Lucy fällt. Gaby Mrosek

Lucy fällt - Gaby Mrosek


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eigentlich falle, dann bin ich doch gleich tot“, sagt sie zittrig. Plötzlich weiß sie, dass sie nicht sterben will. Der Sprung war eine ganz dumme Idee.

      „Noch einmal. Du bist in einer kosmischen Ausnahmesituation. Ich bin, wie gesagt, dein Bergführer. Zusammen schaffen wir es durch jede Etage. Und je tiefer du kommst, desto mehr wirst du gelernt haben. Vergiss nicht, du bist absolut nicht allein.“

      „Josua? Ich habe Angst….“, flüstert sie und ihre

      Hand, die noch immer in der seinen ruht, drückt fester zu.

      „Du hast alle Macht. Kontrolliere deine Angst. Angst ist in keinem Augenblick gerechtfertigt. Wenn du in deiner Angst steckenbleibst, schaust du dir nicht deine Baustellen an. Vertraue und glaube mir, es ist niemals etwas Wahres und Göttliches bedroht. Das ist unmöglich. Nur in Träumen kann dir etwas Schlimmes und Grausames zustoßen. Wenn du das erst einmal begreifst, dann werden all deine Träume heller und schöner und lieblicher. Du bist da, um dich zu freuen und zu lieben. In Wahrheit BIST du einfach – gegenteillos. Jetzt stelle ich dir eine elementare Frage, Lucy: Bist du bereit dir deine Fehlschöpfungen anzuschauen, aufzugeben und durch Liebe, die immer schon dahinter floss, zu ersetzen? Hilfst du mir, dein Beziehungschaos - das nichts anderes ist, als alles Beziehungschaos der ganzen Welt – aufzulösen? Aufzulösen, um mit allem und jedem in einer einzigen Beziehung froh und in Liebe zu sein?“

      Zum ersten Mal seit sie mit ihm zusammen sitzt, schaut er sie ernst an. Sein Blick dringt bis zu ihrem Innersten vor. Sie fühlt die Wichtigkeit hinter seinen Worten.

      Sie nickt und fragt leise: „Jedes Problem ist irgendwie ein Beziehungsproblem, oder?“

      „Gut erkannt Liebes“, nickt auch er, „solange du einen Körper benutzt – und den Frauenkörper der Lucy benutzt du immerhin schon fast 35 Jahre – solltest du erkennen, dass es letztlich nur um Beziehungen geht. Beziehungen in jeder Form. Wenn du das geheilt hast, dann fühlst du die Einheit wieder. Genau das macht dich für dich und alle anderen unschätzbar wertvoll. Nicht, dass du an deinem wahren Wert je etwas verändern könntest, aber du machst dich auf diese Art sichtbar für alle. Lucy – sei das Licht der Welt! Heile deine Beziehungen!“

      Es ist ganz leise in der Hütte. Beide schauen sich an und schweigen in einer unendlich sanften und heilsamen Art. Eingehüllt, ja fast schon einbalsamiert, in Geborgenheit, ist ihre Angst vor dem Wahnsinn, der sich womöglich hinter all dem verbirgt, völlig aufgelöst. Sie ist jetzt hier mit Josua.

      „Ich danke dir für das Wunder“, sagt sie gerührt.

      In diesem Augenblick verschwindet die Hütte und stattdessen befindet sie sich erneut in freiem Fall beim Sturz vom Hochhaus…

      20. Etage – Alles auf Anfang

      Es geht alles sehr schnell. Lucy kann nichts wirklich gedanklich greifen. Sie stürzt kopfüber und rasant, dass ihr Magen nach oben zu schießen scheint. Doch wieder sind es lediglich die paar Meter, bevor das Fallen ein abruptes Ende hat. Wieder zerfließt die Kulisse und wieder umhüllt sie eine warme und tröstende Helligkeit.

      Sanft dämmert eine neue Szene vor ihren Augen hinauf, während sie wie in Zeitlupe auf einem beige gefliesten Boden zum Landen kommt. Und obwohl es dieses Mal kein weiches Gras ist, sondern harte Keramik, fühlt sie keinen Schmerz beim Aufkommen. Sie fällt tatsächlich so zart wie eine Feder. Zunächst bleibt sie einige Sekunden liegen. Sie stellt fest, dass sie wieder ihre Winterjacke trägt, obwohl sie diese oben in der Hütte auf die Bank gelegt hatte.

      Langsam bewegt sie ihre Glieder und setzt sich neugierig aufrecht.

      Anders als vorhin in der Bergwelt überkommt sie jetzt keine Panik. Vor allem, weil ihr Blick direkt auf Josua fällt. Er steht am Tisch einer großen gemütlichen Küche. Mit den Händen steckt er tief in einem festen Teig. Lucy weiß sofort, dass der Ort hier nicht die Berghütte sein kann. Gleichzeitig erkennt sie aber diesen rustikalen Tisch. Ja, er ist es. Der Tisch aus der Hütte.

      Sie steht auf und geht langsam auf Josua zu.

      „Was machst du da?“, fragt sie und schaut sich gleichzeitig im Zimmer um. Es gibt nicht ein Fenster hier. Das findet sie merkwürdig. Auf einem Regal in der Küchenzeile steht doch tatsächlich wieder die weiße Teekanne. Auch Josua trägt dieselbe Kleidung wie vorhin, und wieder sind seine Füße nackt.

      „Zieh die Jacke aus und komm zum Backen, Liebes“, sagt er ganz selbstverständlich. Seine Stimme klingt wie die eines liebenden Vaters. Wie auch gerade in den Bergen, spürt sie die Wärme im Raum. Dieses Mal geht sie wohl von dem sehr großen Backofen aus, der etwas Heimeliges verströmt. Heimelige Kuschelwärme, heimeliger zarter Vanilleduft. Lucy streift ihre Jacke ab und dieses Mal auch den zu dicken Pullover. Ihr verschossenes Batik-T-Shirt, das ein Dunkelrot erahnen lässt, eignet sich in seiner schäbigen Optik eigentlich nicht einmal mehr zum unterziehen. Aber vor Josua schämt sie sich nicht. Langsam tritt sie an den Tisch.

      „Ich nehme an, ich befinde mich jetzt in Etage 20?“, fragt sie und er nickt lächelnd.

      „Hilf mir beim Backen, Lucy“, sagt er und deutet mit dem Kinn auf den großen Teigklumpen, den er noch immer bearbeitet.

      „Sieht aus wie Brotteig“, meint sie und tippt mit dem Zeigefinger dagegen.

      „Ja, der Teig ist sehr fest. Aber darum geht es jetzt nicht. Nimm ihn in beide Hände“, fordert er sie auf und legt den großen Ballen in ihre geöffneten Handflächen. Er fühlt sich schwer und warm an. Fragend blickt sie Josua an. Er lächelt und sagt schließlich: „Es geht um mehr, als nur ums Kuchenbacken. Das kannst du dir sicher denken….“

      Lucy nickt. Ihr ist klar, dass alles was zwischen den Etagen geschieht, ihrem Lernen dienen soll. Jetzt soll sie Kuchen backen. Das kann nur eine Metapher sein. Denn schließlich geht es um ihr Leben.

      „Es geht um dein Leben, Liebes. Das ist ganz sicher“, erwidert er, obwohl ihre Worte nichts als Gedanken waren. Gedanken, die er hören kann.

      „Aber zuallererst sage ich dir etwas wirklich sehr Wichtiges: dein wahres Leben kannst du nicht verlieren. Niemals. Das wäre unmöglich. Alles was es in Wahrheit gibt, währt ewig. Leben ist vom Schöpfer. Der Schöpfer ist allmächtig und erschafft alles so wie sich selbst. Das heißt nichts anderes, als dass du so bist wie er. Allmächtig und ewig. Das, was sterben kann, ist eine Fehlschöpfung oder auch einfach nur eine Illusion in einem Traum. Wenn du also wirklich deinen Lucy-Körper nicht mehr benutzen kannst, dann bekommst du einen neuen. Weil der Schöpfer das so will? Nein, weil du das so willst, mit all deiner Macht. Er, der Schöpfer, muss warten bis du aufhören willst zu träumen. Und macht ihn das wütend? Oder traurig? Nein, denn er ist nur Liebe und wartet einfach ganz geduldig auf deinen wahren Willen. Darauf, dass du dich erinnerst, wer du in Wahrheit bist. Und dann erwachst du ganz einfach aus deinen Fieberträumen. So, bevor du jetzt weiter fragst, will ich dir etwas über dich und deine Mitspieler erzählen. Über deinen geliebten Raffael, deine Eltern und Kollegen usw. Du musst nämlich etwas Grundlegendes begreifen, bevor du beginnst all deine Beziehungen anders zu betrachten und zu heilen. Dafür dieser Teig. Sieh ihn dir genau an.“

      Josua schaut sie prüfend an. Lucy bemerkt, dass das eine ganz praktische Aussage war und keine rhetorische. Sie betrachtet also den hellgelben Klumpen in ihren Händen. Er ist groß und warm und glatt und gibt schon bei geringem Druck nach.

      „Und?“, fragt er mit hochgezogenen Augenbrauen.

      „Mir fällt nichts weiter auf, als dass es ein großer Klumpen ist“, antwortet sie und ist damit selbst nicht zufrieden. Hier muss es doch um mehr gehen.

      „Genau“, strahlt er sie an, „ein großer Klumpen.“

      Lucy ist verunsichert. Das kann wohl kaum alles sein.

      „Genau genommen ist das alles. Die Schöpfung ist so einfach. Anhand dieses Teiges möchte ich dir etwas klar machen. Sagen wir mal so, ich erzähle dir jetzt die Schöpfungsgeschichte ganz anders, als du sie kennst.“ Er macht eine kurze Pause um zu überprüfen, ob Lucy bereit ist, ihm voll und ganz zuzuhören. Das ist sie. Also beginnt er zu erzählen:

      „Stell dir


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