Lucy fällt. Gaby Mrosek

Lucy fällt - Gaby Mrosek


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und das unangenehme Schwitzen in dem derben grauen Wollpullover.

      „Hier ist Sommer“, erklärt er heiter, „zieh deinen Pulli aus! Bei über 20 Grad ist es im T-Shirt angenehmer. Mir macht es nichts aus, dass die Nähte ausgefranst sind.“

      Jetzt wird Lucy schwindlig. Sie muss sich setzen und plumpst schwer auf die Eckbank direkt neben der Tür. Woher weiß er das alles? Woher kennt er ihren Namen? Woher weiß er von ihrem alten Shirt, das sie noch manchmal im Winter unter dicken Pullovern trägt, weil es so schön weich ist? Und ganz ehrlich: wieso ist sie plötzlich in den Bergen – mitten im Sommer noch dazu?

      Er lächelt wieder und antwortet: „Du träumst, Lucy. Es ist nicht mehr, aber auch nicht weniger. Es ist nichts bedroht. Nichts ist hier gefährlich oder wahnsinnig. Nein, du drehst nicht durch. Aber du hast um Hilfe gebeten und wenn jemand all sein Tun benutzen will, um zu heilen und nur eine winzige Bereitwilligkeit dazu besteht, wird diese Hilfe auch gewährt. Egal in welcher Form. Du hättest auch vom Hochhaus stürzen und sterben können. In einem Traum natürlich. Aber für dich sehr wirklich. Was hättest du gewonnen? Hm, nichts. Auch nichts verloren. Denn dein Leben kannst du nicht verlieren. Du hättest wahrscheinlich einen neuen Körper benötigt. Und dann hätte alles wieder von vorne angefangen. Oder glaubst du ernsthaft, du könntest vor deinen Lernaufgaben davonlaufen?“

      Lucy schüttelt mit offenem Mund den Kopf, obwohl sie kein Wort wirklich versteht.

      Während sie erwartungsvoll und ziemlich steif auf der Bank sitzt, hantiert er im Hintergrund mit Teekanne, einem Campingkocher und Tassen. Lucy will weitere Fragen stellen, als sie bemerkt, dass er seelenruhig Tee kocht und dabei nichts weiter sagt. Stattdessen pfeift er leise ein heiteres Lied. Aber Lucy denkt an seinen Spruch von vorhin: Menschen stellen Fragen.

      Und so unterdrückt sie ihre Aufregung in der Hoffnung, er wird schon gleich mit der Sprache rausrücken. Und das tut er auch. Nach einigen Minuten sitzen sie zusammen an dem klobigen dunklen Holztisch. Sie weiterhin auf der Bank, er ihr gegenüber auf einem Bauernstuhl. Zwischen ihnen steht die weiße Porzellankanne, die mit ihrer feinen Optik so gar nicht in das rustikale Bild passen will – ebenso wenig wie die hohen schlanken Teetassen.

      „Trink Lucy“, ermuntert er sie, „das beruhigt deinen Magen.“

      „In einem Traum“, kontert sie spontan. Sarkasmus ist deutlich herauszuhören. Doch das scheint dem Mann nicht das Geringste auszumachen.

      „Ja“, lacht er nur, „in einem Traum. Du hast doch zuvor auch getrunken und gegessen.“

      „Na klar, habe ich das“, erwidert sie, „da war ich aber auch in meinem Leben. Als Lucy.“

      Jetzt lacht er schallend. Sie fühlt sich ein wenig ausgelacht, kann ihm aber irgendwie nicht böse sein. Denn in seiner ganzen Art – seiner Aura – ist etwas unendlich Gütiges und Liebevolles.

      Sie soll keine Fragen stellen. Okay. Aber reden darf sie ja wohl und so sagt sie überwältigt von seiner Wärme: „Ich habe das Gefühl, ich kenne dich schon ewig. Es ist so, als wärst du mein Bruder oder Geliebter.“

      Das Wort Geliebter kommt spontan über ihre Lippen und sogleich schämt sie sich dafür, einem Fremden so etwas zu sagen.

      Doch er schaut sie tatsächlich mit überfließender Liebe an und flüstert: „Das ist es. Ich bin dein Geliebter. Bruder. Dein geliebter Bruder.“

      Schauer der Freude laufen über Lucys Rücken und sie sagt: „Ich bin gesprungen und tot. Und du bist mein Engel…. “

      Ja, so muss es sein. So ist es auch. So – und nicht anders. Hier kann sie leben. Hier, mit diesem Engel.

      „Nein Lucy. Nichts davon ist wahr. Nur dass du gesprungen bist. Oder sagen wir es mal so: du springst gerade. Noch bist du nicht unten angekommen. Du steckst im 21. Stockwerk“, lächelt er wieder.

      „Was ist los mit mir?“, stottert sie. Bevor sie weiterreden kann, ergreift er zärtlich ihre Hand. Sie fühlt seine sehr weiche und warme Haut. Sogleich beruhigt sie sich wieder.

      „Ich kläre dich auf, Lucy. Jetzt“, sagt er, streicht sich mit der freien Hand durch das volle Haar, nimmt dann seine Tasse um einen großen Schluck daraus zu trinken und beginnt zu erzählen ohne ihre Hand loszulassen:

      „Was du da oben gerade auf dem Hochhaus machst – du versuchst, dich umzubringen – das hast du schon viele Male getan. Wenn du von Raum und Zeit ausgehst, könnte man sagen, es wäre jetzt sogar das dritte Mal in Folge. Du hast kaum eine deiner Lektionen gelernt. Oft hast du den Freitod, dem Aufgeben von Illusionen, vorgezogen. Was war die Konsequenz? Du bist wieder als ein scheinbarer Körper auf der Erde inkarniert. Der Körper ist tatsächlich jedes Mal ein anderer. Nicht aber der Inhalt deines imaginären Rucksackes. Dieser Inhalt ist voller Bindungen, ungelöster Probleme und Altlasten. Du wirst ihn durch Davonrennen nicht los, Liebes. Ganz und gar nicht. Stattdessen packst du ihn weiter, füllst ihn an und weigerst dich, mal hineinzuschauen. Deine Strategie ist eine ganz andere. Sie lautet: Mach die anderen für deine Schlepperei verantwortlich. Sag ihnen, sie seien schuld, sie würden dir alles in die Schuhe - oder besser in diesem Beispiel: in den Rucksack schieben. Du fühlst dich zunächst erleichtert, wenn du so die Verantwortung abgeben kannst. Es ist aber nie von Dauer, weil du deutlich die schwere Last auf deinen Schultern bemerkst für die nur du allein verantwortlich bist. Du bemerkst das, weißt keinen Ausweg, es geht dir schlecht und schlechter, dich überkommt letztlich ein Fluchtreflex, und du springst in den Tod… mal wieder.“

      Er macht eine kurze Pause und Lucy traut sich jetzt doch zu fragen:

      „Und wer bist du eigentlich?“

      „Josua“, kommt es wie selbstverständlich aus seinem Mund, „ich bin sozusagen dein Bergführer, dein Wegweiser. Ich bin bei dir - war es schon immer und werde es auch stets sein. Das sollte an Erklärungen für das erste genügen. Denn du bist hier um zu lernen. Deine Entscheidung gerade, um ein Wunder zu bitten, war die beste seit langer Zeit. Dein Wille ist da. Niemand kann etwas gegen deinen Willen für dich tun, Liebes. Sagen wir es mal so: durch diese Entscheidung, die nur winzig klein und dennoch stark war, liegst du jetzt nicht mit verdrehten Gliedern in einer feucht kalten Hochhausschlucht. Dein Wille geschehe. Dein Geist ist sehr mächtig und du hast stets die Obhut über deinen eigenen Weg.“

      „Okay“, sagt sie zögernd und empfindet gerade Erleichterung, dass sie diese Entscheidung tatsächlich kurz vor dem Sprung wählte: um ein Wunder zu bitten, aber…

      „Du sagtest, es wurde gestoppt, und ich befinde mich tatsächlich noch im Fall. Also erstens sitze ich doch hier und fühle deutlich die Holzbank unter meinem Hintern und zweitens, wie kann denn ein Fall einfach stoppen? Das ist physikalisch total unmöglich. Eigentlich ist alles, was ich gerade erfahre, unmöglich. Es verstößt gegen sämtliche universelle Gesetze…“

      „Tja, so hast du es bisher erfahren. Und als Körper ist das auch so. Auf der materiellen Ebene gibt es Raum und Zeit und Dualität. Es gibt die biologischen Gesetze, die chemischen, die physikalischen und noch viele andere. Sagen wir mal so, du befindest dich im Moment zwar noch immer in der Zeit und der Materie, aber du wurdest zum Zwecke des Lernens in eine Art Trainingslager katapultiert. Deinen Entschluss sterben zu wollen, hast du kurz vor dem Sprung hinterfragt. Hättest du noch ein paar Sekunden innegehalten, hättest mal in dich hineingeschaut, wäre da wohl auch für dich ein Liebesruf zu erkennen gewesen. Du wärst wieder hinabgestiegen und niemals gesprungen. Das war nun die einzige Möglichkeit, dich vor einer weiteren Körperrunde zu bewahren. Lerne deine Lektion jetzt, Lucy. Jetzt als Lichtträgerin. Dein Name ist nicht einfach nur so: Lucy.“

      „Bleibe ich nun hier auf diesem Berg mit dir?“, fragt sie unsicher.

      Josua lacht wieder dieses vertraute Lachen: „Nein, du bleibst nicht hier. Vergiss nicht, du befindest dich kurzfristig in einer kosmischen Ausnahmesituation. Eigentlich fällst du gerade und daran ändert sich nichts bis du unten angekommen bist. Auch wenn das nicht die Wahrheit ist.“

      „Was ist denn die Wahrheit?“, fragt sie ungeduldig.

      „Die Wahrheit ist, du bist geborgen und in Sicherheit, in der


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