tag der Abriegelung. Die Wuhaner Bürger sind zwar von Natur aus Optimisten, und die Aktivitäten der städtischen Behörden geraten zunehmend in geordnete Bahnen, aber die Situation der Stadt ist nach wie vor grimmig.

      Am Abend schlürfe ich einen Hirsebrei. Ein kurzes Pensum auf dem Laufband, ein paar Schweißtropfen, dies für das Protokoll.

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Auch beim Schmeicheln darf man nicht übertreiben

      Heute ist der siebte Tag des Neujahrsfestes. Der Himmel strahlt, ist das ein gutes Omen? Diese Woche ist entscheidend für den Verlauf der Epidemiebekämpfung. Laut Meinung der Experten wird bis zum Ende der Feiertage bei nahezu allen Infizierten die Krankheit ausgebrochen sein. Das wäre der Wendepunkt. Das bedeutet, wir müssen noch eine Woche durchhalten. Dann sind nahezu alle Infizierten isoliert und die Gesunden dürfen wieder vor die Tür. Bedeutet das, dass wir unsere Freiheit wiederbekommen? Seit der Abriegelung der Stadt vor neun Tagen leben wir nun schon eingesperrt, aber das Gröbste haben wir hinter uns.

      Der erste Blick nach dem Aufwachen geht zum Smartphone. Eine erfreuliche Nachricht: Der junge Mann aus unserer Einheit hat sich nicht infiziert. Nachdem er gestern Tabletten gegen Durchfall genommen hat, ist heute wieder alles in Ordnung. So ein Vollidiot! Er hat uns allen einen gehörigen Schrecken eingejagt. Wenn alles vorbei ist, wird er uns als Wiedergutmachung zum Essen einladen müssen.

      Doch meine Freude hält nur kurz an. Aus der nächsten Nachricht erfahre ich, dass ein Bekannter aus unserem Freundeskreis, ein Mitglied der regionalen Tanz- und Musiktruppe, gestorben ist, nachdem er tagelang darauf gewartet hat, ins Krankenhaus eingeliefert zu werden. Kurz nachdem ihn die Nachricht erreicht hat, dass ein Platz für ihn freigeworden ist. Es sollen sich auch eine Reihe von Funktionären der Provinz Hubei infiziert haben, einige von ihnen sollen sogar bereits gestorben sein. Mein Gott, wie viele Menschen haben hier in Wuhan bereits Familienmitglieder verloren? Und bisher gibt es niemanden, der sich entschuldigt oder die Verantwortung übernimmt. Überall nur Formulierungen und Artikel, worin die Schuld auf andere beziehungsweise die Umstände abgewälzt wird.

      Wem sollen die Überlebenden überhaupt die Schuld geben? Dass ein Schriftsteller in einem Interview von einem »vollständigen Sieg« über das Virus spricht, macht mich sprachlos. Wie kann man angesichts der Verhältnisse in Wuhan, ja des ganzen Landes, angesichts von Millionen angsterfüllter Menschen, von Abertausenden in Lebensgefahr schwebenden Kranken und unzähligen zerrissenen Familien von einem »Sieg« sprechen? Welcher »Sieg«? Und gar »vollständig«? Es tut mir leid, dass ich gegenüber Kollegen ausfallend werden muss. Davon auszugehen, dass manche Leute nicht nachdenken, bevor sie den Mund aufmachen, wäre noch hinzunehmen. Doch so ist es nicht. Diese Leute wägen jedes Wort gründlich ab, wenn es darum geht, den Oberen zu gefallen.

      Zum Glück lese ich gleich darauf einen kritischen Artikel eines anderen Schriftstellers. Er stellt präzise Fragen und wählt seine Worte mit Ernst und Gewicht. Es beruhigt mich zu wissen, dass es noch Autoren mit Gewissen gibt. Ich bin zwar nicht mehr Vorsitzende des Schriftstellerverbands der Provinz Hubei, aber ich bin noch immer Schriftstellerin. Liebe Kollegen aus Hubei, bestimmt werdet ihr, wenn alles vorüber ist, dazu aufgefordert, lobpreisende Essays und Gedichte zu verfassen. Doch ich bitte euch, nehmt euch Zeit, bevor ihr mit dem Schreiben beginnt, um euch darüber klar zu werden, wen ihr preisen wollt. Auch beim Schmeicheln darf man nicht übertreiben. Ich bin alt geworden, doch mein kritischer Geist ist um keine Sekunde gealtert.

      Den ganzen Nachmittag verbringe ich hektisch damit, Essen zu kochen, das ich am Abend meiner Tochter vorbeibringen will. Sie ist am 22. Januar gegen Mitternacht von ihrer Japanreise zurückgekehrt und wurde prompt von der Abriegelung der Stadt überrascht. Sie war total unvorbereitet und hatte nichts Essbares in der Wohnung. Ich habe ihr am Neujahrsabend und am ersten Feiertag Essen vorbeigebracht. Ein paar Tage später erklärte sie, sie hielte es nicht mehr aus und wolle sich Essen liefern lassen. Ich war absolut dagegen, ihr Vater ebenso, deshalb entschied ich mich, für sie Koch- und Lieferdienste zu übernehmen. Meine Tochter wohnt nicht weit entfernt, mit dem Auto etwa zehn bis 20 Minuten. Ich erkundige mich bei der Polizei und erhalte die Auskunft, Autofahren sei kein Problem. Ich mache mich also ans Werk, bereite mich darauf vor, ihr die fertigen Gerichte bis vor die Tür zu liefern, und komme mir dabei vor wie bei der »Getreidelieferung an die Soldaten der Roten Armee«.18 Die Wohnanlage meiner Tochter ist für Außenstehende geschlossen, also übergebe ich ihr das Essen am Eingangstor. Meine Tochter ist die Einzige aus der jungen Generation meiner Familie, die in Wuhan geblieben ist, und


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