Im gleißenden Licht der Sonne. Clare Clark
glücklich schätzen« sagte sie, und er nickte und wünschte ihr frohe Weihnachten.
Einige Monate zuvor hatte Julius eine Einladung nach München erhalten, wo ihm die Universität eine Auszeichnung verleihen wollte. Er hatte sich geweigert zu kommen und seinem Verlag erklärt, er habe keine Zeit, der Preis sei ohnehin unbedeutend, solche Zeremonien würden sich endlos hinziehen, und außerdem wimmele es in München von diesen schwachsinnigen Faschisten. Widerwillig hatte sein Lektor sich bereit erklärt, die Ehrung an seiner Stelle entgegenzunehmen. Per Peritz war ein schüchterner, stotternder Mann mit Brille und Glatze, der über das P stolperte. Sich mit seinem Namen vorstellen zu müssen war eine Tortur für ihn. Als Julius anrief, um ihm mitzuteilen, er habe seinen Entschluss geändert und würde nun doch nach München reisen, war Peritz’ Erleichterung deutlich zu spüren. Man werde sich über seine persönliche Anwesenheit sehr freuen, meinte er. Es dauerte eine ganze Weile, bis er das Wort persönlich herausgebracht hatte.
Julius hatte es sich ganz anders vorgestellt. Er hatte Luisa geschrieben und in äußerst höflichem Ton angefragt, ob Konstantin, da doch bald Weihnachten sei, ein paar Tage bei ihm in Berlin verbringen dürfe. Auch wenn sie ihre Schwierigkeiten hätten, sei er doch immer noch Konstantins Vater, und der Junge habe in der Meierstraße sein Zuhause. Konstantin könne entweder mit seinem eigenen Kindermädchen anreisen, oder Julius würde eine tüchtige Kraft engagieren, um ihn abholen zu lassen, jedenfalls entstünden Luisa keinerlei Unannehmlichkeiten. Frau Lang, fügte er hinzu, habe schon mit dem Plätzchenbacken angefangen.
Die Antwort kam von Luisas Anwälten. Frau Köhler-Schultz tue es leid, aber sie habe die Feiertage bereits verplant. Am Nachmittag brachte der Briefträger eine gekritzelte Notiz von Luisa. Die Schleifen der Buchstaben drückten sich so stark durch das Papier, dass sich die Wörter gegenseitig auszulöschen schienen.
Du Mistkerl. Nach all der Zeit willst du auf einmal den Weihnachtsmann spielen? Aber natürlich. Du wolltest immer nur das, was du nicht haben konntest.
Kurz vor sieben Uhr morgens fuhr der Zug in den Münchner Hauptbahnhof ein. Otto Metz hatte einen Wagen geschickt, um Julius abholen und die knapp dreißig Kilometer zu seinem Haus am Würmsee bringen zu lassen. Die Morgenzeitungen lagen zusammengefaltet auf der Rückbank, daneben ein Weidenkorb. Dieser enthielt noch warme gebutterte Brötchen, die in eine Serviette gewickelt waren, eine Thermoskanne Kaffee und einen silbernen Flachmann mit, wie Julius feststellte, ausgezeichnetem Cognac. Dem Besitzer des größten deutschen Verlagshauses, Otto Metz, lag die Bequemlichkeit seiner Erfolgsautoren fast genauso am Herzen wie seine eigene.
»Ich habe erst noch etwas in der Stadt zu erledigen«, sagte Julius zu dem Fahrer. »Es dürfte nicht lange dauern.«
Julius hatte vergessen, wie klein München war und wie unglaublich malerisch. Die winterliche Morgendämmerung überzog den Schnee mit einem rosigen Schein und färbte die Dächer golden. Sie überquerten die Isar und waren auf einmal in einem der Viertel, wo die Häuser von Bäumen umstanden und hinter hohen Mauern verborgen waren. Die Bewohner Bogenhausens lebten zurückgezogen.
Die Arche Noah war unhandlich, der Gehweg eisglatt. Julius passte auf, als er aus dem Automobil stieg. Er war noch ganz steif nach der Nacht im Zug. Das einfache Zauntor hatte man durch eine massive Eisenkonstruktion ersetzt. Es war abgeschlossen. Julius spähte durch die Lücken hindurch zum Haus. Fröstelnd drückte er die Klingel. Als niemand kam, läutete er noch einmal. In einem Fenster im Obergeschoss ging das Licht an.
Die Eingangstür wurde geöffnet. Ein Hausmädchen stand im Türspalt, ein blasses, schmächtiges Ding in einem dünnen schwarzen Kleid. Sie schlang wärmesuchend die Arme um den Oberkörper und kam den Gartenweg entlanggelaufen. In einer Hand hielt sie einen Schlüssel an einem Lederband.
»Sind Sie Herr Behne?«, fragte sie. »Ich soll Ihnen von Herrn Aust bestellen, er hätte Sie ausdrücklich gebeten, zur Hintertür zu kommen.«
»Mein Name ist Köhler-Schultz. Ich bin hier, um meinen Sohn zu sehen.«
Sie zuckte zurück. »Ich wusste nicht … also, wir haben eigentlich Herrn Behne erwartet.«
»Sie müssen mich reinlassen. Der Junge ist doch da, oder?«
Unglücklich warf das Mädchen einen Blick zum Haus. »Wenn Sie bitte kurz warten, dann hole ich Herrn Aust.«
Julius erinnerte sich an Aust, einen kleinen, beflissenen Mann mit geröteten Augen und einem schmierigen Gehabe. Er hatte im Krieg im Regiment von Julius’ Schwiegervater gedient, ein einfacher Soldat, der es irgendwie geschafft hatte, den Posten als Walther Draxlers Bursche zu ergattern. Walther pflegte ihn im abfälligen Jargon der Frontsoldaten Putzer zu nennen. Er gab an, das sei ein alter Witz zwischen ihnen. In der Familie Draxler galt es als anerkannte Tatsache, dass Austs Ergebenheit grenzenlos war.
»Ich habe nicht die Absicht, auf irgendjemanden zu warten«, herrschte Julius sie an. »Ich habe die ganze Nacht im Zug verbracht, um meinen Sohn zu sehen. Jetzt machen Sie das Tor auf.«
Das Hausmädchen krampfte die Hände ineinander, die Ohren scharlachrot. »Es tut mir leid, aber das kann ich nicht tun. Herr Aust …«
»Hilde? Was um alles in der Welt ist da los?« Aust stand auf der Eingangsterrasse. Das Hausmädchen brachte ein verunglücktes Knicksen zustande und flüchtete erleichtert Richtung Haus. Aust bedachte sie mit einem stirnrunzelnden Blick, dann kam er ohne Eile den Gartenweg entlang, den Mund zu einem verbindlichen Lächeln verzogen.
»Herr Köhler-Schultz«, sagte er. »Was für eine Überraschung.«
»Machen Sie sofort das Tor auf. Ich werde mich nicht davon abhalten lassen, meinen Sohn zu sehen.«
Aust gab ein bedauerndes Geräusch von sich. »Es tut mir wirklich leid, ich wünschte, ich könnte Ihnen helfen, aber leider sind Frau Köhler-Schultz und ihr Kind derzeit nicht zu Hause.«
»Halten Sie mich für einen Idioten? Öffnen Sie das Tor, Aust, sonst breche ich es gewaltsam auf, das schwöre ich.«
»Sie verstehen sicher, dass ich Sie jetzt bitten muss zu gehen. Selbstverständlich werde ich Frau Köhler-Schultz Bescheid geben, dass Sie hier waren.«
»Hiergeblieben, kommen Sie zurück!« Wutentbrannt rüttelte Julius am Tor, dass es laut klapperte, doch Aust war bereits auf dem Rückweg zum Haus. Als die Tür hinter ihm zufiel, schlug Julius ein letztes Mal halbherzig gegen das Tor. Er fragte sich, ob Konstantin wohl das Echo hörte, das wie ein Stundenschlag in der eiskalten Luft hing.
Am Nachmittag saß Julius mit Otto in dessen Wintergarten. Sie unterhielten sich über die neue Koalitionsregierung, die Ernennung Stresemanns zum Außenminister und die Chancen für finanzpolitische Stabilität. Der Urwald aus tropischen Pflanzen hob sich giftgrün von der verschneiten Winterlandschaft ab, die Blätter fleischig wie Zungen. Ein Springbrunnen plätscherte. Julius’ Gedanken wanderten immer wieder zu dem erleuchteten Fenster im Haus der Draxlers zurück. Er wurde das Gefühl nicht los, dass er irgendetwas hätte unternehmen sollen.
»Also, heraus mit der Sprache«, drängte Otto. »Wer wird der nächste van Gogh?«
Julius zuckte die Achseln. »Sagen wir mal so, ich bin noch dabei, meine Optionen abzuwägen.«
»Gut. Du solltest dir nur nicht zu viel Zeit dafür nehmen. Die Leser mögen dir den Vincent aus der Hand gerissen haben, aber sie besitzen das Gedächtnis eines Goldfischs. Peritz hatte übrigens eine wunderbare Idee. Hat er dir davon erzählt?«
»Zum Glück für uns beide hat Peritz die Ideen immer mir überlassen.«
»Michelangelo!«, fuhr Otto triumphierend fort. Vielleicht lag das Geheimnis von Metz’ ungewöhnlichem Erfolg darin, dass er immer nur das hörte, was er hören wollte. »Der größte Künstler aller Zeiten war anscheinend ein verkappter Homosexueller, der im Elend lebte und seine Skulpturen zerschlug, wenn sie nicht zu ihm sprachen.«
»Faszinierend. Nur keine Geschichte, die ich gerne erzählen würde.«
»Dann erzähl sie eben auf deine Art. Mach es wie bei Vincent und pfeif auf die Tatsachen. Nur ein Narr