Lucy fällt. Gaby Mrosek
versucht, die eigentlich gar nicht verstanden werden kann. Um sie dennoch irgendwie greifen zu können, beginnst du, alles im scheinbaren Außen in Schubladen zu verstauen. Na klar, das kommt dir bekannt vor. Denn es heißt ja nicht umsonst Schubladendenken. Und wenn du jetzt glaubst, du bist tolerant, weil du eben nicht so ein enges Weltbild zu haben scheinst, dann sage ich dir: Lass dich nicht täuschen. Denn deine Toleranz ist nichts weiter, als eine etwas größere Schublade, in die ein wenig mehr hineinpasst und die trotzdem von allen anderen Fächern getrennt ist, in denen du andere Kategorien abgelegt hast. Wenn du irgendwann einmal beschließt, dass du all den Kram aufräumen solltest, du mit leichterem Gepäck reisen möchtest und es tierisch schmuddelige Ecken im Inneren gibt, dann ziehst du die erste Schublade auf. Es wird mit größter Wahrscheinlichkeit eine sein, von der du weißt, dass du dich leicht vom Inhalt trennen oder ihn neu sortieren kannst. Das ist völlig in Ordnung. Vielleicht ist in dieser ersten Schublade deine Sammelleidenschaft. Du erkennst, dass du nichts wegwerfen kannst und dieses Fach quillt über und zieht dich belastend nach unten. Und während du entsetzt bist über all das Zeug, das dich echt zu binden scheint, dämmert es dir. Du willst das alles nicht. Und nun gilt es sehr achtsam zu werden. Während du vielleicht tatsächlich eine große Aufräumaktion startest, dich frei machst von allem Kram und unnötigem Gerümpel, solltest du eins verstehen – nämlich: All diese Materie ist weder gut noch schlecht. Sie ist bedeutungslos. Es bringt dir nichts für deinen Geistesfrieden, wenn du glaubst, Geld, ein Haus, ein schönes Auto usw. seien schlecht. Oder gut. Nein, wenn du all das loslässt, ich meine im Geist loslässt, dann kappst du deine Bindung daran. Dann spielt es für deinen Seelenfrieden keine Rolle, ob du stinkreich bist oder nur sehr wenig hast. Du nimmst die Situationen so, wie sie gerade zu sein scheinen. Es gibt sehr wenige Multimillionäre die, wenn sie von heute auf morgen all ihre Kohle verlieren würden, genauso glücklich wären, wie mit Reichtum. Ebenso gibt es sehr arme und dennoch glückliche Menschen, die, wenn sie plötzlich viel hätten, einfach glücklich blieben. Bei den meisten ist es allerdings so, dass sie wie ein Esel der Karotte hinterherlaufen und sich sagen: „Wenn ich erst den tollen Job habe und mehr Geld und wenn der Urlaub kommt, dann bin ich im Frieden.“
Hand aufs Herz: Ist das wirklich so? Wie lange hält denn das Glück mit dem Traumpartner und dem Traumjob und der Kohle ohne Ende an? Schau dich um in der Welt. Diejenigen, die alles erreicht haben und bemerken, dass sie nichts weiteres mehr erreichen können, wenden sich entweder nach innen, um endlich zu finden, oder sie bringen sich um, langsam durch Drogen, Alkohol oder sonst einen Stoff oder sofort, indem sie Suizid begehen. Und die Armen, die noch so viel hier erreichen wollen, rennen weiter der Karotte hinterher, bis auch ihr menschliches Leben ein Ende hat.
Zurück zur Schublade deiner Kommode. Du ziehst sie auf, schaust dir genau den Inhalt an und begreifst, dass du das alles nicht benötigst - du keine Bindung mehr brauchst. So machst du es Schublade für Schublade. Du ziehst sie auf, nimmst sie sogar ganz heraus und betrachtest Stück für Stück. Dann legst du es weg. Sicher ist dir jetzt klar, dass du andere Dinge in deiner Kommode hast als jemand anderes. Manches ist vielleicht gleich oder gleichartig. Doch das, was du nun tust, ist dein ganz persönlicher Job. Es gibt niemanden da draußen, der für dich aufräumen kann. Niemanden. Du wirst Menschen begegnen, die eine ähnliche Kommodenzusammensetzung haben wie du. Sie haben nur eine andere Anordnung und Art mit den Dingen umzugehen. Mit diesen wirst du tiefe Begegnungen haben, weil sie dir direkt deine Schmuddelecken zeigen, die auch ihre sind, die sie nur versteckt halten, in einem anderen Fach. Wenn du das begreifst, wirst du im Außen niemanden mehr beschuldigen, sondern weiter und weiter deine Kommode ausräumen. Du übernimmst Verantwortung dafür und nur du. Wenn du vor deinem leeren Schrank stehst, dich erleichtert fühlst, weil du alle Bindung an unnötigen Kram losgeworden bist, dann willst du plötzlich nichts mehr haben. Du lässt los und erkennst dich unerwartet in einem anderen. In dem der - ebenso wie du - leer von klebrigem Zeug und Abhängigkeiten ist. Dann sind in euch auch keine Unterschiede mehr. Heißt leer denn nun hohl – ohne etwas sein? Nichts, ein Loch? Nein, natürlich nicht. Wenn du deine selbstbelegte Kommode, deinen Geist, der all den weltlichen Kram in sich trägt, leerst, dann kann Liebe einströmen. Die nämlich gehört dort hinein. Die bist du und hast sie nur zur Seite gedrängt. Liebe fließt frei und heilt so alle Trennung, die niemals echt war, sondern einfach nur eine falsche Entscheidung deines Geistes.
Sehr wichtig zu erwähnen ist wohl noch, dass du auch deine spirituelle Schublade gründlich auszumisten hast. Oft bekommst du gar nicht mit, wieviel Unsinn du gerade dort gelagert hast, von Verleugnung über Verdrängung und Vernebelung oder ein schlichtes Sichbetäubenwollen. Denn wenn du nun alles, was je in der Kommode war, einfach leugnest und es dir nicht ganz genau anschaust, bevor du es entlässt, dann hast du lediglich den Inhalt der Schubladen in einen großen Müllsack gesteckt und ihn neben deine Kommode gestellt. Der Sack ist weiterhin ein Teil von dir. Bleibe praktisch in dieser, in deiner Welt. Ja, es ist deine Welt, die um dich herum. Kümmere dich um sie in Liebe und entbinde dich. Du kannst sehr wohl alles dir gegebene nutzen ohne einen Hauch von Bindung daran.
So, und nun wünsche ich dir viel Spaß beim Entrümpeln deiner Kommode. Vergiss nicht, es ist deine ureigene Aufgabe, und nur du kannst sie erfüllen.“
Dann ist es still im großen Salon. Wieder hört man nur das Pendel der Uhr. Schließlich bricht Lucy ihr Schweigen: „Ich will sie erfüllen. Meine Aufgabe. Aber wie entrümpele ich diese Kommode?“
„Indem du mir folgst, Liebes“, antwortet Josua und steht beschwingt auf. Sie verlässt das Zimmer, biegt nach rechts und geht zügig die steile Treppe hinauf. Lucy folgt aufgeregt.
Oben angelangt gehen sie hintereinander durch einen schmalen Flur, dessen Wände weiße Stofftapeten mit Liliendruck zieren. Kerzen brennen in Haltern am Ende des Ganges. Josua öffnet die letzte Tür vor Kopf und beide treten ein.
Der Raum ist groß und leer. Es gibt ein riesiges Fenster und darunter ein einziges Möbelstück: eine alte zerschlissene Kommode mit unzähligen kleinen Schubladen. Jede dieser Schubladen hat eine andere blasse Naturfarbe – falls noch Farbe vorhanden ist, denn einige sind so verkratzt, dass man den Ton höchstens noch erahnen kann. Von weitem wirkt sie insgesamt rötlich.
Josua bleibt mitten im Zimmer stehen und macht mit dem untersetzten Kinn eine Bewegung Richtung Schrank. Lucy zögert zunächst. Dann geht sie vorsichtig, als würde sie sich einem Raubtier nähern, auf die Kommode zu.
„Und die soll ich aufräumen? Ist das meine Aufgabe in Etage 19?“, fragt sie zögerlich. Gleichzeitig denkt sie an die Metapher von gerade. Da hat Josua gesagt, der Geist sei die Kommode.
„Ja Liebes“, nickt sie, „dein Geist ist sozusagen diese Kommode. Aber vergiss nicht, dass du in Bildern denkst. Auch deine Zwischenstationen, beim freien Fall von einem Hochhaus, sind lediglich Bilder. Wir nutzen jetzt einfach deine Träume, um zu heilen. Ist das für dich in Ordnung?“
„Ja ja…klaro“, entgegnet sie, „ich vertraue dir und will mich auf die Dinge einlassen, die von dir kommen. Ich denke, du bist der beste Führer, den ich je hatte. Und….“
„Und dir bleibt auch gar nichts anderes übrig, wenn du dich für das Leben entscheidest“, zwinkert Josua ihr aufmunternd zu, „allerdings ist auch das nur eine Scheinwahl. Letztendlich steht der Tod nicht wirklich zur Wahl – nur in einem Spiel. Du räumst deine Beziehungsschubladen auf. Und wir zwei treffen uns in diesem Zimmer zwischendurch, ab und zu, mal wieder. Hier, in dem alten Haus, ist dein Basislager.“
Lucy ist verunsichert, weil sie gar nicht genau weiß, was sie nun zu tun hat. Josua bemerkt das natürlich und fordert sie auf, sich die Kommode genauer anzuschauen.
„Zieh die erste Schublade einfach auf, sagt sie aufmunternd, „einfach irgendeine. Es wird die richtige sein…“
Lucy zögert dennoch. Vorsichtig greift sie einen der messingfarbenen Griffe in der oberen Reihe und zieht sie ganz langsam auf. Es ist gar nicht so einfach, das alte Holzding zu bewegen, weil es verzogen ist und dadurch klemmt. Lucy spürt, wie ihr Atem schneller geht und ihr Herz pulsiert als hätte sie einen Marathon hinter sich. Mit einer rappelnden Bewegung zieht sie die Schublade auf und schaut hinein. Ein einziges Foto liegt darin – es ist ein Bild von Raffael. Lucy erschrickt und will protestieren. Doch bevor ein Laut aus ihrer Kehle tritt, verschwimmt der Raum vor ihren