Lucy fällt. Gaby Mrosek
und heiliger Mann als Jesus. Das verstehe ich nicht.“
„Gut und heilig passen schon mal gar nicht zusammen“, lächelt er, „gut impliziert immer auch böse. Nur Egos können gut sein - in einem Traum. Heilig trifft es genau. Doch nicht, weil ich etwas Besonderes war, sondern weil ich selbst erkannt hatte, dass ich träumte, in Wahrheit weiterhin reiner Geist war, untrennbar von allen andern und damit ganz. Ganz bedeutet, ich war und bin heil. Heilig kommt von heil. Meine geistige Gesundheit war wiederhergestellt. Ich bin nicht als Erlöser der Welt gekommen – zumindest nicht als Erlöser deiner Welt, Lucy. Ich habe meine Welt erlöst. Die Welt, die ich mir als Kulisse erschaffen habe. Ich habe alles um mich herum, mich eingeschlossen, in Frage gestellt, solange, bis der Frieden eingekehrt ist. Ich war lediglich ein Vorbild, weil ich all das einfach gelehrt und dabei gelernt habe, um aufzuwachen. Lucy – ich bin aufgewacht. Es ist nicht mehr und nicht weniger. Wenn deine falsche Vorstellung von mir nun heilen kann, dann können wir weitergehen und zwar so weit, dass deine Heilung beginnen kann. Willst du das?“ Lucy schaut ihn an. Diesen jungen und wunderschönen Mann. Erst jetzt fällt ihr auf, dass nicht nur seine Augen leuchten, sondern auch seine Haut, seine wuscheligen Haare. Vor allem ist es dieses Leuchten, dieses Innere nach außen kehren, was ihn so schön sein lässt.
„Ja, ich will das wirklich. Du bist nicht für die Welt gestorben, hast dich nicht aufgeopfert. Ich bin mir sicher, dass kein Schöpfer so etwas von seiner Schöpfung verlangt. Oh Mann, das leuchtet mir total ein, und es gibt mir so eine Sicherheit. Und mir wird klar, dass es egal ist, ob ich Gott sage oder Vater oder Allmacht oder Liebe… Liebe ist im Moment das Wort, das mir am meisten weiterhilft…“, sagt sie, und ihr geht es dabei besser denn je.
„Dann sage auch Liebe. Was dir hilft in den Frieden zu kommen und die Wahrheit aufdämmern zu lassen, ist die richtige Wahl“, lächelt er.
„Ich habe das Gefühl, dass ein uralter Denkfehler, der Grausamkeit und Opfer im Zentrum hatte, gerade aufgelöst wird. Ich danke dir Josua – Jesus… für diese Ehrlichkeit und für meine ganz neue Wahrnehmung deiner Person…“, flüstert sie und eine wärmende Woge des Glücks umhüllt sie sanft. Seine Haut wirkt immer strahlender. Irgendwann ist da fast nur noch Licht. Und mit diesem Licht wird ihr eigener Körper immer unwirklicher. Sie kann noch seine sanften Augen erkennen und hört sehr leise seine liebevolle Stimme: „Danke…“ – und den Bruchteil einer Sekunde später fällt Lucy weiter.
19. Etage – Die Kommode
Wieder pfeift der kalte Wind um Lucys Ohren. Wieder zuckt eine tiefe Angst durch ihren ganzen Körper. Wieder bleibt sie einfach mitten in der Luft hängen. Dieses Mal ist es nicht kopfüber, sondern beinahe aufrecht mit den Füßen nach unten. Sie nimmt die Tiefe unter sich wahr und wird sogleich erneut in den Farbwirbel gezogen, der sich in ein helles einladendes Licht verwandelt. Unendlich sanft landet sie mit den Zehenspitzen zuerst, einer Ballerina gleich, auf einem hellbraunen Dielenboden.
Für einen kurzen Augenblick bleibt sie wie angewurzelt stehen. Sie schaut an sich hinunter und stellt fest, dass sie wieder ihre Winterjacke trägt und auch der Pullover schaut ein Stück hervor. Beides hatte sie doch zum Backen ausgezogen. Wie kommt das alles nur zustande? Das muss einfach ein Traum sein! Ein ziemlich verrückter zwar, aber ein Traum.
Aufgeregt schaut sie sich um. Was wird jetzt wohl passieren? Sie scheint sich in einem alten Haus zu befinden. Der Holzboden knarzt unter ihren Schritten, die sie vorsichtig Richtung altehrwürdiger Treppe macht. Links von sich sieht sie eine aufwendig mit Intarsien verzierte Tür; rechts eine großzügige Flügeltür mit geschliffenen Glasfenstern in der Mitte.
Vor der Treppe bleibt sie stehen und lugt in die erste Etage hinauf. Viele alte Gemälde mit Porträts feiner Leute und auch Landschaften hängen an der Wand des Aufganges.
„Josua?“, ruft sie hinauf.
Nichts passiert. Sie ruft ein weiteres Mal: „Jesus?“
„Da bist du ja, Liebes!“, dröhnt eine weibliche Stimme hinter ihr, und sie schießt erschrocken herum. Eine der Flügeltüren steht offen und eine stattliche dunkelhäutige Frau in Dienstkleidung steht darin und grinst breit. Lucy hat sie noch niemals zuvor gesehen, aber sie fühlt gleich eine große Zuneigung. Langsam steuert sie auf die Frau zu.
„Wo ist Josua?“, fragt sie vorsichtig. Es klingt fast schüchtern.
Die Frau beginnt herzhaft zu lachen. Statt die Frage zu beantworten, erwidert sie einfach: „Komm in den Salon, Lucy.“
Sie macht eine einladende Handbewegung, und so huscht Lucy schnell durch die Tür. Innen sieht es aus, als sei die Zeit im 19. Jahrhundert stehengeblieben. Sämtliches Mobiliar sowie Tapeten und Bilder wirken alt. Aber nicht alt im Sinne von abgenutzt und aufgebraucht. Denn das trifft ganz und gar nicht zu. Es riecht auch nicht muffig wie in einem typischen Museum, in dem man Räume aus längst vergangener Zeit bestaunen kann. Nein, es ist einfach altmodisch und gleichzeitig unbenutzt, frisch eingerichtet sozusagen.
„Setz dich, Liebes“, fordert die Dame Lucy auf, „nachdem du Tee und Plätzchen hattest, frage ich dich, ob du dennoch etwas trinken oder essen möchtest. Deine Reise nach innen macht durstig und hungrig, was?“
Sie zwinkert Lucy heiter entgegen und diese fragt sich, ob das wohl ernst gemeint war mit der Hungrigkeit durch Innenreisen.
„Nein danke“, antwortet sie höflich und setzt sich etwas steif auf das beigefarbene Chaiselongue. Die Frau lässt sich auf den Polstersessel gegenüber sinken und streicht ihre Dienstmädchenschürze glatt. Dann ist es ganz still. Lediglich die große Pendeluhr tickt in einem beruhigenden Rhythmus.
„Wann kommt denn Josua?“, fragt Lucy nach einer gefühlten Ewigkeit vorsichtig.
„Hm“, macht ihr Gegenüber und schaut sie sanft mit unendlich liebevollen braunen Augen an. Lucy fühlt deutlich, dass sie ihr etwas mitteilen wollen. Also senkt sie nicht ihren Blick, sondern erwidert ihn. Tiefe Wärme durchströmt sie. Es fühlt sich an, als sei sie dieser Person mit kaffeebrauner Haut und mittleren Alters sehr vertraut. Sogar noch mehr als das….
„Wo ist denn Josua?“, flüstert Lucy sehr leise, ohne ihre Augen abzuwenden.
„Bei dir natürlich“, erwidert die Frau ebenso leise.
„Hier – in diesem Raum?“, fragt Lucy mit klopfendem Herzen.
Die Frau nickt einfach nur mit einem ganz entspannten Lächeln.
„Du…..“, raunt Lucy. Mehr kommt nicht über ihre
Lippen. Die Frau steht auf und setzt sich ganz dicht neben sie auf das Chaiselongue. Sie greift Lucys Hand und antwortet: „Ja, ich bin Josua. Und bevor du jetzt wieder die ganzen Fragen stellst - du weißt schon, diese Art von Fragen auf dem Berg - erkläre ich es dir jetzt sofort. Ich benutze keinen Körper mehr. Eigentlich. Ich habe diesen vor langer Zeit abgelegt, weil ich selbst kein Egodenksystem mehr für mich gemacht habe. Auch zeige ich mich den Menschen nicht körperlich. Das, was du jetzt siehst, sind Bilder in deinem Geist. Ich bin ein Gedanke in deinem Geist. Ich, dein Bruder, bin untrennbar eins mit dir. Erinnere dich an den Teig. Ich bin ein wahrer und ewiger Gedanke, eine schöpferische Ausdehnung des Vaters. Genauso wie du. Aber eben nur du. Nicht dein erdachtes System, deine Rolle, dein Körper, dein Menschsein, deine Persönlichkeit. Du, in deiner ewigen Reinform – in Liebe und Ewigkeit. Du fühlst das alles noch nicht wirklich. Du hörst das alles zum ersten Mal und identifizierst dich noch ganz und gar mit dem Manuskript der Lucy. Das ist der Grund – und der einzige Grund – weshalb du noch Körper siehst und sie dir aus Lernzwecken dienlich sind. Jetzt sehe ich für dich aus wie eine Dienstmagd und ja, ich bin weiblich und wir schreiben ein anderes Jahrhundert. Alles das sind Ideen in deinem Geist, und wir nutzen das jetzt. Ich wiederhole: du lernst auf deinen Wunsch hin, bis du zu Füßen deines Hochhauses angekommen bist.“
„Oh, Josua!“, seufzt sie und dann fragt sie erschrocken: „Darf ich dich überhaupt Josua nennen? Ich meine, du bist jetzt eine… Frau?!
„Nein, Liebes, ich bin keine Frau. Ich verwende nur einen weiblichen Körper, damit du dich nicht auf diesen Fleischklops fixierst. Der junge Mann aus den Sequenzen davor war dir lieber,