Lucy fällt. Gaby Mrosek
er….“
„Ich weiß“, seufzt sie und denkt an all die Bücher, die sie gelesen hat, an den Coach, den sie aufgesucht hat und auch an die vielen Videos auf YouTube.
„Wir sind Seelenpartner, Dualseelen sogar…“, setzt sie leise zögerlich nach.
„Wir schauen uns jetzt diesen Wunsch einmal genau an“, sagt er sanft.
Dieser Satz sticht ihr ins Herz, ebenso wie all die anderen Herzstiche, die sie in Zusammenhang mit Raffael schon erfahren hat.
„Das ist kein Wunsch!“, setzt sie ein wenig trotzig und sehr bestimmt nach.
„Das ist die Wahrheit! Wir sind nämlich ein einziger.
Eine einzige Seele in zwei Körpern….“
„…die etwas gemeinsam und auch eine Zeitlang getrennt zu lernen haben, um dann schließlich in Liebe zu leben“, beendet er ihren Satz. Sie will weitersprechen. Doch er macht eine stoppende Handbewegung.
„Besondere Liebe ist die größte Abwehr gegen die Wahrheit, Liebes. Denk an den Kuchenteig. Wenn du sagst, dass du zusammen mit einer einzigen anderen Person ein Ganzes bist, was ist dann mit allen anderen?“
Er zieht den Teigklumpen zu sich hin und trennt eine Kugel daraus ab. Diese legt er vor Lucy.
„Dieses Stück Teig seid also ihr – Raffael und du. Wieso nicht nur du oder Raffael und jemand anderes oder ihr beide und noch eine dritte, vierte, fünfte Person? Und was ist mit dem ganzen großen Rest? Den lässt du völlig außer Acht. Du beschäftigst dich ausschließlich mit dem Überbau, dem Sahnehäubchen. Mag sein, dass Raffael eine köstliche Buttercreme ist. Köstlich für dich, weil du auf Buttercreme stehst. Aber unter der Buttercreme ist er das, was du und alle anderen sind auch. Und mit Überbau ist nicht nur die Optik des Körpers gemeint. Nein, auch der Charakter, die ganze Art, die gesamte Rolle in einem Film, die eine überzeugende schauspielerische Leistung darstellen soll.“
Josua schaut Lucy prüfend an. Sie schaut weg und verschränkt die Arme voreinander. Dann ist es zunächst ganz still.
Schließlich sagt sie: „Ich weiß es doch auch nicht. Aber wieso ist diese Anziehungskraft so groß? Diese Magie? Und wieso tut es so weh, wenn ich nicht bei ihm bin? Und wenn er mit einer anderen Frau lieber zusammen ist? So tiefe Liebe habe ich noch bei keinem Menschen gefühlt und so schrecklichen Kummer noch bei keinem anderen empfunden. Wie kann das sein?“
„Wie kann das sein, Liebes, dass du die Worte tiefe Liebe und schrecklichen Kummer in einem einzigen Satz benutzt? Liebe und Kummer können nicht nebeneinander bestehen bleiben. Das eine schließt das andere komplett aus“, sagt er langsam und blickt sie dabei zärtlich an. Lucy schaut in seine braunen Augen, die von innen heraus leuchten, so als sei ein warmes Licht in ihnen. Wieder hat sie eine plötzliche Erinnerung. Es ist nichts Greifbares, nichts, was sie als Bild oder Situation beschreiben könnte. Aber trotzdem ist es da, ganz real und eine tiefe Geborgenheit durchflutet sie. Das ist der Moment, in dem sie an ihrer Vorstellung von Liebe und Beziehung zweifelt. Noch nie gab es einen Zweifel bezüglich ihrer Romantik-Theorie. Unsicherheiten gab es schon. Unsicherheiten, wie sie sich jetzt verhalten sollte, was als nächstes geschehen müsste oder wie eine ideale Romanze aussah. Doch das Dualseelen- oder Seelenpartner-Konzept stand als Fundament stets da, seit sie Raffael vor fünf Jahren traf.
Was, wenn Josua Recht hatte? Was, wenn sie durch die falsche Tür gegangen war?
„Du kannst nicht durch die falsche Tür gehen. Du kannst lediglich auf dem Flur stehen bleiben, Lucy“, antwortet er auf ihre Gedanken. „Weißt du, Menschen glauben immer sie hätten tausend und abertausend Möglichkeiten. Das ist aber nur eine Fatamorgana. Es gibt tatsächlich nur zwei Dinge, die zur Auswahl stehen. Du kannst dich komplett für die Liebe, das Synonym für Wahrheit, oder die Angst, das Synonym für Illusion entscheiden. Die Auswahl, die es scheinbar in der Illusion gibt, führt dich durch keine Tür. Sich für den Traum zu entscheiden, ist gar keine richtige Entscheidung. Du zögerst nur hinaus und bleibst halt auf dem Flur.“
„Und was genau heißt das jetzt für mich in Bezug auf Raffael?“, fragt sie ungeduldig.
„Das, Liebes, heißt, dass du in ihm einen grandiosen und für dich perfekten Lernpartner gefunden hast. Nichts geschieht wirklich zufällig. Alles steht in deinem Drehbuch, und es gibt gewisse Begegnungen, die sind elementar wichtig für dein Lernen. Nenn jede Art von Begegnung einfach Lernebene. Denn es sind einfach nur Lernebenen. Manche bestehen jahrelang oder sogar ein scheinbares Menschenleben. Andere sind so kurz, dass du sie kaum wahrnimmst. Hat es dich noch nie überrascht, dass gewisse Leute dir sehr häufig über den Weg laufen und du deinen Nachbarn kaum siehst?“
„Hm“, sagt sie nachdenklich, „doch eigentlich schon. Da gibt es diese kleine alte Frau mit den vielen weißen Löckchen…“
„…die du beinahe täglich siehst?“, beendet er ihren Satz. „Sie fährt stets mit ihrem Fahrrad an dir vorbei oder du schaust gerade aus dem Fenster, wenn sie genau dort lang strampelt. Egal wo du dich in der Stadt befindest, sie ist in deiner Nähe.“
„Wow“, ruft Lucy aus, „ja! Das hat mich schon so oft erstaunt! Aber, sag mal, woher weißt du das alles? Das über mich? Du kennst mich total gut, kannst meine Gedanken lesen und weißt auch ansonsten verdammt viel – über Beziehungen und so…
„Lucy, das kommt daher, weil ich ein Teil von dir bin.“
„Ein Teil von mir? Wie meinst du das?“, fragt sie unsicher.
„Na, wir sind das Kuchengleichnis durchgegangen, oder etwa nicht?“, lächelt er sie an.
„Naja, das schon. Aber ich sehe mich immer noch als getrenntes Wesen und dich ebenso…wer auch immer du bist….Josua… Josua? Wer bist du?“, Lucy bekommt plötzlich Angst, denn sie denkt wieder an ihren Selbstmordversuch, an den freien Fall, der unterbrochen wurde und sie weiß nicht, was hier eigentlich wirklich vor sich geht, außer, dass sie etwas lernen, etwas heilen soll, beziehungstechnisch.
„Ich bin ein Teil von dir, so wie ich ein Teil von jedem anderen auch bin. Das hat nichts, aber auch rein gar nichts mit Körpern zu tun. In der Dualität, der materiellen Welt, kann ich nicht eins mit dir sein. Auf geistiger Ebene schon, da wird die Tatsache, dass es Trennung gar nicht geben kann, völlig verstanden, weil sie so normal ist. Abtrennung von Leben, das sich nur ausdehnen will, ist unnormal. Also, ich bin kein Körper, ebenso wie auch du keiner bist. Noch nimmst du dich als Frau wahr, identifizierst dich sogar damit. Doch dein Sahnehäubchen ist nichts als Spielerei und wird nicht bleiben. Mich nimmst du lediglich als Mann wahr, weil du eine Lernhilfe benötigst. Ich benutze ansonsten keinen Körper mehr, weil ich sämtlichen Zuckerguss längst aufgegeben habe. Ich habe dir versprochen, dass ich dich nie verlassen werde, Liebes. Und das habe ich nie getan. Erinnere dich…“, er schaut Lucy prüfend an. Sie versucht sich währenddessen zu erinnern. Wer ist Josua? Und wann hat er gesagt, dass er sie nie verlassen würde?
„Ich bin bei euch alle Tage…“, seine Stimme ist so gütig und liebevoll und Lucys Herz setzt einen Schlag aus. Sie umklammert mit beiden Händen die seinen und flüstert: „Du bist… Jesus….“
„Ja, so nennt man mich“, erwidert er lächelnd.
Spontan dreht sie seine warmen Hände in den ihren um und sucht nach Nagelspuren.
„Du wirst nicht finden, wonach du suchst“, sagt er ernst, „ich habe mich von meiner letzten sinnlosen Reise, die Tod am Kreuz beinhalten sollte, befreit. Ich bin kein Körper, ich war niemals einer. So war es mir möglich, meinen scheinbaren Peinigern und Verrätern vollständig zu vergeben. Ich bin nicht gestorben. Ich bin auferstanden und lebe nach wie vor und zwar vollkommen geheilt und ganz und frei.“
„Aber das sind doch deine Zeichen…“, druckst sie ein wenig herum und ihre Zweifel werden lauter: „Du hängst in jeder Kirche am Kreuz und wirst mit durchbohrten Händen dargestellt. Du bist doch der Heiland, der Erlöser der Welt…“
„Und genau das ist der elementare Fehler. Weißt du was, Lucy? Wir beginnen mit deiner Heilung der Beziehung